Es gibt für die Ehe keine natürliche Dauer, nach deren Erreichen eine Trennung keinen Sinn mehr ergibt. Genauso wenig existiert ein Alter, jenseits dessen es nicht mehr wichtig wäre, sich um sein seelisches Wohlbefinden zu kümmern. Selbst wenn Ihnen nur noch wenige Lebensjahre bleiben, ist Ihr beabsichtigter Schritt gerechtfertigt. Denn einsamer und unglücklicher als an der Seite eines Menschen, in dessen Nähe Sie sich offenbar seit längerem unwohl fühlen, werden Sie bestimmt nicht werden. Im Gegenteil.
Wir pflegen jedoch sowohl gegenüber der Trennung wie auch gegenüber dem Alleinsein eine strikt negative Haltung: Ersteres betrachten wir als Desaster, Letzteres als Tortur und als persönliches Scheitern. Dass sich bei einem Beziehungsende jedoch um einen kräftespendenden Befreiungsschlag handeln kann, der uns in einen Raum katapultiert, wo wir uns all den Dingen und Menschen widmen können, die uns erfreuen, schliessen wir aus. Dabei entpuppt sich jede Trennung früher oder später als genau dies. Vorausgesetzt, man lässt sich nicht komplett gehen und badet nur noch im Selbstmitleid.
Natürlich ist eine Trennung immer ein rabiater, schmerzhafter, deprimierender und verunsichernder Schritt ins Ungewisse, der oft mit grossem Aufwand verbunden ist – und in Ihrem Alter vermutlich auch schlicht absurd, wenn nicht sogar unmöglich anmutet. Dennoch sollten Sie Ihre Bedürfnisse ernst nehmen und Ihren Wunsch nach einem Leben frei von Leid und Stress, in dem Ihre Partnerin einen anderen Platz hat (man braucht ja nicht gleich zu Todfeinden zu werden), würdigen und wahr werden lassen. Am Ende werden Sie zurückblicken und sich darüber freuen, dass Ihnen noch viel Neues, Lehrreiches und Erfreuliches widerfahren ist. Seien Sie es sich wert!
Der Zürcher Schriftsteller Thomas Meyer beobachtet seine Mitmenschen seit nunmehr 41 Jahren. Das ist denen nicht immer recht. Haben auch Sie Fragen an ihn? magazin@sonntagsblick.ch, Betreff: «Meyer»
Der Zürcher Schriftsteller Thomas Meyer beobachtet seine Mitmenschen seit nunmehr 41 Jahren. Das ist denen nicht immer recht. Haben auch Sie Fragen an ihn? magazin@sonntagsblick.ch, Betreff: «Meyer»