André* (28) steht in einer trendy Bar und schüttet ein Bier nach dem anderen in sich hinein. Mit dem Bier überspielt der gut aussehende André seine Nervosität. Er ist immer nervös, sobald ihm eine Frau gegenübersteht: «Ich habe Angst zu versagen. Darum klappt es auch im Bett nicht. Ausser ich bin betrunken, dann kann ich mich entspannen.» Dass er ein Sex-Problem hat, würde er einer Frau niemals gestehen: «Ich habe Panik, dass ich dann nicht mehr geliebt werde.»
André hat ein bis zwei Mal pro Jahr einen One-Night-Stand. Dass er dabei betrunken ist, ist klar. Auch, dass ihn die Frauen aufreissen müssen und nicht umgekehrt. Mit Freunden spricht er nicht über sein Problem. Kein Wunder: Keinen Sex zu haben gilt in unserer Gesellschaft als Tabu. Alle haben Sex, immer und überall. Laut Durex, dem grössten Kondomhersteller der Welt, hat jeder Schweizer 103 Mal pro Jahr Sex.
«Dieses Bild, das massgeblich von der Werbung und den Medien geprägt wird, scheint mir aber nicht zu stimmen», widerspricht Buchautorin Renate Wichers der landläufigen Meinung. «Es gibt viel mehr Menschen, die keinen Sex haben, als allgemein angenommen wird.»
Wichers hat in ihrem neuen Buch 35 Frauen und Männer zu deren zum Teil bereits jahrelangem sexlosen Leben befragt, darunter übrigens auch eine ganze Reihe junger Leute. Zu Renate Wichers Erstaunen sei es gar nicht schwierig gewesen, all diese Menschen zu finden, die offen über ihre abstinente Situation reden. «Ich hatte auf meine diversen Zeitungsanzeigen eine unglaublich grosse Resonanz», sagt Wichers zu BLICK.
22 der geführten Gespräche hat die Autorin schliesslich zu Geschichten verarbeitet. Und obwohl es darunter Einzelne gebe, die Sexualität tatsächlich nicht mehr als Priorität ihres Lebens betrachten, hat Wichers ihre Interviewpartner nicht wirklich glücklich erlebt. «Einige sind sogar ziemlich einsam», erzählt sie. «Teilweise schämen sie sich auch, weil sie ihre Situation als ein persönliches Versagen empfinden.» Die Gespräche mit den Frauen und Männern haben Wichers alle sehr berührt; vor allem, weil die meisten niemanden haben, dem sie sich hätten anvertrauen können.
Mit Asexualität habe ihr Buch aber nichts zu tun, stellt Renate Wichers klar. «Die 22 Menschen haben zwar keinen Sex, lehnen ihn aber nicht grundsätzlich ab. Asexuelle hingegen scheinen gar kein Verlangen nach Sex zu haben.» Einige der Leute, die sie interviewt hat, würden schon ganz gern mit jemandem schlafen, sagt Wichers. «Doch ihre Lebensumstände haben dazu geführt, dass dem nicht so ist.»
André hat sich sein Leben ohne Sex eingerichtet. Seinen Trieb hat er deswegen aber nicht verloren. «Man ist ja auch ein Mensch und hat mal sexuelle Bedürfnisse. Wenn man es denn mal so nötig hat – selbst ist der Mann.»
*Vollständiger Name der Redaktion bekannt
Neues Buch: «Nie mehr Sex – Leben ohne Liebe?» von Renate Wichers, Schwarzkopf Verlag, Fr. 18.10, ISBN 3-89602-674-7