Der Taxifahrer biegt in Bremens (D) Industriegebiet ein. Hier an der Weser sei früher der Holzhafen gewesen, sagt er. Zu wem es denn genau gehe, will er wissen. Zu Fun Factory, einer der grössten Sexspielzeugfirmen Europas. Er blickt in den Rückspiegel und sagt: «Oh.»
Schon am Eingang stossen wir auf die ersten Dildos. Pink, rot, schwarz. In allen Formen zeigen sie in alle Richtungen. Es ist ein Kunstwerk, das dem Besucher sogleich verrät, in welche Welt er gleich eintritt. Im ersten Stock ist der Showroom, darüber lichtdurchflutete Design-Büros, die an Werbebüros erinnern. Gegossen, gefüllt und geklebt werden die Dildos vis-à-vis in der Produktion. Maschinell und von Hand. Gucken ja, fotografieren verboten. Wegen der Konkurrenz.
Die Dildomaschinen sind Spezialentwicklungen, die in Zusammenarbeit mit der Uni Bremen entstanden sind. Eine Düse spritzt das flüssige Silikon in die Formen. Nach etwa 20 Minuten ist das Silikon hart, und die Dildos können rausgezogen werden.Sexuelle Höhepunkte sind das Geschäftsziel der Firma Fun Factory und deren 120 Mitarbeiter. Sie produzieren täglich 3500 Sexspielzeuge. Letztes Jahr verkauften sie eine Million Erotik-Artikel. Umsatz: 11,5 Millionen Euro.
Fun Factory liefert in 60 Länder. Mit ihren bunten Orgasmus-Helfern haben die Firmengründer Michael Pahl und Dirk Bauer 1995 den Markt revolutioniert. Die beiden Elektroingenieure sind quasi die Väter moderner Dildos. «Wir haben die Sexspielzeuge gesellschaftsfähig gemacht und dafür gesorgt, dass sie nicht mehr peinlich sind», sagt Michael Pahl.
Jede zweite Schweizerin besitzt einen Vibrator
Sextoys gibt es schon lange. Doch so verbreitet wie heute waren sie noch nie. Dass frau einen Vibrator, einen Dildo oder Liebeskugeln hat, ist heute nicht selten, sondern normal. Jede zweite Schweizerin soll einen Vibrator besitzen. In einer Umfrage des SonntagsBlick Magazins unter 95 Schweizern zwischen 15 und 84 Jahren gaben gerade einmal 29 Befragte an, dass sie kein Erotikspielzeug verwenden. Bei allen anderen heisst es: Ja, klar!
Weg vom Schmuddel, hin zum Accessoire
Diesen Boom hat die Sextoy-Industrie ihrer konsequenten Ausrichtung auf den Markt zu verdanken. Im Fall von Dildos heisst das in erster Linie: Ausrichtung auf die Kundin. Dahinter steckt eine gesellschaftliche Entwicklung. Die weibliche Sexualität ist gesellschaftlich Richtung Zentrum gerückt. Frau darf – nein soll! – Lust haben. Dazu kommt eine gesellschaftliche Veränderung in der Partnerschaft: In der Schweiz gibt es so viele Sing-le-Haushalte wie noch nie. In 35,3 Prozent von ihnen liegt nur eine Person im Schlafzimmer – aber immer öfter mit einem Spielzeug.
Junge Firmen haben sich ihren Kundinnen angepasst. Sexspielzeuge sehen heute aus wie Lifestyle-Gadgets. Die Fachgeschäfte sind lichtdurchflutet und präsentieren ihre Ware ohne Scham oder Schmuddel. Die Shops in wenig einladenden Gegenden, vollge-stopft mit allerlei Nippes, dunklen, schweren Vorhängen und den obligatorischen schwarzen Plastiksäckchen für den Kauf sind passé. Auch im Netz werden Sexspielzeuge neu vermarktet. In Onlineshops für Sextoys wie Amorana oder Amorelie schreit nichts nach Porno. Paare kuscheln glücklich und verspielt im Bett, nichts ist explizit, lediglich angedeutet.
In grossen Dildos verarbeiten die Experten in Bremen bis zu 500 Gramm Silikon – diese Masse kostet mehr als zehn Euro. Silikon ist die Erfolgsformel der Firma Fun Factory. Weg vom billigen Plastik, hin zu medizinischem Silikon. «Medizinisch» bedeutet unbedenklich für die Gesundheit. Das ist wichtig in einer Branche, die Produkte für sämtliche Körperöffnungen herstellt. Silikon ist geruchsneutral und ideal für Sexspielzeuge. Das merkte auch die Konkurrenz. Heute bestehen fast alle Toys aus diesem Material.
Mitarbeiter Vadim Belov rührt in der Giesserei gerade mit dem wohl grössten Mixer der Stadt in einer himbeerfarbenen Sauce. Aus dieser Masse werden später knallrote Dildos entstehen. Mit einem «Evakuierer» schleudert er die Luft aus dem flüssigen Silikon, das anschliessend in die unterschiedlichen Formen gegossen wird, wo es dann hart wird.
Am Anfang keine kommerziellen Gedanken
Die kleinen, grossen, kurzen, langen, glatten, knubbligen, pinken, orangen und blauen Dildos und Vibratoren haben Namen wie Darling Devil, Magnum, Tiger oder Patchy Paul. Letzterer ist in Grün und Pink erhältlich. Er sieht aus wie eine Raupe. Patchy bedeutet so viel wie ungleichmässig. Raupe halt. Die Raupe ist kraftvoll, sie hat zwölf tieffrequente, leise Vibra-tionsprogramme, und ihre neugierige, geneigte Nase verwöhnt den G-Punkt, heisst es. Patchy Paul brummt, es ist ein tiefer Ton. Andere Geräte von anderen Herstellern summen, sind höher in der Tonart. Jedem Tierchen sein Plaisirchen, oder besser: für jeden Typ das passende Spielzeug.
Pahl und sein Kumpel Bauer studierten Elektrotechnik in Bremen. Eines Tages wollte Pahls Frau, inspiriert von einem Laden im südlichen München (D), einen Sexshop eröffnen. Doch damals gab es bloss «Schrott aus China», wie es Pahl nennt. Seine Frau blieb auf den überdimensionalen, fleischfarbenen Plastikdildos mit grossen Adern sitzen. Die beiden Männer setzten sich an den Küchentisch und formten Dildos aus Knetgummi. Es wurde ein Pingu. Und war erst mal nur Spass.
Eigentlich, so die Geschichte, steckte kein kommerzieller Gedanke dahinter, doch der Pingu gefiel besser als die billigen Penisattrappen. Beate Uhse – Gründerin des ersten Sexshops nach dem 2. Weltkrieg und Name eines Erotikhandels, der Ende 2017 Insolvenz anmeldete – wurde aufmerksam auf die Entwicklung und bestellte 240 Stück. So wuchs und wuchs das Geschäft mit dem Spielzeug für Erwachsene.
«Wir waren die Ersten. Heute haben wir viel Konkurrenz – insbesondere aus China», erklärt Pahl. Sie seien nicht schlecht. «Aber wir Deutschen können Dildos bauen, deutsche Ingenieurskunst ist präzise und bekannt.» Komplett in Europa produziert keine andere Sexspielzeugfirma.
In der Schweiz werden die Dinger von Pahl unter anderem im grössten Schweizer Onlineshop für Erotikartikel verkauft. 2014 hat Alan Frei aus Ehrendingen AG mit einem Freund das Start-up Amorana gegründet und versorgt seither die Schweizer mit Sexspielzeug. Der «Shades of Grey»-Hype 2015 bescherte dem Aargauer den ersten Höhepunkt. Heute kann er sagen: «Die Schweiz will Sextoys. Wir wachsen ungebremst, jedes Jahr um 60 Prozent.»
Genaue Zahlen verrät er nicht wegen der Konkurrenz, aber er hat im Jahr über 100'000 Bestellungen. Die Konkurrenz heisst Amorelie. Ein Portal mit Sitz in Berlin, das aber auch die Schweizer beliefert. Auch sie wachsen jährlich im zweistelligen Prozentbereich. Auch sie geben keine genauen Zahlen bekannt. Nur so viel: Im Schnitt verkaufen sie in der Schweiz 1000 Toys pro Woche.
Glarner beziehen die meisten Anal-Toys
Sein Hauptkunde? Frau, zwischen 25 und 34, urbane Region. Und: verheiratet! Schweizweit wird am meisten in Zürich ausgeliefert. Pro Einwohner stehen aber die ländlichen Gegenden an der Spitze. So verschickte Amorana unlängst die Mitteilung: «Im Kanton Schwyz werden die meisten Sextoys pro Kopf gekauft.» Gefolgt von Glarus und Uri. Die Glarner beziehen am meisten Anal-Toys, im Kanton Schwyz laufen die Vibratoren am besten, und Zürcher Männer – für einmal eher bescheiden – bestellen vor allem Kondome.
Der Topseller für Frauen bei Amorana und wohl im gesamten Markt ist derzeit der Womanizer. Wenn man Frei und den Kundenbewertungen glaubt, besitzen ihn sehr viele Frauen. Wenn man ihnen weiter glaubt, ist der kleine Staubsauger für die Klitoris ein grosser Star. Liest man Rezensionen, sollte eigentlich keine Frau mehr ohne dieses Ding sein. Die Revolution: Er vibriert nicht, er saugt – und stösst. Im Fachjargon heisst es dann: «Durch pulsierendes und sanftes Saugen stimuliert das Toy deine Klitoris aufs Intensivste.» Es gibt sogar eine Orgasmus-Garantie auf das Gerät, dafür garantiert Alan Frei nur beim Womanizer. Seit er den Frauen das verspricht, kam von mehreren Tausend verkauften erst ein einziger Womanizer mangels Höhepunkt zurück.
Einer hat gar keine Freude am Womanizer. Das liegt nicht daran, dass er ein Mann ist, sondern dass er ihn nicht erfunden hat. Michael Pahl von Fun Factory in Bremen ärgert sich, dass er nicht der Mann ist, der Millionen von Frauen weltweit mit diesem Gerät glücklich macht.
Es war einer aus dem Süden seines Landes. Aus dem 4500-Seelen-Dorf Metten an der Donau in Niederbayern. Michael Lenke ist ein Tüftler, er besitzt über 80 Patente, unter anderem eines für ein Erdbeben-Frühwarnsystem. Als er eine Studie las, wonach über fünfzig Prozent der Frauen nie oder nur selten zum Höhepunkt kommen, bastelte er drauflos. Seine Frau testete den Klitoris-Sauger, so wie alle Erfindungen ihres Ehegatten.
Anfangs war der Sog zu stark, nach einem Jahr Arbeit sagte sie ihrem Mann: «Das wird ein Hit.»Michael Pahl tüftelte in Bremen an einer ähnlichen Idee, zog sie aber nicht durch. Auch er wolle noch einen Kracher auf den Markt bringen, der einschlägt, sagt Pahl. Sieht er, der dazu beiträgt, dass Frauen früher, schneller oder intensiver kommen, sich als Sexperten? «Das Wort gefällt mir. Ich bin schon ein gewisser Sexperte. Sicher mehr als irgendein Mann auf der Strasse.»
In goldenen Schachteln in alle Welt verschickt
Sein Reich ist im obersten Stock. Werkstatt und Büro zugleich. Auf dem Werktisch liegen Messgeräte, Kabel und Zangen. Hier wird das Innenleben der Vibratoren geschaffen und Diskussionen über Schwingungen geführt. Damit aus einem Dildo ein Vibrator wird, braucht es einen Motor. Und wie der Verkäufer von Fun Factory, Uwe Wellmeier, sagt, sei ein Vibrator ohne Batterien oder Strom immer noch ein Dildo. Aber ein Dildo kann nie ein Vibrator werden, er wird nie rattern.
Im Spielzeug für Erwachsene stecken zwei kleine Motoren oder ein grosser. Pahl und seine Elektro-Jungs (eine Ingenieurin arbeitet im Team) überlegen sich, wie Vibratoren angetrieben werden können. «Das klingt unromantisch, aber es muss effizient sein», sagt Pahl. In Vibratoren ist ein Umwucht-Motor eingebaut. Das ist derselbe Motor, der uns in Smartphones mit dem Vibrationsalarm Anrufe und Nachrichten signalisiert. Physikalische Gesetze im Dienste der Lust.
«Man denkt nicht mehr an Sex, wenn man hier arbeitet», sagt auch die Qualitätsmanagerin Jessica Greuel, während sie sich einsatzbereite Vibratoren ans Ohr hält, um ihren Ton zu testen und sie zwischen ihren Händen hin und her biegt. Bestehen die Artikel die Probe, werden sie in dezente, goldene Kartonschachteln verpackt und verschickt. In die ganze Welt. Und in die Schweiz. Sogar in die Migros. Der Detailhändler hat die Mini-Variante der Raupe Patchy Paul im Sortiment. Ein sogenanntes Einsteiger-Toy, über das die Firma schreibt: «Der charmante Verführer – seinem Lächeln widersteht keine!»
Die Schweizer mögen gemäss Verkäufer Uwe Wellmeier kein grelles Neon, lieber zarte Farben. Brombeer etwa. Auch würden viele Schweizerinnen Home-Parties mit Sextoys veranstalten. Dildos statt Tupperware. Schweizer seien offen für Neuigkeiten, was Form und Technik angehe, und überhaupt nicht konservativ.
Schon fast Mainstream, aber doch nicht ganz
Das beobachtet man auch beim Online-Shop Amorana. Die Schweizer würden offener über Sexspielzeug sprechen. Das sei gut. Schliesslich, so der Inhaber, wollen sie ein erfülltes Sexleben. Insbesondere Junge hätten einen unverkrampfteren Umgang mit Sextoys. «Der Markt wird noch mehr wachsen. Das führt dazu, dass Toys von einem Nischen- zu einem Massenphänomen werden», sagt Frei. Total offenherzig sind die Schweizerinnen und Schweizer dann aber doch nicht. Die häufigste Frage, die Frei gestellt bekommt, lautet immer noch: «Ist das diskret verpackt?»