SonntagsBlick Magazin: Herr Wohlleben, sind Sie täglich im Wald?
Peter Wohlleben: Ja, mein Wohnhaus steht im Wald.
Was gibt Ihnen der Wald?
Einfach Ruhe.
Sprechen Sie mit den Bäumen?
Nein, ich habe absolut kein esoterisches Verhältnis zu ihnen. Man sollte Bäume nicht als Menschen sehen.
Kein «Mein Freund, der Baum»?
Das geht schon deshalb nicht, weil Bäume viel träger sind – da laufen elektronische Signale 2000-fach langsamer ab. Wenn Leute Bäume umarmen, dann müssten sie Stunden oder Tage auf ein Echo warten.
Und dann gibt es eines?
Ich würde sagen, nein – ausser Sie verletzen den Baum. Dann gibt es auf jeden Fall eine Reaktion.
Es gibt dieses Experiment, bei dem eine Person das Blatt einer Pflanze mit einem Feuerzeug -anzündet. Als die Person wieder in den Raum kommt, zeigt die Pflanze Stresssymptome.
Ja, und eine Pflanze kann sehr wohl unterscheiden, ob ein Reh reinbeisst oder ein Mensch einen Ast abreisst.
Tut das der Pflanze weh?
Zunächst ist die Frage, was Schmerz ist: Das ist ein ganz starker Abwehrreflex. Wenn Sie Ihre Hand auf eine heisse Herdplatte legen, dient er dazu, dass Sie sofort, ohne zu überlegen, reagieren. Das können Pflanzen auch: Es laufen elektronische Signale für eine Abwehr. Insofern meine ich: Ja, Pflanzen können Schmerz empfinden.
Sind Vegetarier also nicht die friedfertigeren Menschen?
Es gibt gute Gründe, wenig oder gar kein Fleisch zu essen. Doch ich persönlich unterscheide nicht gross zwischen Tieren und Pflanzen. Aber das muss jeder selber beurteilen – deshalb gebe ich in meinen Büchern keine Ratschläge.
In Ihrem neuesten Buch «Das geheime Netzwerk der Natur» beschreiben Sie die Natur als grosses Uhrwerk, in dem alles ineinandergreift. Läufts rund?
Nein, sicher nicht. Aber wenn wir in dieses Räderwerk eingreifen, führt das zu Veränderungen, die wir nicht vorhersehen können – oft sind sie zum Schlechteren.
Sie plädieren etwa für den Erhalt der Wölfe, da die Tiere in den Naturkreislauf gehören. Gerade in der Schweiz sind Wölfe sehr umstritten
Man muss sich bewusst werden, woher unsere Bedenken kommen. Denken Sie an den Film «Der weisse Hai»: Der versaut einem das Baden im Meer. Aber die Gefahr von Hai-Angriffen ist minimal. Beim Wolf erzählt man sich moderne Horrorstorys, und die führen dazu, dass dem Menschen ein neues HaiSyndrom eingeimpft wird. Aber Wölfe wollen gar keine Haustiere fressen – über 99 Prozent der Risse sind Wildtiere. Sie vergreifen sich nur in der Not an Schafen und Ziegen, etwa wenn Jäger ihre Rudelstruktur stören.
Verstehen Sie Ihr Buch als Warnung?
Nein, ich will nicht warnen, ich will, dass die Menschen viel entspannter mit Problemen umgehen. Im Naturschutz unternimmt man irre Anstrengungen, um irgendeine Art zu fördern. Aber meistens führt das zu völlig verkehrten Ergebnissen. Entspannt euch, lasst die Natur machen. Die macht das seit Milliarden Jahren selber. Wenn man Natur schützen will, kann man das nur, indem man nichts macht.
Haben Sie keine Angst vor dem Klimawandel?
Er macht mir schon Sorgen – aber für uns, nicht für die Natur. Wir projizieren unsere Sorgen immer auf die Natur. Auch hier wird in 40 000 Jahren der nächste Gletscher drüberrollen – dann ist hier eh alles kaputt. Das baut sich wieder auf, die Natur regeneriert sich.
Kommt alles gut?
Man kann optimistisch in die Zukunft gehen und sich an schönen Sachen erfreuen. Dafür tut man viel mehr als für Dinge, die man aus schlechtem Gewissen vermeidet. Sie können nicht den ganzen Tag mit schlechtem Gewissen rumlaufen, aber sich den ganzen Tag freuen, das können Sie.
Sie haben die Zeit erlebt, in der man vom Waldsterben sprach.
Als ich 1983 mit dem Forststudium anfing, dachte ich: Wenn ich fertig bin, ist der Wald vielleicht schon weg. Das finde ich total doof, einer Generation eine solche Perspektive zu vermitteln. Das Waldsterben war schon besorgniserregend, aber man sieht daran auch schön: Man kann das in den Griff bekommen.
Aktuell hört man, dass der Bestand an Insekten massiv -zurückgeht. Sollen wir das gelassener sehen?
Es geht ja nicht nur ums Klima, es geht auch um Spass: Es ist schön, wenn man einen Schmetterling sieht. Das wird häufig ausgeblendet. Beim Naturschutz geht es immer um ein Warenlager, das wir kaputt machen. Nein, es geht um Emotionen, die wir kaputt machen.
Emotionen findet man dafür in Ihren Büchern – nicht zu knapp.
Aber Menschen bestehen in ihrem Denken und Handeln zu 90 Prozent aus Emotionen. Wenn ich das weglasse, ist die Sprache unmenschlich. Das ist genau der Grund, weshalb niemand ausser den Forschern wissenschaftliche Reports liest. Das berührt einen nicht.
In Wissenschaftlerkreisen werden Ihre Thesen dafür belächelt und als Märchen abgetan. Kränkt Sie das?
Das ist hauptsächlich ein Wissenschaftler. Er ist gegen Baumreservate, weil er nur den Nutzen im Vordergrund sieht. Das ist ein Vertreter der konservativen Forstwirtschaft. Das heisst: Hinter den Angriffen steckt eine Lobby.
Sie sind ja selber Förster.
Ich bin nicht gegen Holznutzung, sonst dürfte ich keine Bücher schreiben. Doch Forstwirtschaft ist in Mitteleuropa sehr brutal – mit Kahlschlägen und Pestizideinsätzen. Ich wollte immer die Natur schützen. In der Schweiz wird zum Beispiel im Wald von Couvet im Neuenburger Jura seit über 150 Jahren ökologisch gewirtschaftet. Das bekommt man in Einklang wie ökologische Tierhaltung.
Ihr ökologisches Waldrevier im rheinland-pfälzischen Wershofen kann man besichtigen.
Ich ermutige die Menschen, in den Wald zu gehen, auch abseits der Wege. Ich ermuntere Familien, im Wald laut zu sein – Tiere stresst das nicht, denn sie wissen, dass das keine Jäger sind, die da kommen.
Sind die Bücher sozusagen das Ergebnis Ihrer Waldführungen?
Ja, das sind schriftliche Führungen. Ich habe das quasi 30 Jahr an den Besuchern unseres Waldes studiert: Was langweilt sie? Was interessiert sie? Wie nehmen sie das auf?
Sie haben also mündlich erprobt, was Sie schriftlich niederlegten?
Ja, ich wollte eigentlich nie Bücher schreiben. Meine Frau sagte jahrelang: «Mensch, schreib das doch einmal auf!»
Ein voller Erfolg. Sind Sie mit den Büchern reich geworden?
Früher bedeuteten Spitzentitel ganz etwas anderes. Reich wird man heutzutage mit Büchern nicht mehr. Aber ich konnte mir damit die Waldakademie leisten.
Seit gut einem Jahr besteht die. Was bieten Sie dort an?
Dort unterstützen wir zum Beispiel Umweltverbände. Mit Greenpeace hatten wir eben einen Workshop über Bürgerinitiativen. Da machen wir die Menschen fit bezüglich ihrer demokratischen Rechte im Wald.
Stösst Ihr Angebot auf grosses Interesse?
Ja, sehr. Wir konnten gar nicht alle Interessenten berücksichtigen. Bisher kamen rund 2000 Personen. Um die zu betreuen, haben wir den Mitarbeiterstab auf sieben Personen aufgestockt. Wir bieten auch unabhängige Forschung.
Weiss man noch nicht alles über Bäume?
Man weiss zum Beispiel bis heute nicht, wie das Wasser von den Wurzeln in die Krone hochkommt. Es gibt Theorien, aber keine kann das Phänomen schlüssig erklären.
Gibt es sonst neue Erkenntnisse?
Gerade haben australische Forscher herausgefunden, dass Bäume mit den Wurzeln hören können. Sie haben in Röhren Wassergeräusche abgespielt, in anderen echtes Wasser laufen lassen– und die Wurzeln sind dorthin gewachsen.
Erstaunlich.
Diese Erkenntnisse sind nur deshalb überraschend, weil wir klar zwischen Tieren und Pflanzen unterscheiden. Wenn jemand sagen würde: «Fliegen können hören», würde uns das nicht überraschen. Wir erachten Bäume als Staffage, wie Möbel in der Natur, und weil sie kein Herz und dergleichen haben, nicht als vollwertige Lebewesen.
Mit welchen Folgen?
Keiner fragt sich: Wie gehen Bäume aufs Klo? Auch die müssen irgendwann ihr grosses Geschäft machen. Die pumpen das in die Blätter – kurz vor dem Laubabfall.
In Ihrem Waldrevier haben Sie die Waldbestattung eingeführt. Werden Sie sich dereinst unter einem Baum beerdigen lassen?
Ich denke schon. Es ist eine natürliche Art der Beisetzung: Man schützt dadurch auch alten Wald. Wir sind Bestandteil der Natur – das kommt da symbolisch sehr schön raus.
Unter welchem Baum wird Ihre Urne liegen?
Unter einer Buche.
Ist das Ihr Lieblingsbaum?
Nein. Alle Bäume, die dort wachsen, wo sie natürlich vorkommen, sind schön.