In den USA kommt wohl bald Viagra für die Frau auf dem Markt. Ein Grund zur Freude?
Eine knifflige Frage. Lustlosigkeit ist eines der am häufigsten geäusserten Probleme in der Sexualität der Frau. So gesehen ist das Medikament natürlich hoch willkommen. Ob es dann die Erwartungen auch erfüllt und ob Risiken und Nebenwirkungen in einem guten Verhältnis zum Nutzen sind, muss sich noch zeigen.
Wie funktioniert das Medikament?
Flibanserin bzw Addyi beeinflusst das Zusammenspiel verschiedener Hormone. Es senkt den Spiegel des Hormons Serotonin und hebt dagegen die Konzentration von Dopamin und von Noradrenalin im Blut an. Beides kann die weibliche Libido steigern.
Klingt bestechend einfach.
Und da liegt ein erstes Problem. In den letzten Jahren haben sich Begriffe wie «Glückshormon», «Kuschelhormon» oder «lusthemmendes Hormon» durchgesetzt. Das klingt, als ob man einfach etwas Serotonin schlucken könnte und schon wäre man die glücklichste Person auf Erden. Aber die Endokrinologie, also die Lehre der Hormone, ist ein hoch komplexes Gebiet. Psychopharmaka ziehen oder rütteln am Mobile der Abläufe im Gehirn. Das kann ein Segen sein, wenn man nicht anders weiter kommt. Problematisch finde ich, wenn so ein Präparat als Lifestyle-Medikament positioniert wird. Es ist schwer abzuschätzen, was eine Einnahme langfristig auslöst.
Wie unterscheidet sich das Viagra für die Frau vom klassischen Viagra?
Es sind verschiedene Wirksysteme. Das Grundproblem ist schon anders: Männer, die keine Erektion bekommen und denen Viagra hilft, fehlt es nicht an Lust. Es ist vor allem körperlich etwas nicht in Ordnung. Fehlende Lust bei der Frau spielt sich mehr im Kopf ab und ist etwas viel Komplexeres, wobei die komplette Trennung zwischen Körper und Geist heikel ist.
Gemäss Studien sollen über 40 Prozent der Frauen von Lustlosigkeit betrofffen sein.
Wie gesagt: Lustlosigkeit ist heute die häufigste Klage von Frauen in Bezug auf die Sexualität. Aber wo setzt man die Grenze an? Wir leben mit der Idee, dass Lustlosigkeit sofort und in jedem Fall ein Makel ist. Dabei ist sie, in gewissen Masse, gut und normal.
Aber die Frauen erleben ihre Lustlosigkeit als grosse Belastung.
Natürlich. Das bestreite ich auch nicht. Aber wenn keine Lust wächst, ist das auch ein Signal, dass das Umfeld für die Lust vielleicht nicht optimal ist. Bei einer Häufigkeit von über 40 Prozent muss man von einer Volkskrankheit sprechen. Müsste man dann nicht auch hinschauen, was wir als Gesellschaft vielleicht nicht ideal machen? Und ob unsere Ansprüche realistisch sind?
Was läuft denn falsch?
Die Erwartungen in Bezug auf Sex sind riesig, die Bereitschaft, in ihn zu investieren, dagegen nicht. Sex wird als Konsumgut betrachtet, das jederzeit verfügbar und jederzeit wahnsinnig toll sein muss. Aber wehe, man sollte etwas dafür tun. Dann reagieren die Leute schon fast beleidigt, weil sie sich schliesslich lustvoll entspannen wollen. Für viele Frauen werden auch gesellschaftliche Erwartungen zum Problem.
Zum Beispiel?
Die Frau wurde viele Jahre als chronisch lustloses Wesen dargestellt, dass Sex nur in kuschliger Harmonie geniessen kann. Aber das ist in dieser Absolutheit einfach nicht wahr. Viele Frauen merken beispielsweise, dass sie ihren langjährigen Partner immer noch sehr lieben, aber dass er sie einfach sexuell nicht mehr anzieht. Diese Option macht ihnen derart Angst, dass sie sie lieber unter den Teppich kehren, als sich darum zu kümmern.
Was macht man denn, wenn man die Lust auf den Partner verloren hat?
Zuerst braucht es die Erkenntnis, dass es absolut normal ist, dass einem nach vielen Jahren des Zusammenlebens nicht das Höschen weg fliegt, nur weil der Partner gerade zur Tür rein kommt. Diese Erwartung ist absurd, aber viele Frauen denken, dass genau das passieren sollte.
Dann liegt die Lösung in einer offenen Beziehung?
So einfach ist es nicht. Für die meisten Paare funktioniert diese Beziehungsform nicht und sie kann sehr anstrengend und Nerven aufreibend sein. Oft geht es mehr darum, dass die Frauen ihre Lust und halt auch Unlust besser kennen lernen müssen. Dass sie sich fragen, was sie anmacht und wie sie es realisieren könnten – vielleicht auch nur gedanklich.
Eine Frau, die das neue Medikament genommen hat, sagt, dass es ihre Ehe gerettet habe.
Das ist ein grossartiger Erfolg, den ich ihr und ihrem Mann sehr gönne. Aber auch in der Gruppe der Frauen, die nur ein Placebo bekommen hat, hat sich die Sexualität deutlich verbessert. Deshalb wünschte ich mir, dass man genauer hinschaut: Ein Medikament für die Sexualität zu nehmen, heisst auch, sich um die Sexualität zu kümmern. Sex hat plötzlich wieder einen Stellenwert, es kommt ein Geist von Hoffnung und Veränderung auf. Man nimmt jeden Tag eine Tablette, wartet, vielleicht auch ganz offen zusammen mit den Partner, auf die Effekte. Das ist spannend und aufregend! Ich wette, die Paare haben in der Zeit der Medikamenteneinnahme auch wieder mehr über ihre Sexualität geredet, ihr mehr Raum gegeben.
Also braucht es gar kein «Viagra für die Frau»?
Zum Glück kann jeder selber entscheiden, wie er mit seinen Problemen umgehen möchte. Ich bin nicht gegen Medikamente. Wer alles andere versucht hat und sich dann bewusst für ein Medikament entscheidet, dann ist das eine gute Wahl. Zum Glück haben wir den Luxus, heute Optionen zu haben.