«Weniger Geilheit, dafür mehr Nähe»
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Sexologin im Interview:«Weniger Geilheit, dafür mehr Nähe»

Sex in Zeiten von Corona
«Weniger Geilheit, dafür mehr Nähe»

Paare verbringen so viel Zeit zusammen wie nie zuvor. Ist das nun gut oder schlecht für die Lust? Wir haben bei der Psychotherapeutin und Sexologin Dania Schiftan nachgefragt und ein paar interessante Tipps erhalten.
Publiziert: 25.04.2020 um 14:16 Uhr
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Aktualisiert: 26.04.2020 um 14:37 Uhr
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Mehr Babys oder mehr Scheidungen nach der Corona-Krise? Das sei nun die Frage, die sich viele stellen, sagt die Psychotherapeutin Dania Schiftan.
Foto: Thomas Meier
Interview: Alexandra Fitz

Wir erwischen die Psychotherapeutin zu Hause. Wo sonst. Schiftan bietet ihren Patienten in dieser Zeit telefonische Sitzungen und Videocalls an. «Die Nachfrage ist gross. Die Leute sind sehr belastet», sagt sie. Es sind ihre Patienten, die sie jetzt noch mehr brauchen, aber Schiftan hat auch neue Anfragen. Jetzt, während dieser Krise, würden sich bei vielen Menschen Konflikte zuspitzen, die vorher kompensierbar waren. Darunter seien auch Leute mit Partnerschaftsproblemen, bei denen man merke: «Jetzt geht es wirklich nicht mehr.» Die Psychotherapeutin selbst hat sich mit ihrer Familie gut organisiert. Während ihrer Therapiesitzungen hat sie keine Betreuungsaufgaben. Es sei ihr heilig, die ganze Aufmerksamkeit dem Patienten zu geben. Dies merkt Schiftan an, als ihre Kinder für ein paar witzige Unterbrechungen während des Interviews sorgen.

SonntagsBlick: Dania Schiftan, hat man in Krisenzeiten mehr oder weniger Lust auf Sex?
Dania Schiftan:
Sowohl als auch. Die Frage derzeit ist ja: Wird es mehr Scheidungen oder mehr Babys geben? Es wird sich die Waage halten. Paare, die sich endlich auf sich konzentrieren und auf die Lust einlassen, und Paare, die so gefordert sind, so belastet, dass sie keine Lust spüren.

Das ist sehr vage formuliert.
Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich sagen: weniger Geilheit, dafür mehr Nähe. Weniger reisserischer Sex, dafür mehr anlehnen und kuscheln.

«Hände waschen!», ruft Schiftan ihrem Sohn zu.

Warum ist Corona ein Lustkiller?
Am Anfang war die omnipräsente Angst, die bremste. Die Angst ist noch da, aber es hat eine gewisse Normalisierung in der Abnormalität gegeben. Jetzt ist es mehr die Nähe, die uns zu schaffen macht. Für viele ist das ungewohnt, derzeit haben wir fast keinen Ausgleich gegen aussen. Die Leidenschaft leidet.

Vorher freute man sich auf den Abend, jetzt ist man morgens schon genervt, weil man sich ständig sieht.
Ja, das Spiel zwischen Distanz und Nähe fehlt. Normalerweise ist das wie ein Gummiseil, doch jetzt ist das Seil gar nie in die andere Richtung gespannt. Aber die Leidenschaft braucht dieses Spiel.

Ich habe gelesen, dass gerade Frauen während der Corona-Krise weniger Lust haben.
Das stimmt. Es kommt stark darauf an, wie Sexualität gelernt wurde. Bei vielen Männern gilt: Wenn der Penis stimmt, kann sich das Herz öffnen. Mit Selbstbefriedigung und Erregung werden sie Anspannung los. So können Männer das regulieren. Bei Frauen ist es eher umgekehrt. Wenn das Herz stimmt – also Stimmung und Emotion –, geht es unten auf. Das heisst, Frauen haben deswegen in solchen Zeiten tendenziell weniger Lust.

Man sagt immer, Zeit ist ein wichtiger Faktor in der Sexualität. Paare sind jetzt mehr zusammen, haben also mehr Zeit füreinander?
Nicht unbedingt. Die Räume vermischen sich mehr. Es findet alles im Schlafzimmer statt. Und: Nicht alle haben mehr Zeit. Ich kenne viele, die am Limit sind mit der Arbeitsbelastung. Gerade Eltern. Homeschooling und am Abend der eigenen Arbeit nachgehen, da bleibt oft keine Zeit mehr für den Partner. Da ist mehr: «Bringst du die Kids ins Bett, damit ich noch 45 Minuten arbeiten kann?» Viele werden im Moment weder dem Kind, dem Job, noch dem Partner gerecht.

Wie schafft man es, sexuell neugierig und interessant zu bleiben, wenn man sich pausenlos vis-à-vis sitzt?
Hilfreich ist, wenn man nicht zu hohe Erwartungen hat. Sex muss nicht immer uh spannend sein. Wenn beide einverstanden sind, dass es einfach unaufgeregt ist, dann hat man mehr davon, als wenn man eine grosse Sache daraus macht. Man soll einfach sagen: Wir können ja mal. Das klingt unsexy. Aber je mehr Erwartungen und Wünsche man darauf packt, desto eher halten sie einen davon ab.

Also nicht auf die Lust warten?
Wir müssen aufhören zu denken, dass es uns vor lauter Leidenschaft von den Stühlen wegreisst. Das wird nicht passieren. Und wenn, dann nicht gleichzeitig. Wichtig ist, dass man auch in dieser Zeit aktive Dates ausmacht, um sich näher zu kommen. Zum Beispiel zweimal die Woche um 18 Uhr aufhören zu arbeiten und Kuschelzeit einplanen. Eltern wohl eher um 22 Uhr.

Sexdates? Das ist doch peinlich und unromantisch.
Das höre ich immer wieder, aber ich verstehe es nicht. In normalen Zeiten machen wir jedes Wellness-Wochenende ab. Jede Ferien. Das wird null in Frage gestellt. Warum soll es beim Sex anders ein? Ich frage dann die Paare: «Habt ihr Spontansex?» – «Nein, das haben wir nicht.» Also dann macht Sexdates. Sonst müsst ihr damit leben, dass es keinen Sex gibt.

Hmmm.
Am Anfang mag es komisch sein. Man muss sich Mühe geben und darauf einlassen, sich daran gewöhnen und denken: Jetzt gebe ich zehn Minuten Vollgas, die Erregung kommt dann vielleicht. Wenn ich mich unwohl fühle oder es wehtut, hört man wieder auf. Die Lust kommt nicht von selber, weil die Räume nicht da sind. Übrigens auch in normalen Zeiten nicht.

Therapeuten sagen, Sex hilft. Er sei hilfreich beim Stressabbau.
Jein. Das stimmt für jemanden, der sich gewöhnt ist, mit Sex Stress abzubauen. Aber viele Frauen, die viel im Kopf haben und nicht gelernt haben, sich auf den Körper zu konzentrieren, und stets denken, «das und das muss ich noch», haben jetzt mehr Stress. Für Frauen, die Mühe haben, mit einem Mann zum Orgasmus zu kommen, ist Sex nicht Entspannung. Es stresst sie, auch noch beim Sex performen zu müssen. Sie brauchen viel Konzentration, um ihre Erregung oben zu behalten. Aber das kann man lernen, wenn man will.

Wie?
Ich habe darüber ein ganzes Buch geschrieben. Ich kann es kurz erklären, aber dann hat man es noch nicht geübt.

Bitte.
Je mehr ich auf dem Körper direkt spüre und auslösen kann, desto leichter fällt es mir und desto eher will ich das. Die Zellen in und ums Geschlecht müssen gut mit dem Hirn verbunden sein. Wenn ich nur erregt werde, wenn man mich rechts von der Klitoris in einem gewissen Tempo berührt, brauche ich nicht unbedingt Geschlechtsverkehr. Dann habe ich nicht so viel von einem Penis in der Scheide.

Und wie lernt man das nun?
Mit Üben. So wie man eine Sprache oder ein Instrument lernt.

Alleine?
Am besten alleine. Dann kann man das auf die Partnerschaft übertragen.

Wie erklären Sie es, dass seit Ausbruch der Pandemie die Nachfrage nach Erotikartikeln gestiegen ist?
Ich glaube, viele Leute haben jetzt das Bedürfnis, Sexspielzeug auszuprobieren. Es sind meines Wissens viele Produkte, die man alleine brauchen kann. Selbstbefriedigung als Spannungsregulation kann guttun. Es nimmt mich wunder, wie fest die Produkte auch benutzt werden. Ich würde es begrüssen, wenn es eine Zunahme gebe. Wenn Leute danach greifen, heisst das, dass sie kreativ sind und sich Gedanken machen.

Auch der Pornokonsum nimmt zu.
Das glaube ich sofort. Man ist mehr zu Hause, es schaut einem niemand über die Schulter. Aber aus sexologischer Sicht ist das nicht nur gescheit.

Warum nicht?
Wer ständig Pornos schaut, lenkt seine Aufmerksamkeit auf den Film und nicht auf den Körper. Wenn man zu viel schaut, reicht einem der eigene Körper nicht mehr. Und der Partner vielleicht auch nicht mehr. Es gibt eine Faustregel.

Eine Faustregel für den Pornokonsum?
Ja. Für Selbstbefriedigung einmal mit äusserlichem Input wie Bilder oder Filme, zwei Mal ohne. Dann ist das Repertoire am breitesten aufgestellt, und man aktiviert seine sexuelle Lust nicht nur über die Augen, sondern auch mit dem eigenen Körper.

«Oh coole Has!», sagt Schiftan zu ihrer Tochter. «Du solltest deine Nase putzen!»– «Heee, nicht mit dem Finger!»

Sind die Corona-Krise und die Massnahmen Gift für eine Partnerschaft?
Für eine Beziehung ist das eine wahnsinnige Herausforderung. Es wird einige Ehen sprengen. Ein Freund von mir ist Polizist. Er bestätigt, dass häusliche Gewalt tatsächlich zunimmt. Der Druck ist enorm. Er lastet auch auf den Kindern. Bei uns zu Hause müssen wir viel verhandeln. Man muss den Partner ernst nehmen und darf nicht vergessen: Er ist auch in Sorge und belastet. Es kommt nicht so oft vor, dass beide gleichzeitig so belastet sind. Man sollte Verständnis haben und nicht alles mega persönlich nehmen. Gleichzeitig muss man auch eigene Bedürfnisse spüren und umsetzen, sonst explodiert man plötzlich.

Ich habe gelesen, so eine Krise ist wie ein Katalysator für die Beziehung. Es kommt das raus, was eh schon im Argen lag.
Das habe ich auch schon gehört. Ich bin nicht überzeugt davon. Klar, Beziehungen, die sehr belastend waren, geht es nicht besser. Aber bei vielen Menschen kommen jetzt einfach die schlechtesten Seiten hervor, die sonst nicht in so geballter Ladung gekommen wären. Viele merken gleich, dass sie nicht fair waren, und man sagt «Schwamm drüber». Von der Schlussfolgerung, «Trennt euch besser!», bin ich nicht überzeugt. Man kann Krisen auch üben und vielleicht sogar stärker rauskommen.

Puhh, also muss man sich keine grossen Sorgen machen, wenn man sich derzeit öfters zankt?
Man sollte es schon ernst nehmen. Offensichtlich gibt es Themen, die besprochen werden müssen. Dann muss man das angehen, bevor es monatelang so dahinsiecht. Wenn Leute das hier lesen und merken: Es geht uns eigentlich nicht so gut, dann sollen sie sich besser jetzt schon melden, bevor Matthäus am Letzten ist.

Was kann man tun, um in der #Stayathome-Zeit nicht ständig Streit vom Zaun zu brechen?
Diskussionsfreie Zonen schaffen. Miteinander abmachen, wann und wo man Sachen bespricht. Etwa: Wir reden nur von halb sieben bis sieben oder beim gemeinsamen Spaziergang oder auf einem speziellen Stuhl. Den meisten tut es nicht gut, ständig angesprochen zu werden.

Also nur weil man im Homeoffice ist, den anderen nicht ständig anlabern, sondern dafür abmachen?
Ja, jeder hat einen anderen Arbeitsrhythmus. Der eine fängt früher an, der andere macht abends länger, da kann man nicht immer unterbrechen. Man muss den Raum des anderen respektieren. Man muss persönliche No-Gos absprechen. Manche haben kein Problem damit, wenn jemand ruft: «Wer macht Zmittag? Du oder ich?» Andere vertragen das nicht. Apropos einfach annehmen, dass die Frau jetzt den Zmttag macht, ist ein No-Go.

«Musst du wirklich mit dem Glacé aufs WC?», fragt Schiftan ihren Sohn.

Wie geht es eigentlich Singles?
Es gibt die, die mega einsam sind und denen das noch bewusster wird. Sie haben niemanden zum Anlehnen und spüren mehr Ängste. Und die anderen, die froh sind und sagen: Ach, zum Glück habe ich nur mich, meine Wohnung, mein Homeoffice und nicht noch Kind und 700 Baustellen rundherum.

Die Sexpertin

Dania Schiftan möchte ihr Alter nicht verraten. Wir hielten es für angebracht, nicht nachzurecherchieren. Seit 2008 ist die Zürcherin selbständige Sexual- und Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Schiftan hat zudem verschiedene Lehraufträge an Fachhochschulen und anderen Institutionen. Im Herbst 2018 ist ihr erstes Buch «Coming Soon – Orgasmus ist Übungssache» erschienen. Derzeit arbeitet sie mit einem Comiczeichner am Buch «Let's Talk About Sex», ein Ratgeber rund um Liebe, Sexualität und Partnerschaft. Schiftan lebt in Zürich mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern.

Dania Schiftan möchte ihr Alter nicht verraten. Wir hielten es für angebracht, nicht nachzurecherchieren. Seit 2008 ist die Zürcherin selbständige Sexual- und Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Schiftan hat zudem verschiedene Lehraufträge an Fachhochschulen und anderen Institutionen. Im Herbst 2018 ist ihr erstes Buch «Coming Soon – Orgasmus ist Übungssache» erschienen. Derzeit arbeitet sie mit einem Comiczeichner am Buch «Let's Talk About Sex», ein Ratgeber rund um Liebe, Sexualität und Partnerschaft. Schiftan lebt in Zürich mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern.

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