Drei ihrer vier Kinder werden im Laufe ihres Lebens erblinden: Aus dem traurigen Schicksal versuchen die Eltern, Edith Lemay und Sébastien Pelletier, das Beste zu machen. Die Familie aus Kanada reist derzeit um die Welt, damit ihre Kinder noch so viel davon sehen und erleben können wie nur möglich.
Denn Mia (12), Colin (7) und Laurent (5) leiden an der vererbbaren Netzhauterkrankung Retinitis pigmentosa, dabei verliert man nach und nach das Augenlicht. Nur Sohn Leo (9) hat die Krankheit nicht geerbt. Gestartet ist die Familie in Namibia, inzwischen lernen die Kinder auf Lombok in Indonesien surfen und besichtigen Tempel in Malaysia. Die Eltern machen die Reise auf Instagram (@pleinleursyeux) öffentlich und bewegen damit auf der ganzen Welt. Die Mutter will deren visuelles Gedächtnis mit den besten und schönsten Bildern füllen. Denn abwenden lässt sich die Erblindung bislang nicht.
Hoffnung für Betroffene aus der Schweiz
Doch es gibt Hoffnung: Derzeit läuft in den USA eine klinische Studie für ein neuartiges Medikament, das die genetisch bedingte Degeneration der Netzhaut aufhalten und sogar rückgängig machen könnte. Dahinter steckt der Zürcher Matthias Steger (52) mit seiner Biotech-Firma Endogena Therapeutics. «Die Tragik an dieser Krankheit ist, dass man weiss, dass man erblindet, aber nicht, wie viel Zeit noch bleibt», sagt der Biochemiker. In der Schweiz ist etwa einer von 3000 Menschen betroffen – weltweit sind es 1,5 Millionen. Es fängt mit Tunnelblick an, dann kommt der Verlust von Kontrasten und Farben und endet meist mit einer völligen Erblindung. Die lichtsensitiven Zellen, also die Fotorezeptoren, sterben langsam ab.
Was, wenn die zerstörten Fotorezeptoren auf der Netzhaut neu gebildet werden könnten? So wie der abgefallene Eidechsenschwanz, der von selber wieder nachwächst? Genau daran tüftelt man bei Endogena Therapeutics mit Sitz im Bio-Techno-Park in Schlieren ZH. Die Räumlichkeiten mit Büros und Labor sind mit viel Licht, Farbe und Design eingerichtet – auf einem Poster ist in 2000-facher Vergrösserung zu sehen, woran Steger und sein Team arbeiten: die aktivierten Zapfen und Stäbchen im Querschnitt des Auges einer zuvor erblindeten Maus.
Wissenschaftliche Sensation
Die Aufnahme dokumentiert eine wissenschaftliche Sensation. «Bis heute hat noch niemand gezeigt, dass Fotorezeptoren im erwachsenen Auge eines Säugetiers regeneriert werden können», so Steger. Diese Art von Regeneration geschieht in unserem Körper oft ganz von selber, ohne dass wir diesen Prozessen grosse Beachtung schenken. Wenn alte Zellen absterben, wachsen Körperzellen nach – in Organen wie dem Herz und der Leber oder in Geweben wie Haut, Knorpel oder Muskel. Hautzellen erneuern sich innert eines Monats komplett. Andere Zellen tun das nur geringfügig oder gar nicht, so beim Auge: «Werden die Fotorezeptoren der Netzhaut beschädigt, können sie sich nicht von selber erneuern.»
Schon in seinen beruflichen Anfängen bei F. Hoffmann-La Roche vor über 20 Jahren befasste sich Steger mit dem Design und der Synthese aktiver Moleküle für eine Vielzahl von therapeutischen Indikationen. Beim Pharma-Multi hat der Biochemiker eine steile Karriere hinter sich, zuletzt als Leiter für globale Forschung und Technologiepartnerschaften. Für Steger, der schon um 5 Uhr morgens aufsteht, joggen geht und mit seinem Rennrad zur Arbeit flitzt, war die traditionelle Pharmabranche irgendwann nicht mehr agil genug: «Ich habe die Chancen gesehen, die in dieser neuartigen Methode gegen degenerative Erkrankungen liegen. Mit meinem eigenen Unternehmen kann ich dynamischer vorgehen.»
Mäuse können wieder sehen
Die Idee hinter der Arzneibehandlung namens EA-2353: Die Augenstammzellen werden mit den passenden Molekülen aus dem Ruhezustand «geweckt». Für Endogena Therapeutics hat der Forscher über die Jahre eine eigene Substanzbibliothek mit 2000 Molekülen erschaffen: «Sie sind die wichtigste Währung in unserer Branche, grosse Pharma-Unternehmen haben über eine Million Testsubstanzen.» Moleküle sind wie Schlüssel, die das Schloss zum biologischen Pfad öffnen und so regulieren. Den passenden zu finden, um ein wirksames Therapeutikum zu entwickeln, ist detektivische Arbeit. «Das ist wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Möglich ist das dank künstlicher Intelligenz und schnelleren Datenanalysen», sagt der Forscher. Erst nach mehreren Tausend Tests zeigt sich ein Treffer, ein sogenannter Hit.
Die Augen sind Vorposten des Gehirns und das Fenster zur Welt. Der Sehsinn ist das wichtigste Sinnessystem des Menschen, er liefert bis zu 80 Prozent der Informationen über die Aussenwelt und beschäftigt ein Viertel des Gehirns. Die Netzhaut ist das Nervengeflecht im Augeninnern und damit ein Teil des Gehirns, das aus mehr als hundert verschiedenen Zelltypen besteht. 127 Millionen Lichtrezeptoren verwandeln das Licht, das sie durch die Linse erreicht, in elektrische Impulse und geben diese an den Sehnerv weiter. Mit dem Alter nehmen Augenerkrankungen zu, die häufigste Ursache für Erblindung ist die altersbedingte Makuladegeneration.
Die Augen sind Vorposten des Gehirns und das Fenster zur Welt. Der Sehsinn ist das wichtigste Sinnessystem des Menschen, er liefert bis zu 80 Prozent der Informationen über die Aussenwelt und beschäftigt ein Viertel des Gehirns. Die Netzhaut ist das Nervengeflecht im Augeninnern und damit ein Teil des Gehirns, das aus mehr als hundert verschiedenen Zelltypen besteht. 127 Millionen Lichtrezeptoren verwandeln das Licht, das sie durch die Linse erreicht, in elektrische Impulse und geben diese an den Sehnerv weiter. Mit dem Alter nehmen Augenerkrankungen zu, die häufigste Ursache für Erblindung ist die altersbedingte Makuladegeneration.
Auf diesem Weg hat Endogena Therapeutics etwa 20 aktive Moleküle ermittelt, weiterentwickelt und in einem ersten Schritt in vitro getestet. «Wir haben im Reagenzglas gezeigt, dass wir retinale Stammzellen aktivieren können», sagt Steger. Dieser Ansatz wurde erfolgreich an blinden Mäusen getestet. Steger: «Verschiedene Tests zeigen, dass die Mäuse wieder in der Lage waren zu sehen!»
Die klinische Studie an 14 erblindeten Patienten wird im nächsten Sommer abgeschlossen. Bis EA-2353 auf den Markt kommt, dauert es – sofern alles gut geht – noch mindestens drei Jahre. Weil die Methode den genetischen Defekt nicht aufhebt, muss die Substanz, die in den Augapfel injiziert wird, regelmässig wieder angewendet werden. Die Hoffnung sei gross: «Bei uns gehen täglich bis zu 20 Anfragen von Betroffenen ein», sagt Steger.
Forschung fürs Augenlicht
Endogena Therapeutics ist nicht das einzige Biotech-Unternehmen, das im Kampf ums Augenlicht forscht. Derzeit laufen auch andere klinische Studien im Bereich Retinitis pigmentosa. Einer, der die Forschungsbemühungen in diesem Feld beobachtet, ist Christian Grimm (60). Der Professor, Leiter Forschung Augenklinik an der Uni Zürich, sagt: «Die meisten arbeiten mit Gen- und Stammzellentherapien und Optogenetik.» Letztere beruht auf der Erkenntnis, dass selbst Bakterien und Algen mit spezialisierten Proteinen Licht wahrnehmen können. Ein Virus dient als «Taxi», um so den genetischen Bauplan für lichtempfindliche Proteine in die erkrankten Netzhautzellen zu schleusen. In einer Fallstudie konnte dadurch ein zuvor erblindeter Patient wieder Objekte erkennen, brauchte dazu jedoch zusätzlich eine extra dafür entwickelte Brille. «Für jemanden, der blind ist, bedeuten auch kleine Schritte eine Verbesserung», so Grimm.
Grundlage für die Endogena-Therapeutics-Methode bildet die Entdeckung des japanischen Wissenschaftlers Dr. Shinya Yamanaka, der im Jahre 2006 aufzeigte, wie er gezielt in Körperzellen ruhende Gene aktivieren konnte. Durch diese spezifische Rückprogrammierung konnten Körperzellen wieder in ihren embryonalen Zustand gebracht werden. Yamanaka erhielt dafür den Nobelpreis für Medizin im Jahre 2012. Inspiriert von der Zusammenarbeit mit Yamanaka, gründete Matthias Steger 2016 Endogena Therapeutics, ein biopharmazeutisches Unternehmen, das sich zum Ziel gesetzt hat, das Potenzial von endogenen Stammzellen (endogen = «im Körperinneren entstehend») zur Behandlung von Krankheiten zu nutzen.
Grundlage für die Endogena-Therapeutics-Methode bildet die Entdeckung des japanischen Wissenschaftlers Dr. Shinya Yamanaka, der im Jahre 2006 aufzeigte, wie er gezielt in Körperzellen ruhende Gene aktivieren konnte. Durch diese spezifische Rückprogrammierung konnten Körperzellen wieder in ihren embryonalen Zustand gebracht werden. Yamanaka erhielt dafür den Nobelpreis für Medizin im Jahre 2012. Inspiriert von der Zusammenarbeit mit Yamanaka, gründete Matthias Steger 2016 Endogena Therapeutics, ein biopharmazeutisches Unternehmen, das sich zum Ziel gesetzt hat, das Potenzial von endogenen Stammzellen (endogen = «im Körperinneren entstehend») zur Behandlung von Krankheiten zu nutzen.
Das biblische Wunder vom Blinden, der wieder sehen kann, hat die Wissenschaft noch nicht vollbracht. «Momentan gibt es viele Ansätze. Davon wird vieles nicht funktionieren, aber darunter wird eine Methode sein, die den Durchbruch schafft», ist Grimm überzeugt. Teams in vielen Laboren forschen an der Verwendung von körpereigenen Stammzellen, die dann als neuprogrammierte Zellen in das Auge zurückgebracht werden. Das sei aber ein langwieriger und aufwendiger Prozess: «Die Zellen müssen zuerst dem Patienten entnommen, dann reprogrammiert und ausdifferenziert werden. All das unter absolut sterilen Bedingungen», erklärt Grimm. Der Ansatz von Endogena hat für Grimm einen entscheidenden Vorteil: «Die Anwendung mittels einer Injektion ist einfach und nicht invasiv.» Allerdings warnt Grimm vor verfrühter Euphorie, auch im Interesse der Betroffenen.
Wegweisend für degenerative Krankheiten
Ob mit der Methode die Kinder aus Kanada ihr Augenlicht behalten könnten? Als Wissenschaftler will Matthias Steger keine Prognosen stellen, bevor er den Beweis erbringen kann: «Am erfolgreichsten dürfte die Behandlung tatsächlich bei jungen Patienten sein, also bevor die Degeneration der Netzhaut einsetzt.»
Funktioniert die Methode, ist sie wegweisend für die Behandlung weiterer degenerativer Krankheiten wie Demenz, Muskelschwäche oder Osteoporose. Bei Endogena Therapeutics ist bereits die nächste klinische Studie am Start, und zwar über die häufigste Erblindungsursache ab dem 50. Lebensjahr: die altersabhängige Makuladegeneration, kurz AMD genannt. Steger: «Die moderne Medizin hat viele Probleme gelöst, sodass wir älter werden. Aber nicht die Gebrechen, die damit verbunden sind.» Die endogene regenerative Medizin ist ein neuer Ansatz: «Dabei arbeiten wir mit dem Körper, nicht gegen ihn.»