Im Paradies gibt es keinen Sex. Zur menschlichen Reproduktion setzt man dort offensichtlich aufs Klonen: «Da liess Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch.»
Die Beschreibung in der «Genesis» erinnert an eine moderne Gentech-Klinik, in welcher der Allmächtige als Chefarzt amtet: «Und Gott der HERR baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.» Adam und Eva, das erste Paar.Der Biss in den Apfel, der Sündenfall, lässt die beiden später gewahr werden: Wir sind nackt! Gott straft sofort: Vertreibung aus dem Paradies, gegenseitige Begierde und Gebären unter Schmerzen. Erst die Frucht vom Baum der Erkenntnis bringt also gemäss Bibel sexuelle Vermehrung auf Erden.
Sex entstand aus der Not heraus
Tatsächlich bestätigen Naturwissenschaftler: In der Evolutionsgeschichte kommt zuerst das Klonen, die sexuelle Fortpflanzung hat sich erst nach und nach entwickelt. Die ersten Lebewesen vor 3,77 Milliarden Jahren sind Bakterien, die sich einfach durch Zellteilung vermehren. Über drei Milliarden Jahre lang ist das die probate Reproduktionstechnik.
Doch dann versuchen es 30 Zentimeter lange, wurmähnliche Wesen mit Sex: 565 Millionen Jahre alte Fossilienfunde im Süden von Australien belegen, dass sich die Funisia Dorothea geschlechtlich vermehrt hat.
Sex entstand aus der Not heraus, half bei der Abwehr äusserer Feinde. Durch die Vermischung der Chromosomen bekommt der Nachwuchs einen ureigenen Datensatz, der mit dem der Vorfahren nicht voll identisch ist. Beim Klonen, also bei der blossen Zellteilung, stimmen demgegenüber alle genetischen Informationen überein; können Bakterien oder Viren ein Lebewesen knacken, befallen sie gleich die ganze Familie. Folge: Der Stamm stirbt aus.
Sex unter Menschen dient nicht bloss der Vermehrung
Die sexuelle Vermehrung macht sich der evolutionsgeschichtliche Mensch gleich bei seinem ersten Auftritt vor rund sieben Millionen Jahren zu eigen. Seine Sexualität unterscheidet sich allerdings in drei wesentlichen Punkten von der anderer zweigeschlechtlicher Lebewesen.
Erstens tritt beim Menschen die Fruchtbarkeit im Gegensatz zu anderen Primaten sehr viel später ein; sie hört, zweitens, durch die weibliche Menopause, früher wieder auf – Tiere sind in der Regel bis zu ihrem Tod fruchtbar; und drittens ereignet sich der Eisprung beim Menschen versteckt – Tierweibchen machen entweder mit Verhaltens- oder Körper-Signalen auf ihre Fruchtbarkeit aufmerksam. Dieses kleinere und unsichtbare Zeitfenster menschlicher Fruchtbarkeit zeigt: Viel weniger stark als bei Säugetieren ist der Sex beim Menschen mit der Fortpflanzung verbunden. Er dient über den Genomaustausch hinaus zahlreichen sozialen Funktionen und weist eine Vielzahl an Orientierungen auf.
Funktionsloser, lustbetonter Sex – das geht bis zu dem Zeitpunkt gut, als sich Menschen niederlassen und Dörfer bauen. Die Neolithische Revolution in der Neusteinzeit um 10 000 vor Christus – der Übergang vom Jäger und Sammler zum Ackerbauer und Viehzüchter – bringt die Kontrolle der weiblichen Sexualität mit sich. Sie wird mit Tabus und Verboten belegt, denn jeder Mann will nun wissen, ob er tatsächlich seinen Nachwuchs aufzieht und nicht den des Nachbarn.
In der Neusteinzeit entwickelt sich die Monogamie
Als Menschen sesshaft geworden seien, habe sich die Monogamie entwickelt, schreiben der amerikanische Psychologe Christopher Ryan und seine Frau, die Psychiaterin Cacilda Jethá, in ihrem gemeinsamen Bestseller «Sex. Die wahre Geschichte». Bis dahin sei nicht wichtig gewesen, welcher Mann welches Kind gezeugt habe – die Horde habe sich gemeinsam um den Nachwuchs gekümmert.
Die Frau zurückgebunden ins Haus, der Mann raus auf die Jagd – diese neue Rollenteilung in der Neusteinzeit hat körperliche Folgen. Knochenfunde zeigen, dass Männer und Frauen bis dahin gleich gross und gleich kräftig sind, doch neue Sesshaftigkeit macht die Frauen zum schwachen Geschlecht. Sie haben heute 30 Prozent weniger starke Oberarme als ihre Urahninnen vor der Neolithischen Revolution.
Lockern sich die sexuellen Restriktionen im antiken Griechenland, in dem Prostitution und Homosexualität gesellschaftsfähig sind, so gebärdet sich die christliche Kirche im Mittelalter wieder als sexualfeindlich: Schwule und Lesben gelten fortan als abartig, die Wollust ist ein Laster. Sex darf es nur für die Zeugung von Kindern geben. Allerdings wissen sich die Menschen zu helfen und nutzen öffentliche Badehäuser nicht bloss für die körperliche Reinigung, wie Alexander Ballhaus in seinem Buch «Liebe und Sex im Mittelalter» ausführt.
Der italienische Renaissance-Dichter Giovanni Boccaccio (1313–1375) erzählt in seiner Geschichtensammlung «Il Decamerone» manche sexuelle Anekdote über ach so keusche Mönche und Nonnen – man mag es sich vorstellen. Expliziter ist Boccaccios Landsmann Pietro Aretino (1492–1556), der 1524 «I Modi» («Die Stellungen») veröffentlicht, Sonette zu Kupferstichen mit der Darstellung unterschiedlicher Kopulationen.
Eine Offenheit, die man in Indien schon über 1000 Jahre zuvor zelebriert hat: Das «Kamasutra», zu Deutsch «Verse des Verlangens», aus dem 2. oder 3. Jahrhundert nach Christus enthält genaue Beschreibungen von Positionen beim Geschlechtsverkehr. Eine Tatsache, die eine Publikation im vergleichsweise prüden Abendland lange unmöglich macht. Die erste englischsprachige Übertragung erscheint 1883, die erste deutsche Ausgabe 1897.
Die repressiven Moralvorstellungen im damals viktorianischen England und im wilhelminischen Deutschland beginnen sich aufzuweichen. «Es werde Licht!», ein Aufklärungsfilm über Geschlechtskrankheiten, kommt 1917 in die deutschen Kinos, und 1919 gründet Magnus Hirschfeld in Berlin das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaften.
Seit 1930 nimmt der Gebrauch des Wortes Sex stetig zu
Und seit die Entdeckung des Pe-nicillins 1928 die effektive Be-handlung von übertragbaren Geschlechtskrankheiten ermöglicht, machens die Menschen nicht nur häufiger, sie sprechen auch öfters darüber: Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) zeigt ab 1930 eine stetig ansteigende Kurve betreffend die Verwendung des Wortes Sex.
Der amerikanische Sexualforscher Charles Kinsey macht sich die Offenheit zunutze, befragt 11 000 Personen und zeichnet im «Kinsey-Report» von 1948 und 1953 erstmals das Sexualverhalten der Menschen auf. Kinsey belegt: Die Hälfte der Bevölkerung ist bis zu einem gewissen Grad bisexuell veranlagt. Mal mit einer Frau, mal mit einem Mann; mal mit dieser, mal mit jener. Die sexuelle Revolution der 1968er prägt daraus den Spruch: «Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.» Erst die Aids-Epidemie dämpft dieses freizügige Denken.
Als 1978 mit der Britin Louise Joy Brown das erste im Reagenzglas gezeugte Baby zur Welt kommt, verliert Sex weiter an Bedeutung für die menschliche Vermehrung – in den vergangenen vierzig Jahren haben über acht Millionen sogenannte Retortenbays das Licht der Erde erblickt. Und seit 1996 mit dem Hausschaf Dolly der erste Klon eines Tiers gelungen ist, versuchen sich die Götter in Weiss am Menschen. Das Klonen könnte den Sex wieder ablösen. Es drohen Zustände wie in der eingangs zitierten Bibel – wahrhaft paradiesisch.