Margrit Stamm über den Mütterlichkeitswahn
«Mütter sind gar nicht so wichtig»

Eine Frau ist nur ganz Frau, wenn sie Mutter wird. Schwachsinn, sagt ­Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Frauen sollen sich in der Familie zurücknehmen und die Politik sie dabei bitte unterstützen.
Publiziert: 17.09.2018 um 04:19 Uhr
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Aktualisiert: 17.09.2018 um 07:11 Uhr
«Ich kreide das nicht den Müttern selbst an»
1:43
Margrit Stamm ermahnt die Mütter:«Ich kreide das nicht den Müttern selbst an»
Alexandra Fitz

Sie haben gerade ein Buch über die neue Vaterrolle veröffentlicht. Warum sollen wir dann über Mütter sprechen?
Margrit Stamm:
Weil das zusammengehört. Wenn wir neue Väter wollen, die sich zu Hause engagieren, müssen sich auch die Frauen entwickeln. Gleichstellung heisst für Frauen auch: Verantwortung ab­geben. Wir müssen von diesem Mütterlichkeitswahn oder Mama-Mythos wegkommen. Mütter sind gar nicht so wichtig. Darüber schreibe ich derzeit ein Buch.

Wie erklären Sie einem Kindergärtner den Mama-Mythos?
Wenn dein Mami dich von morgens bis abends kontrolliert und fragt, wie es dir geht, was du brauchst und was du willst. Und wenn dein Mami immer für dich da ist.

Also Helikoptereltern?
Ja, eigentlich schon. Helikopter­eltern kontrollieren ihre Kinder enorm und haben sie immer im Griff. Der Mama-Mythos reicht aber viel tiefer, er ist in unserer Gesellschaft zum kulturellen Grundsatz geworden. Eine Frau ist nur ganz Frau, wenn sie Mutter wird. Das erleben Sie vielleicht auch.

Ja, ich erlebe das als kinderlose Frau. Mutter zu werden, ist das Grösste und gilt quasi als Muss.
In den 90er-Jahren galt es als sehr emanzipiert, wenn man keine ­Kinder hatte. Heute ist Mutter zu werden wichtiger, als einen Partner zu finden oder zu heiraten. Viele Frauen sind überzeugt, ein Kind zu haben, würde grundlegende existenzielle Fragen beantworten und eine Art bedingungslose Liebe garantieren. Die Mutterschaft wird so überhöht, dass eine Mutter heute nicht einfach Mutter sein kann. Sie muss perfekt sein.

Gleichzeitig muss eine Frau ­erwerbstätig sein.
Das ist ein Grund, weshalb so viele Frauen ausgebrannt sind, und die Burnout-Quoten enorm steigen.

Wieso wird Mutterschaft so ­glorifiziert?
Es gibt eine markante neoliberale Politik, die Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Selbständigkeit als zentrale gesellschaftliche Normen versteht und Müttern zunehmend eine soziale Verantwortung für das kindliche Aufwachsen überträgt. Diese Politik sagt, wenn du ein Kind willst, bitte, aber es ist deine Verantwortung. Diese Überzeugungen sind bei uns sehr verbreitet.

War das früher anders?
Ich hatte in den 80ern und 90ern Kinder. Wir haben damals dafür gekämpft, überhaupt arbeiten zu können. Oder in meinem Fall ­studieren zu können. Frauen waren noch ans Haus gefesselt. Ob wir gute Mütter waren oder weniger gute, keine Ahnung. Man hat es einfach gemacht. Gegen ­Anfang 2000 begann die Ideologie der guten Mutter immer mehr Raum einzunehmen.

Warum?
Die Forschung hatte die Mutter entdeckt. Insbesondere die Bindungs­forschung bekam in der Schweiz viel Aufmerksamkeit. Der berühmte Kinderpsychologe John Bowlby hielt den Vater gar für irrelevant.

Irrelevant?
Irrelevant. Er sei nur insofern relevant, als er die finanzielle Absicherung garantiere. Er korrigierte sich später. Auch die Hirnforschung ­appelliert an die Mütter und postuliert mit der Frühförderung, auf die sensiblen Phasen des Kindes zu achten, um es im richtigen Moment zu fördern. Die Botschaft war: ­«Liebe Mütter, ihr seid die Architekten der Kindergehirne. Wenn ihr gut seid, könnt ihr aus dem Hirn ­eurer Kinder etwas machen.» ­Hinzu kommt die zunehmende Professionalisierung der Schwangerschaft und des Mutterseins.

Sie meinen all die Tests und ­Beratungen für Schwangere und Mütter?
Ja. Wenn ich höre, was Schwangere heute alles für Untersuchungen machen, bis sie das Kind gebären. In meiner Zeit ging man ein Mal im Monat zum Gynäkologen, vor der Geburt häufiger. Heute ist das eine riesige Maschinerie. Es gibt Stillberatungen, Beratungen für Schreikinder. Diese Professionalisierung hat immer die Mutter als Hauptverantwortliche im Fokus.

Muttersein ist das natürlichste der Welt. Für jemanden, der noch keine Kinder hat, ist das Mutterwerden oder -sein fast nur noch mit Angst verbunden.
Ja, das glaube ich Ihnen. Solche Ängste werden von der Fachwelt geschürt und den Zeitschriften, die es zum Thema Kinder und Familie gibt. Der Tenor ist, Mutterschaft ist nicht einfach etwas, das man mit Intuition bewältigt, sondern expertenbegleitet. Das ist eine ganz schlimme Entwicklung. Meine Überzeugung ist, dass die Intuition eines Menschen eine ganz wichtige Rolle spielt. Das Bauchgefühl, in ­einem Moment zu handeln, ohne dass man vorher genau überlegt hat, wie man richtig handeln soll. Das nimmt man heute den Frauen weg. Erziehungsratgeber haben eine Botschaft: Liebe Mütter, ihr wisst wenig, aber keine Angst, wir sind die Profis, die euch unterstützen.

Sind Frauen selber schuld?
Das wäre zu einfach. Die französische Feministin Élisabeth Badinter appelliert an Frauen: Liebe Frauen, hört auf, euch so um die Familie zu kümmern und euch so in die ­Familie hineinzugeben. Das setzt zu sehr auf Selbsttherapie. Wir sind Mitglieder eines Systems. Frauen müssen sich kritisch mit diesem perfektionistischen Mutterbild auseinandersetzen und merken, wo sie übertriebene Mechanismen haben, die dem Kind schaden. Aber es ist vor allem die Gesellschaft.

Also die Politik?
Ja. Vor einem Jahr hiess es, wir haben in der Schweiz 50 000 Mütter, die eigentlich Akademikerinnen wären, aber nicht arbeiten und Hausfrauen sind. Es ist die Forderung laut geworden, dass Frauen für ihr Studium Geld zurückzahlen sollen, wenn sie nicht arbeiten. Die Politik fordert: Frauen, geht zurück in den Beruf, wir brauchen euch. Aber es nimmt niemand Rücksicht, was das für Mütter bedeutet.

Früher war man eine Raben­mutter, wenn man arbeiten ging. Heute soll man. Einige Frauen wollen gar nicht zurück in den Beruf und tun es trotzdem.
Ich glaube auch, dass es den Druck gibt, arbeiten zu müssen. Es ist ein zweischneidiges Schwert, wenn Frauen aus dem Beruf aussteigen. Ich bin acht Jahre ausgestiegen und hatte grosse Angst, was aus mir wird. Mein Mann sagte, wenn ­seine Praxis laufe, käme ich dran mit meiner beruflichen Entwicklung. Aber man weiss ja nie, ob eine Partnerschaft hält. Viele Ehen halten nicht. Wenn die Frau ausgestiegen ist, was geschieht dann? Viele ­Paare sind auf zwei Einkommen ­angewiesen.

Im Moment streiten wir aber um die Initiative «Vier Wochen Vaterschafts­urlaub».
Die dürfte es schwer haben. Von inter­nationalen Kollegen werde ich oft gefragt, warum habt ihr so Mühe mit dem Vaterschaftsurlaub, ihr seid doch ein reiches Land? ­Meine Antwort: Wir sind reich, aber sehr konservativ, und wir haben ein konservatives Parlament.

Selbst ich denke manchmal, die alte Rollenaufteilung wäre für alle einfacher. Ist das total ­unemanzipiert?
Nein, das kann ich nachvollziehen. In den Jahren, als ich nur Hausfrau war, ­hatte ich zwar immer Angst, was aus mir wird, aber wir hatten ein gutes Familien­leben. Mein Mann hat ­gekrampft, ich habe den inneren Bereich ab­gedeckt. Das war eine stressarme Zeit für die ­Familie. ­Viele Männer wollen lieber arbeiten, als daheim zu sein. Ein Tag pro Woche reicht den meisten.

Und Mütter?
Nur Hausfrau zu sein, ist eine rie­sige Herausforderung. Ich hatte um 9 Uhr den Haushalt erledigt und musste schauen, was ich mit den Kindern den ganzen Tage mache. Darum verstehe ich Frauen, die sich im Beruf entfalten, nicht wegen der Kinder im Job so zurückstehen und noch einmal eine andere ­Anerkennung wollen.

Bei all diesen Fragen geht es ums Betreuungsmodell der Familie. Welches ist das beste?
Kein Familienmodell ist ideal. Aber Paare wählen zu wenig das Modell, das ihnen entspricht. Viele Paare machen es so, «wie man es eben macht». Mir sagen viele Frauen, dass sie nach dem Mutterschafts­urlaub eigentlich nicht arbeiten wollten, sondern lieber zu Hause blieben. Sie gingen aber. Es ist auch falsch, wenn man immer das Teilzeit-Teilzeit-Modell als bestes postuliert. Für absolut zentral halte ich aber eine langfristige Planung.

Wie meinen Sie das konkret?
Vielleicht müssen Paare einen Vertrag abschliessen. Schaue ich auf meine Laufbahn zurück, habe ich viel zu wenig bedacht, wie lang und reich das Leben ist. Wenn man mit 30, 35 Kinder bekommt und die Kinder 10 sind, hat man ­wieder Luft. Man ist erst 45 und kann sich selber rein­hängen. Ich war sehr froh darüber. Die Abnabelung der Kinder ist schmerzhaft. Für viele Frauen und Männer sind Beruf und Partnerschaft ein wichtiger Anker.

Gibt es etwas, das Sie als Mutter aus heutiger Sicht anders gemacht hätten?
Ich bin keine 68erin gewesen. Aber wir wollten unsere Kinder anders erziehen, als wir erzogen worden sind. Unsere Eltern waren autoritär. Wir haben unsere Kinder zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung erzogen. Aber heute glaube ich, dass wir unsere Kinder teil­weise überfordert haben. Ich würde ­heute mehr Strukturen mit mehr Regeln und Normen vorgeben.

Im Namen der Erziehung

Margrit Stamm ist 1950 in Aarau geboren. Sie arbeitete ­als Lehrerin, blieb acht Jahre bei der Familie und studierte ­Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der Uni Fribourg. Ihre Schwerpunkte sind Bildung, Erziehung und Familienforschung. Die 68-Jährige schrieb zahlreiche Fachbücher. Aktuell arbeitet sie an einem Buch über den Mütterlichkeitswahn. Stamm nimmt eine ­Vorreiterrolle in der Schweizer Forschungslandschaft ein. Sie ist ­verheiratet, Mutter von zwei Kindern und lebt in Aarau.

Margrit Stamm ist 1950 in Aarau geboren. Sie arbeitete ­als Lehrerin, blieb acht Jahre bei der Familie und studierte ­Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der Uni Fribourg. Ihre Schwerpunkte sind Bildung, Erziehung und Familienforschung. Die 68-Jährige schrieb zahlreiche Fachbücher. Aktuell arbeitet sie an einem Buch über den Mütterlichkeitswahn. Stamm nimmt eine ­Vorreiterrolle in der Schweizer Forschungslandschaft ein. Sie ist ­verheiratet, Mutter von zwei Kindern und lebt in Aarau.

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