Das Leben einer Milchkuh ist simpel. Sie lebt, solange sie leistet. Milch geben oder Hamburger werden. Das sind ihre Optionen. Sandra lebt. Und das ist erstaunlich. Denn sie tut das schon so lange wie wenige Milchkühe in diesem Land.
Als sie vor 16 Jahren zur Welt kam, ahnte niemand, was das für eine Kuh ist. Eine richtige Superkuh. 170'000 Liter Milch flossen bis heute durch ihren Euter. Das sind 1133 Badewannen prall gefüllt mit Milch. Gefeiert wird unter Bauern schon bei einer 100'000er-Kuh. Denn eine Kuh, die 100'000 Liter Milch gibt, das gibt es nicht alle Tage. Sandra aber legt da locker nochmals 466 Badewannen drauf.
Die Schweizer Durchschnitts-Kuh steigt mit sechs Jahren in einen Transporter, trampelt in den Schlachthof, Bolzenschuss, Schnitt durch die Halsschlagader. Fertig.
Ein Milchbauer mag seine Kühe. Keine Frage. Aber am Ende des Tages muss die Rechnung stimmen. Sinkt die Milchleistung, steigt die Chance auf den Bolzenschuss. Krankheit oder schlechte Furchtbarkeit lassen den Milchfluss versiegen. Sandra war nie krank, wurde immer wieder Mutter: Neun Töchter hat sie zur Welt gebracht und sechs Muni. Dreimal Zwillingsgeburten.
Eine alte Milchkuh freut nicht nur den Bauern. Sie freut auch die Beamten. Das Bundesamt für Landwirtschaft hat Ende 2019 bekannt gegeben, dass in der neuen Agrarpolitik 2022 alte Kühe subventioniert werden sollen. Um Tierliebe geht es da nicht. Sondern ums Klima. Im Magen von Kühen wie Sandra entsteht beim Wiederkäuen Methan. Furzt oder rülpst die Kuh, gelangt es in die Luft. 30-mal klimaschädlicher soll es sein als CO2. Und weil es Hinweise darauf gibt, dass ältere Kühe weniger Methan ausstossen als jüngere, will der Bund, dass Milchkühe länger leben. Das Ziel wäre eine um zwei Jahre gesteigerte Lebenserwartung, also acht Jahre.
Sandra ist mit ihren 16 Jahren weit drüber. Was ist ihr Geheimnis?
Ihre Besitzer Alfred (65) und Trudi (58) Rüssli aus Wetzikon ZH sagen: «So eine Kuh wie Sandra, das ist etwas Einmaliges.» Und auch: «Sie ist wie ein Familienmitglied.» Die Enkel Reto (6), Fabian (9) und Roman (11) finden Sandra «die netteste Kuh».
Sandras Geheimnis ist eine Mischung aus Zucht, Futter und Haltung.
Zucht: Alfred Rüssli ist ein Züchter, ein Meisterzüchter sogar. Seine Leidenschaft seit mehr als 30 Jahren ist es, die perfekten Stiere für seine Kühe zu finden. Bei der Wahl gehört viel Erfahrung dazu. «Und Glück», sagt Rüssli. Seine Herde gibt ihm recht. Aktuell haben bereits 24 Kühe im Stall die 100'000 Milchmarke geknackt. Und es werden jedes Jahr mehr.
Futter: Vor hundert Jahren frass eine Kuh Gras und gab acht Liter Milch pro Tag. So viel wie ein Kälbchen soff. Heute schaffen es Kühe wie Sandra auf bis zu 60 Liter täglich. Von Gras allein leben sie längst nicht mehr. Das würde nicht reichen, weil ihr gezüchteter Körper die hohe Milchleistung trotzdem bringen würde – die Energie dafür aber aus dem eigenen Körper nähme. Die Kuh wäre so bald ausgezehrt. Damit eine Kuh wie Sandra also gesund und leistungsfähig bleibt, bekommt sie Grassilage, Maissilage, Zuckerrübenschnitzel, Mineralstoffe und Kraftfutter.
Haltung: Sandra ist nicht nur die leistungsstärkste noch lebende Kuh der Rasse Holstein, sondern lebt auch im wohl modernsten Stall des Landes. Statt dass Trudi Rüssli morgens um drei die Milchmaschine an den Euter jeder Kuh hängen muss (und abends nochmals), gehen Sandra und ihre 170 Kolleginnen seit einem halben Jahr zum Melkroboter, wenn der Euter drückt. Der setzt die Schläuche vollautomatisch an die Zitzen. Ist die Milch draussen, darf die Kuh auf die Weide. Im neuen Freilaufstall mit viel frischer Luft gibt es auch einen Roboter, der mistet, und einer, der den Kühen das Futter schön drapiert. Auch die Kratzbürste rotiert ständig, falls es am Kuhrücken juckt. Rüsslis bleibt so mehr Zeit für die Überwachung ihrer Herde. Das wiederum wirkt sich auch auf die Gesundheit ihrer Tiere aus.
Das Leben eines Milchbauers ist simpel. Er überlebt, solange der Preis für die Milch seine Ausgaben übersteigt. Ist das nicht mehr der Fall, steigt er meist auf Fleischwirtschaft um.
Sandra darf nun das Leben geniessen
Jahrzehntelange geschickte Zucht, einen perfekten Futter-Mix für die Kühe und ein moderner Stall sind die besten Voraussetzungen, damit sich die Milchwirtschaft auf dem Hof von Rüsslis auch künftig lohnt. Sohn Fredi arbeitet bereits mit und wird den Milchbetrieb irgendwann ganz übernehmen.
Der Gedanke, dass Kuh Sandra einmal nicht mehr da ist, tut den Enkelkindern von Rüsslis «richtig weh». Zum Schlachthof fahren muss Sandra aber nie. Sie darf im Stall einschlafen. Oder wird im Stall eingeschläfert, falls sie krank wird. Bis es so weit ist, soll sie ein feudales Leben haben. Nicht im grossen Laufstall leben, sondern im Bereich, wo die anderen Kühe ihre Rinder zur Welt bringen. Da gibt es noch mehr Bewegungsfreiheit und viel Stroh am Boden. Rüssli sagt: «Sandra hat uns so viel gegeben. Jetzt können wir ihr damit auch etwas zurückgeben.»
«Die Kühe waren unser Leben»
Wertschätzung. Das wollen Rüsslis der Kuh geben. Und obwohl die strenge Arbeit sie sichtbar zufrieden gemacht hat, nagt es manchmal an ihnen – die mangelnde Wertschätzung für ihre Arbeit in der Bevölkerung. «Wir sind schuld am Klimawandel, an der Gewässerverschmutzung. An allem.» Dabei arbeiteten sie hart. Auch am Wochenende, wenn alle anderen frei haben. In diesen Zeiten zeige sich doch auch, dass eine produktive Landwirtschaft zentral ist für die Versorgung der Schweiz.
«Die Kühe – das war unser Leben», sagen beide. Und auch wenn sie dank Melkrobotern nun das erste Mal überhaupt gemeinsam in die Ferien fahren könnten, wollen sie das nicht. Zwei Sessel stehen im Obergeschoss des Stalls. Sitzen sie dort, haben sie alle Milchkühe im Blick – «die schönste Aussicht!»