Literaturkritiker Denis Scheck verrät die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur
Das müssen Sie gelesen haben!

Denis Scheck (54) ist der neue Marcel Reich-Ranicki. Wie der einstige Literaturpapst legt Scheck nun einen literarischen Kanon vor – allerdings ohne Berührungsängste gegenüber vermeintlich profanen Werken.
Publiziert: 26.10.2019 um 15:53 Uhr
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Denis Scheck (54) gilt mit seiner TV-Sendung «Druckfrisch» als der zurzeit pointierteste Literaturkritiker im deutschsprachigen Raum.
Foto: Ullstein Bild
Daniel Arnet

Welche Bücher muss man gelesen haben? Eine gewichtige Frage – zumal, wenn man aus allen Büchern der Menschheit die 100 massgebenden rauspicken will, um einen Kanon (griechisch für «Massstab») zu erstellen. 

Der renommierte deutsche Literaturkritiker Denis Scheck (54, «Druckfrisch») hat sich dieser schwierigen Aufgabe gestellt und eben im Piper-Verlag sein knapp 500-seitiges Fazit veröffentlicht: «Schecks Kanon – die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur». Dass Scheck kein elitärer Kostverächter ist, beweist der Zusatz «von ‹Krieg und Frieden› bis ‹Tim und Struppi›».

Tolstois wortgewaltiger Wälzer auf Augenhöhe mit Hergés hingezeichneten Heftstorys? «Ich glaube, die Zeit dieser E- und U-Unterteilung ist abgelaufen», sagt Scheck. «Ich will einen wilden Kanon vorschlagen, der weder Sprach- noch Genregrenzen respektiert.» Essays neben Comics, Theaterstücke neben Krimis, Lyrik neben Romanen und Sachbüchern. «Ein Kanon, so bunt wie das Leben von uns Leserinnen und Lesern.»

«Alte Schachtel» gegen «hysterisches Rolltreppendickerchen»

So beginnt «Schecks Kanon» mit Astrid Lindgrens Kinderbuch «Herr Karlsson vom Dach» (1955), geht über zu Charles M. Schulzs Comicstrips der «Peanuts» (1950–2000) und endet mit der spätantiken Philosophin Hypatia. Jedem seiner 100 empfohlenen Werke widmet Scheck drei bis fünf Seiten – keine plakative Prospekt-Prosa, sondern pointiert persönliche Plädoyers: Man will danach sofort zum Originalwerk greifen.

«Am Anfang des Neuhochdeutschen als Literatursprache steht Luthers Bibelübersetzung», schreibt Scheck im Kapitel über den Donald-Duck-Zeichner Carl Barks (1901–2000). «Am Anfang meiner literarischen Sozialisation steht die Übersetzung von Carl Barks' Entengeschichten durch Dr. Erika Fuchs.» Und er zeigt auf, wie Fuchs Bildungssprache in die bunten Bildergeschichten brachte.

Solche frühen Leseerlebnisse sind prägend. Fanden sie dadurch leichter Eingang in den Kanon? «Natürlich lagern sich an manche Lektüren Erinnerungen wie Sedimente an», sagt Scheck, «und deshalb nehme ich auch einen Text von Arno Schmidt, den ich sehr früh für mich entdeckte, mit anderen Gefühlen und Gedanken zur Hand als ein neues Buch von Houellebecq.»

Trotzdem ist für Scheck ein altes Werk nicht grundsätzlich wichtiger. «Manche Texte finden ihr Publikum in der Gegenwart und büssen mit der Zeit enorm ein», sagt er und gibt gleich Beispiele: «Denken Sie an die Romane von Heinrich Böll, die mir heute mausetot erscheinen, oder im Rückblick nahezu unbegreifliche Zeitphänomene wie Françoise Sagans ‹Bonjour tristesse›.» Dichtertadel, wie man ihn aus «Druckfrisch» kennt.

Denis Scheck ist ein Literaten-Schreck – wer ein neues Buch veröffentlicht, fürchtet sich vor dem träfen Urteil des gewitzten Literaturkritikers in seiner monatlichen TV-Sendung «Druckfrisch» (Das Erste). Als er in einer der ersten Folgen 2003 ein zuvor von Elke Heidenreich (76) hochgelobtes Buch als «wirre Schmonzette über Selbstfindungsprobleme alter Schachteln» abtat, konterte diese und bezeichnete Scheck als «hysterisches Rolltreppendickerchen» und «Tchibo-Literatur-Vertreter».

«Bloss keine literarische Schonkost!»

Scheck, der Mann für den bekömmlichen Massengeschmack? Mitnichten! So orientierte er sich für seinen Kanon nicht an Bestsellerlisten, auch wenn er mit «Harry Potter» von J. K. Rowling einen Überflieger in die Auswahl nahm. «Auf der Bestsellerliste finden Sie leider meist nur den kleinsten gemeinsamen Nenner des Massengeschmacks», sagt Scheck. «Wenn Sie gut essen wollen, dann greifen Sie doch auch nicht zu einer der zehn meistverkauften Mahlzeiten in der Schweiz.» Da erwarte einen «völlig unverdaulicher Autobahnraststättenmampf» – und in der Literatur sei das nicht anders als in der Kulinarik.

Und Scheck bleibt beim kulinarischen Bild, wenn er über die Mischung in seinem Kanon spricht – fragile Lyrik einer Gertrude Kolmar neben wuchtigen Wälzern wie «Ulysses» von James Joyce: «Wir sind doch auch in der Lage, federleichte Hechtklösschen zu geniessen und uns hinterher an einem Schmorbraten vom Hirsch zu ergötzen.» Als Leser solle man sich sowieso einen eisernen Magen zulegen – «bloss keine literarische Schonkost!»

Der Chef empfiehlt – braucht es das im Internet-Zeitalter noch, wo jeder Zugriff zu fast jedem Text hat und sich selber sein literarisches Menü zusammenstellen kann? Braucht es heute noch einen Kanon? Die Frage ist nicht neu, schon die 68er stellten sie. «Statt kanonisierte Werke sollte es nur noch Texte geben, die ohne Rangunterschiede nebeneinanderstehen sollten», sagt Scheck. «Die Folge dieses Barbarentums ist heute Verunsicherung und Orientierungslosigkeit.»

Als Wegweiser versuchten sich kraft ihrer Kenntnisse schon manche Kritiker und Schriftgelehrte. Als erster moderner Kanon der Weltliteratur gilt die 1670 veröffentlichte Abhandlung über die Herkunft des Romans, «Traité de l’origine des romans», des Franzosen Pierre Daniel Huet. Mit der Bildung der europäischen Staaten im 19. Jahrhundert entwickelt dann jede Nation ihren literarischen Kanon, die Grundlage im Schulunterricht.

Exakt diesen Nationalismus moniert man Anfang der 1980er-Jahre bei der «Zeit»-Bibliothek, dem Kanon der Hamburger Wochenzeitung mit den 100 besten Büchern der Weltliteratur. Obwohl international angelegt, listet «Die Zeit» nämlich deutsche Autoren auf, die im Ausland niemand kennt. «Zudem findet sich darin gerade mal eine einzige Autorin», sagt Scheck, «und ausgerechnet die halte ich auch noch für ziemlich schlecht – Anna Seghers.»

Keine Schweizer Autoren in «Schecks Kanon»

«Die Zeit» scheint aus diesem Versäumnis wenig gelernt zu haben, und publizierte 2018 einen neuen Kanon, dessen Werke immer noch zu 91 Prozent von Männern stammten. Als Reaktion darauf haben Schriftstellerinnen wie Sibylle Berg (57) und Margarete Stokowski (33) «Die Kanon» auf «Spiegel Online» veröffentlicht – weibliche Weltliteratur von Anna Achmatowa bis Unica Zürn. In «Schecks Kanon» ist immerhin über ein Viertel der gelisteten Werke von Frauen verfasst.

Weiblicher und weiter – das ist der Blick auf die Weltliteratur von Denis Scheck, der sich auch einen Namen als Übersetzer englischsprachiger Literatur gemacht hat. «Deshalb habe ich mich schweren Herzens gegen die Schweizer Frisch und Dürrenmatt entschieden», sagt Scheck, «auch um den eurozentrischen Blick etwas zu weiten und Platz zu schaffen für Autorinnen und Autoren wie den Nigerianer Chinua Achebe und die Japanerin Sei Shonagon.»

Und deshalb kritisiert er den rein deutschsprachigen Kanon von Marcel Reich-Ranicki (1920–2013), mit dem der Kritikerpapst Anfang des Jahrtausends für Aufsehen sorgte. Scheck: «Als lebten wir noch im 19. Jahrhundert mit seinen albernen Nationalphilologien!»

Weil jede Gesellschaft und jede Epoche neue Antworten auf die Kanonfrage brauche, sei nun die Zeit reif für seinen Kanon, ist Scheck überzeugt. «Ich kann nur einen Vorschlag machen», sagt er bescheiden – fügt dann aber schelmisch an, dass er seinem Buch als Motto den Titel eines Lyrikbandes von Peter Rühmkorf geben möchte: «Haltbar bis 2099».

Denis Scheck, «Schecks Kanon – die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von ‹Krieg und Frieden› bis ‹Tim und Struppi›», Piper-Verlag

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