Der kleine Rotmilan Ferdinand schlüpfte im Frühling 2015 in ein risikoreiches Leben. Denn viele Rotmilane erleben ihren ersten Geburtstag nicht – 2015 starb jeder zweite Jungvogel in der Schweiz. Und auch im Ausland sind die Zugvögel vielen Gefahren ausgesetzt. Ob es auch Ferdinand treffen würde, wusste Patrick Scherler von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach nicht, als er beschloss, die Geschicke des kleinen Vogels zu beobachten. Der Biologe will mehr über das Leben der Rotmilane herausfinden, denn diese fliegen heute viel zahlreicher am Schweizer Himmel als noch vor wenigen Jahren. Deshalb startete Scherler mit seinen Kollegen 2015 ein grosses Forschungsprojekt mit Hunderten von Rotmilanen. Auch Ferdinand wurde Teil dieses Projektes.
Sein Nest befand sich in einem kleinen Tannenwäldchen im Sensebezirk in der Nähe der Stadt Freiburg. Wie bei den Rotmilanen üblich hat vor allem seine Mutter ihn ausgebrütet – sie sass 80 Prozent der Zeit auf dem Ei, der Vater bloss 20 Prozent. Bis zu vier Eier kann ein Gelege umfassen, Ferdinands Mutter aber legte im April 2015 nur zwei. Und sein Geschwisterchen starb, noch bevor es flügge wurde.
All dies weiss Patrick Scherler, weil er zusammen mit seinem Team an zahlreichen Bäumen Fotofallen über den Vogelnestern versteckt hat. Diese fotografieren die Vögel automatisch, und ohne sie zu stören. So wird ein einzigartiger Blick auf die ersten Tage der Rotmilane möglich – vom Schlüpfen bis zum Ausfliegen.
Rückeroberung des Lebensraumes
Solche Beobachtungen waren im Schweizer Mittelland noch vor wenigen Jahrzehnten unmöglich, denn die Tiere waren fast ausgestorben. Einzelne Exemplare gab es nur noch im Jura. In dieser Region hatten Scherlers Grosseltern ein Chalet: «Als kleiner Junge beobachtete ich dort in anfangs der Neunzigerjahre zusammen mit meinem Grossvater meine ersten Rotmilane», erzählt Scherler. An Ferdinands Geburtsort im Freiburger Sensebezirk konnte die erste Brut 1995 nachgewiesen werden. Von da an verbreiteten sich die Vögel in der Schweiz, und zwar fast unnatürlich schnell, sagt Scherler. Das freut den Forscher. «Doch warum sich die Greifvögel so stark ausgebreitet haben, ist uns nach wie vor ein Rätsel», sagt er. Seit dem Jahr 2000 hat sich der Bestand beinahe verdreifacht. Mittlerweile fliegen die Rotmilane wieder im gesamten Mittelland und haben sich auch in einige Alpentäler vorgewagt.
Heute leben etwa 10 Prozent des weltweiten Bestandes in der Schweiz. Doch nicht überall geht es den Rotmilanen so gut wie hierzulande. In Deutschland, Spanien und vor allem Frankreich gehen die Zahlen zurück. «Deshalb haben wir eine grosse Verantwortung, die Art zu schützen», sagt Scherler. Damit dies gelingt, müsse man die Gründe kennen, die zur Verbreitung in der Schweiz geführt haben. Denn sonst könne es passieren, dass sich die Bedingungen ändern und die Rotmilane plötzlich auch hier wieder gefährdet sind.
Ferdinands Vermessung
Am 18. Juni 2015 stellte Ferdinand sich tot, wie er das instinktiv immer tut, wenn sich ein Räuber anpirscht. An diesem Tag aber drohte keine Gefahr – denn es war kein Feind, der sich dem Nest näherte, sondern Patrick Scherler. Er konnte den kleinen Vogel mit der Hand aus dem Nest nehmen, da dieser noch flugunfähig war und nicht flüchten konnte. Dann legte Scherler ihn sachte in einen Rucksack und liess diesen an einem Seil hinuntergleiten. Ferdinands Eltern kreisten derweil über dem Wald und beobachteten die Situation.
Kaum am Boden, vermassen die Forscher den jungen Vogel: Flügellänge, Gewicht, Federlänge, ja sogar die Augenfarbe notierten sie akribisch. So wurde Ferdinand definitiv Teil des Forschungsprojekts. Er erhielt einen kleinen, solarbetriebenen GPS-Sender, den die Biologen ähnlich wie einen Rucksack auf seinen Rücken montierten. Für den über ein Kilogramm schweren Vogel sei der kleine Sender mit seinen 22 Gramm Gewicht keine Belastung, sagt Scherler. Das Gerät erfasst seit diesem Moment einmal pro Stunde den Standort des Vogels und übermittelt die Koordinaten via Mobilfunknetz an die Forscher – für den Rest von Ferdinands Leben. Der kleine Rotmilan hatte den Spuk nach knapp 20 Minuten unbeschadet überstanden, die Forscher legten ihn in sein Nest zurück. Kurz darauf kamen auch die Eltern wieder.
Nicht nur Ferdinand, auch 284 weitere junge Rotmilane im Kanton Freiburg erhielten in den letzten drei Jahren GPS-Sender. Diese grosse Zahl sei nötig, um verlässliche Ergebnisse über das Verhalten der gesamten Population zu erhalten, sagt Scherler. «Mit den Sendern können wir die Wege der Rotmilane lückenlos verfolgen», sagt Scherler.
So studiert er, wie sie neue Reviere erobern. Und indem er die Flugdaten mit Karten der Landschaftsstruktur und dem Vorkommen von Beutetieren vergleicht, erkennt der Biologe, was Rotmilane anzieht.
Ferdinand wird neugierig
Kurz nachdem Ferdinand im Juni 2015 seinen Sender erhielt, verliess er sein Nest und begann die Umgebung zu erkunden. Zunächst war er zaghaft und blieb in der Nähe seines Tannenwäldchens bei Pierrafortscha. Erst nach fast zwei Monaten wagte er es, weiter weg zu fliegen – aber nur um wiederum fast zwei Monate beinahe am selben Ort zu bleiben, im freiburgischen Romanens. Doch dann, gegen Ende September 2015, packte Ferdinand die Reiselust: Er verliess die Schweiz in südwestlicher Richtung – wie alle Schweizer Rotmilane, wenn sie ihren Überwinterungsort suchen.
«Diese Richtung ist offenbar fest in die Tiere einprogrammiert», sagt Scherler. «Wahrscheinlich können sie sich markante Landschaftselemente wie Berge oder Seen merken, doch wie sie sich genau orientieren, bleibt ein Rätsel.» Von den Eltern könnten sie es nicht lernen, da die Jungvögel alleine losfliegen. Auch Ferdinand machte sich ohne seine Eltern auf den Weg. Nach wenigen Tagen war er über den Pyrenäen und am 7. Oktober 2015 erreichte er sein Quartier für den Winter: Ein Gebiet in der Nähe der Stadt Salamanca in Spanien.
Gefahr in Spanien
In Spanien drohen Ferdinand und seinen Artgenossen viele Gefahren. In Gebieten mit spärlichem Baumbewuchs etwa dienen Strommasten als Ersatz zum Rasten für die Rotmilane. Mit ihren grossen Flügeln können sie aber leicht den Stromleitungen zu nahe kommen. Das erzeugt einen Kurzschluss und die Vögel fallen tot vom Mast.
Im Überwinterungsgebiet bedrohen auch Jäger die Greifvögel. Sie sehen Rotmilane als Konkurrenten, die ihnen Hühner oder Wildkaninchen streitig machen. Deshalb würden Rotmilane immer wieder abgeschossen, sagt Biologe Patrick Scherler. Dabei seien die grossen Vögel eher schlechte Jäger: «Sie greifen sich mal eine Maus», sagt er, «aber sonst ernähren sie sich vor allem von verletzten oder toten Tieren.» Genau dies kann ihnen auch zum Verhängnis werden. Vielerorts würden Köder ausgelegt, etwa mit Gift bestrichene Rebhühner, sagt Scherler. «Weil die Rotmilane hauptsächlich Aas fressen, sind sie für solche Vergiftungen besonders anfällig.»
Ferdinand jedoch hatte Glück – er überstand alle Gefahren. Mitte April 2016 flog er mit kleineren Umwegen zurück in Schweiz. Die erste Hälfte des Sommers verbrachte er in der Ostschweiz, dann flog er wieder in die Westschweiz, in sein Geburtsgebiet.
In seinem zweiten Lebensjahr liess sich Ferdinand etwas länger Zeit, bis er die Schweiz hinter sich liess und wieder nach Spanien zog. Gegen Ende Oktober erreichte er sein Winterquartier – fast am selben Ort wie ein Jahr zuvor. «Das ist sicher kein Zufall», meint Scherler. Auch seinen zweiten Aufenthalt in Spanien überlebte der nun fast zweijährige Rotmilan. Dann, im März 2017, verliess Ferdinand Spanien – zum vorläufig letzten Mal.
Kampf ums Revier
Eine Woche später erreichte Ferdinand den Kanton Freiburg, wo er den ganzen Sommer verbrachte, wie zahlreiche Rotmilane. Warum sich dort so viele der Greifvögel sammeln, ist zwar immer noch ein Rätsel. «Sicher aber ist, dass es ihnen hier besser geht als in Spanien», sagt Scherler. So würde die Bevölkerung die Rotmilane mehr Respekt zollen. Auch in der Schweiz seien die Greifvögel früher fälschlicherweise als «Hühnerdiebe» bezeichnet worden. «Aber die Einstellung der Leute hat sich geändert», sagt Scherler. Mit einer Befragung haben Wissenschaftler der Vogelwarte Sempach festgestellt, dass ein Achtel der Landbevölkerung die Rotmilane sogar füttert – mit Fleisch, Speiseresten oder auch der Nachgeburt von Hoftieren. Zu einer Überbevölkerung führt dies aber nicht, denn Rotmilane dulden keine Artgenossen in ihren Revieren.
Ferdinand jedenfalls erging es gut – und er profitierte vom Pech eines anderen Vogels. Am 26. August 2017 starb ein ausgewachsenes Rotmilan-Männchen, das ebenfalls einen GPS-Sender getragen hatte. Den Kadaver fand Scherler zwar nie: «Ein Fuchs war wohl schneller», meint er. Doch aufgrund der Daten vermutet der Biologe, dass das Männchen durch einen Stromschlag gestorben ist. Durch dessen Tod wurde ein Revier frei, und Ferdinand liess sich diese Chance nicht entgehen. Am Himmel über dem freiburgischen Schmitten kämpfte er mit einem anderen Männchen um das Revier, und konnte es schliesslich erobern. In Ferdinands Flugdaten ist deutlich zu sehen, dass er sich dort niedergelassen hat: Ab Ende September machte er kaum noch längere Flüge.
Überwintern in der Schweiz
Allmählich nahte der Winter, und damit der Zeitpunkt, an dem der Rotmilan ins warme Spanien hätte fliegen sollen. Doch Ferdinand blieb in der Schweiz. Und so wie er machen es viele seiner ausgewachsenen Artgenossen. Dies zeigen Zahlen, die Freiwillige jeden Winter an bekannten Schlafplätzen erheben. Im Januar 2018 blieben 3280 Rotmilane hier – fast drei Mal mehr als noch elf Jahre zuvor.
«Zwar haben die Vögel den Instinkt, im Winter wegzuziehen», sagt Scherler, «doch bei guten Bedingungen bleiben sie gerne in der Schweiz» Ein wichtiges Kriterium sei der Schnee, sagt Scherler. Eine geschlossene Schneedecke bewege viele Rotmilane zum Wegzug. Da im Mittelland aber immer seltener längere Zeit am Stück Schnee liegt, können die Vögel in der Schweiz bleiben. Denn sie sind flexibel. Wenn das Wetter doch zu schlecht wird, sind sie schnell weg: Südfrankreich erreichen sie in zwei bis drei Tagen. «Und wenn ein Vogel ein eigenes Revier hat, hat er einen Anreiz, dieses solange wie möglich zu behalten», sagt Scherler, «so wie Ferdinand.»
Noch kann Scherler nicht genau sagen, wie die Rotmilane sich für ihre Reviere entscheiden, denn er steht erst am Anfang der Datenauswertung. An seinem Laptop kann er jedoch jederzeit Ferdinands Standort abrufen: Der Vogel verbringt den Winter 2018 auf seiner abgestorbenen Tanne im freiburgischen Schmitten. Und jetzt, da Ferdinand ein eigenes Revier hat, steht eigenem Nachwuchs eigentlich nichts mehr im Weg. Scherler hofft deshalb, dass sich der Rotmilan diesen Frühling eine Partnerin suchen wird und freut sich auf kleine Vögelchen.
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