42 Prozent der Tinder-User sind vergeben. Überrascht diese hohe Zahl?
Überhaupt nicht. Wer denkt, dass nur Singles auf einen Flirt oder unverbindlichen Sex aus sind, sollte dringend einen Realitätscheck machen. Tinder lässt Sex ohne Verpflichtungen spielend leicht aussehen. Dass man sich so gerade einen Seitensprung bestens organisieren kann, liegt auf der Hand.
Ist das nicht unfair gegenüber den echten Singles?
Das ist natürlich frustrierend, wenn man das selber nicht gutheisst. Trotzdem muss man realistisch bleiben: Wer unverbindlichen Sex sucht, muss damit leben können, dass man nur begrenztes Wissen über die andere Person hat. Das gilt aber auch beim schnellen Aufriss in der Bar. Dort gibt es auch keine Garantie.
Was, wenn man über das Profil einer Person stolpert, die man kennt und die eigentlich vergeben ist?
Dann kann man sich mit einem “Ich wollte nur ein bisschen gucken” schnell raus reden. Für viele stimmt das wohl auch. Etliche Nutzer sind vermutlich tatsächlich vor allem aus Neugier mit dabei. Tinder und ähnliche Angebote bieten einen angenehmen Kick. Man kann seinen Marktwert abschätzen und es winkt die Möglichkeit, auf jemanden zu stossen, den man kennt. Zum Wohle wie zum Wehe.
Dann geht nicht jede Person, die vergeben und trotzdem auf Tinder ist, fremd.
Nein. Diese Schlussfolgerung würde zu weit gehen. Es dürfte übrigens auch eine gewisse Quote an Singles geben, die nur guckt und chattet, aber sich nie mit jemandem trifft.
Was soll man tun, wenn man den Tipp bekommt, dass der Partner oder die Partnerin auf Tinder ist?
Das kommt auf die persönlichen Beziehungsspielregeln an. Jedes Paar muss für sich bestimmen, was drin liegt und was nicht. Ich ermuntere durchaus zu gewissen Freiheiten. Nur weil jemand in einer Beziehung ist, hört die Person nicht auf, Mann oder Frau zu sein. Ein Flirt hie und da kann wichtig sein – so lange man sich über die Grenzen einig ist. Für die meisten dürften die bei einer Präsenz auf Tinder aber deutlich überschritten sein.
Die Tinder-Macher geben an, die Plattform zur Suche platonischer Freunde kreiert zu haben.
Da habe ich, mit Verlaub, laut gelacht. Ich masse mir nicht an, zu wissen, was sich die Macher bei der Entwicklung gedacht haben. Aber so, wie Tinder heute gebraucht wird, wirkt die Aussage unfreiwillig komisch.
Schadet Tinder unserem Liebesleben?
Tinder ist ein Werkzeug. Ob es hilft oder schadet, hängt vor allem auch davon ab, wie es gebraucht wird. Wieso ein App verteufeln, dass durchaus viele positive Seiten bietet? Schwarz sehe ich eher für die Flirtkultur.
Aber Tinder setzt ja gerade aufs Flirten.
Schon, aber auf welche Art? Bei Tinder kann ich im Schutz der Anonymität abchecken, ob jemand auch auf mich steht, bevor ich mich offenbare. Im echten Leben gibt es diese Rückversicherung nicht. Die Schweiz stöhnt gerade einhellig über eine miese Flirtkultur, aber niemand nimmt mehr die Nase aus dem Handy. Flirten braucht Mut. Aber viele bringen den nur noch mit “Stützrädli” wie Tinder und Co. auf, weil sie zu viele Faktoren kontrollieren wollen. Dass sich die Leute dann beim Flirten im echten Leben schwer tun, ist keine Überraschung.