Herr Dobrić, Sie haben einen Film über Organspende gemacht und ein Buch geschrieben. Warum haben Sie so viel Herzblut investiert?
Zoran Dobrić: Einerseits wird der persönliche Tod in der westlichen Welt als Super-GAU betrachtet, mit dem sich zu Lebzeiten niemand beschäftigen will. Andererseits fragte ich Kollegen, was sie über Organspende wissen. Ich war überrascht: Viele wissen nichts. Einige wussten, dass sie in Österreich automatisch Spender sind, aber nicht, dass der Körper bis zur Organentnahme am Leben erhalten wird, damit die Organe nicht verderben. Da schliesst sich der Kreis. Das Thema interessiert uns nicht, weil keiner sich mit dem Tod auseinandersetzen will.
Haben Sie heute noch offene Fragen?
Ja, der Hirntod beschäftigt mich nach wie vor. Von all den Fachpersonen konnte mir niemand genau erklären, ab wann das Gehirn eines Hirntoten tatsächlich tot ist. Diese Definition ist so zentral, weil ein Mensch erst dann für eine Organspende infrage kommt.
Sie waren bei einer Hirntod-Diagnose dabei. Wie läuft das ab?
Unter anderem wird gemessen, ob es im Gehirn noch Aktivitäten gibt. Was mich dabei irritierte: Die Linie des Elektroenzephalogramms (EEG) hatte keine sogenannte Nulllinie, sondern jede der 20 an Kopf und Nacken des Patienten angesteckten Elektroden zeigte Aktivitäten auf. Die Linie hatte also Zacken.
Er wurde 1960 in Smederevo (ehemaliges Jugoslawien, heute Serbien) geboren. 1988 zog er nach Wien. Seit 1991 arbeitet er als Fernsehjournalist für den ORF. Zum Thema Organspende und Transplantation drehte er einen Dokumentarfilm und schrieb das Buch «Ein Stück Leben», herausgegeben 2021 vom Residenz-Verlag. Dobrić erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Er arbeitet ehrenamtlich als Sterbebegleiter und lebt in Wien.
Er wurde 1960 in Smederevo (ehemaliges Jugoslawien, heute Serbien) geboren. 1988 zog er nach Wien. Seit 1991 arbeitet er als Fernsehjournalist für den ORF. Zum Thema Organspende und Transplantation drehte er einen Dokumentarfilm und schrieb das Buch «Ein Stück Leben», herausgegeben 2021 vom Residenz-Verlag. Dobrić erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Er arbeitet ehrenamtlich als Sterbebegleiter und lebt in Wien.
Der Hirntod wird dennoch als exaktestes Todeskriterium gesehen.
Der Begriff Hirntod stammt aus den 80er-Jahren und wurde eingeführt, damit die gespendeten Organe auf grosse Distanzen transferiert werden und dadurch wesentlich mehr Transplantationen stattfinden können. Denn: Die Organe werden geschädigt, sobald sie keinen Sauerstoff haben. Dabei wissen wir nicht, ob der Mensch definitiv tot ist.
Ab wann ist ein Mensch für Sie tot?
Ein Hirntoter ist kein Toter, sondern ein Sterbender. Er ist nicht mehr zu retten. Aber kurz bevor ihm bei einer Operation die Organe entnommen werden, ist er ein Lebender, der künstlich beatmet wird. Er sieht aus, als würde er schlafen. Seine Haut ist warm, sie hat eine Farbe wie die Ihre und meine. Die Verwesung hat noch nicht angefangen. Wenn wir an ein Leben nach dem Tod glauben, ist das eine absolute Störung der Trennung des Geistes oder der Seele vom Körper.
Man muss sich verabschieden, wenn der Angehörige noch an der Maschine angeschlossen ist. Also atmet er, und sein Herz schlägt. Das stelle ich mir schwer vor. Warum darf man die Menschen im Nachhinein nicht mehr sehen?
Weil die Leiche schlimm aussehen kann. Es wird vieles entnommen. Auch die Hornhaut im Auge. Der Körper wird vom Schambein bis zum Hals aufgeschnitten und nur noch grob wieder zugenäht.
Dennoch: Eine Verabschiedung wäre wichtig. Gemäss Ihren Worten ist der Mensch bei der Verabschiedung ja noch sterbend.
Das stimmt. Das hat mir eine Nonne am eindrücklichsten erklärt. Ihre 31-jährige Schwester verunfallte und lag hirntot im Spital. Die Familie diskutierte die ganze Nacht, ob die Organe entnommen werden dürfen. Sie sagte mir: «Ich hielt ihre warme Hand, sah ihr rötliches Gesicht, meine Schwester schlief.» Sie konnte sie nicht mit einer Toten in Verbindung bringen. So erging es auch dem Rest der Familie. Die ganze Nacht wurde diskutiert.
Und?
Die Nonne argumentierte mit Nächstenliebe. Die Organe wurden gespendet. Ein Bruder spricht deswegen heute – mehr als 15 Jahre später – immer noch nicht mit ihr. Aber zum Thema Verabschiedung: Die fünfjährige Tochter wollte sich von der Mutter verabschieden. Aber sie durfte nicht, weil der Sarg zugelötet war. Das kleine Kind weinte bitterlich. Das hat das schlechte Gewissen bei der Nonne ausgelöst, das sie bis heute mit sich trägt.
Auf den Angehörigen lastet ein enormer Druck. Bei der erweiterten Widerspruchslösung, über die auch die Schweiz am 15. Mai abstimmt, werden die Angehörigen in jedem Fall beigezogen.
Ich bin dafür, die Angehörigen da komplett rauszulassen. Der Druck ist enorm: Sie müssen in sehr kurzer Zeit und voller Trauer so eine grosse Entscheidung treffen.
Wenn Angehörige unsicher sind, entscheiden sie sich häufig gegen eine Organspende. So ist die Spenderate viel tiefer als die Spendebereitschaft, die man aus Umfragen in der Schweiz kennt.
Deswegen ist es ja so wichtig, dass sich jeder zu Lebzeiten mit dem Thema befasst und entscheidet. Dafür dürfen wir nicht zu feige oder zu faul sein.
Es ärgert Sie, dass die Leute zu wenig Bescheid wissen?
Absolut. Als in Österreich 2012 die Widerspruchsregelung eingeführt wurde, gab es überhaupt keine Diskussionen. Österreich hat das versäumt. Weil es so einfacher ist, an all die Organe ranzukommen, wenn alle automatisch als Spender gelten. Anders in Deutschland. Dort diskutierte man die letzten zwei Jahre. Gesundheitsminister Jens Spahn wollte unbedingt die Widerspruchslösung. Er kam nicht durch.
In Deutschland gilt als einzigem europäischem Land die Entscheidungslösung. Sie ist eine Abwandlung der Zustimmungslösung, bei der Bürger regelmässig mit Infos versorgt werden sollen, um eine Entscheidung treffen zu können. Dafür spricht sich in der Schweiz auch die Ethikkommission aus. Es stärke das Vertrauen in die Organspende und bewirke, dass mehr Organe gespendet würden.
Für diese Lösung bin ich auch. Ich bin absolut dafür, dass wir Organe spenden. Aber dagegen, wenn die Leute nicht wissen, was sie tun.
Haben Sie sich in Österreich im Widerspruchsregister eintragen lassen?
Ich wollte. Allein für meine Recherche. Aber ich hatte Mühe, das Formular überhaupt zu finden – und das als Deutschsprachiger und als Journalist! Als ich es ausfüllte und abschicken wollte, hiess es, ich müsse es ausdrucken und persönlich in Wien vorbeibringen.
Für Ihre Recherche waren Sie auch bei Organentnahmen dabei. Wie war das für Sie?
Ich hatte keine Mühe. Aber das ist sicherlich keine Situation für normale Menschen. Wenn Organe entnommen werden, muss der ganze Körper gekühlt werden, damit man die Verwesung der Organe verlangsamt. So wird er mit Kühlflüssigkeiten durchgewaschen. Es fliessen viele Liter Blut.
Trotzdem schreiben Sie im Vorwort Ihres Buches, dass Sie mehrmals emotional überfordert gewesen seien. Ein Beispiel, bitte?
Als ich sehr kurzfristig die Möglichkeit bekam, bei einer Hirntod-Diagnose dabei zu sein, um einen potenziellen Organspender zu filmen, hatte ich als Journalist grosse Freude. Dann wurde mir bewusst, über was ich mich da gerade freue. Ich ging auf die Toilette und weinte wie ein kleines Kind.
Ihre Freude war ambivalent.
Ja. Denn genau das ist der grosse Konflikt der Organtransplantation, den die Gesellschaft tragen muss: Auf der einen Seite freuen sich Menschen, die ein Organ bekommen, auf der anderen Seite trauern jene, die ihren Angehörigen verloren haben.
Wann waren Sie noch überfordert?
Das war bei einer Organentnahme, die die ganze Nacht dauerte. Als die Ärzte die grosse Öffnung vom Hals bis zum Unterbauch zugenäht hatten, packten sie den Körper in etliche Tücher, legten ihn auf den Boden und verliessen den OP-Raum. Zurück blieb der Körper. Diesem Menschen hat man die Organe entnommen – die an Menschen gehen, die sie dringend brauchen, was grossartig ist –, aber er liegt hier zugeschnürt, und niemand weiss, wie vielen Menschen er geholfen hat. Nicht mal seine Familie. Das tat mir weh.
Ein Protagonist, der ein Spenderherz bekommen hat, sowie andere in Ihrem Dokumentarfilm sagen, dass sie sich keine Gedanken über die Spender machen. Das irritiert. Wie sehen Sie das?
Das ist eine wichtige Frage. Denn: Die wichtigste Arbeit bei Organempfängern haben die Psychologen. Ein Patient, der ein Organ braucht, wird über Monate psychologisch auf die Transplantation vorbereitet. Das Ziel: Sie sollen die Spende als Geschenk annehmen und nicht fragen: War der Spender jung? War es eine Frau? Und keine Schuldgefühle haben. Das erzählen Psychologen so, das funktioniert aber natürlich nicht immer.
Am 15. Mai stimmt die Schweiz über eine Neuregelung der Organspende ab: die Widerspruchslösung. Wer nicht explizit zu Lebzeiten Nein sagt zur Organspende und sich in einem Register einträgt, soll als Spender gelten, sofern die Angehörigen nicht das Veto einlegen. Bundesrat und Parlament erhoffen sich davon mehr Organspenden. Denn die Nachfrage nach Organen ist viel grösser als das Angebot. Diese Regelung ist in den meisten Ländern Westeuropas verbreitet. Bisher gilt hierzulande die Zustimmungslösung: Organe dürfen grundsätzlich nur entnommen werden, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten zugestimmt hat. Zum Beispiel mit einer Patientenverfügung. Liegen keine Dokumente vor, werden die nächsten Angehörigen angefragt, wobei sie den «mutmasslichen Willen» der Verstorbenen berücksichtigen müssen.
Am 15. Mai stimmt die Schweiz über eine Neuregelung der Organspende ab: die Widerspruchslösung. Wer nicht explizit zu Lebzeiten Nein sagt zur Organspende und sich in einem Register einträgt, soll als Spender gelten, sofern die Angehörigen nicht das Veto einlegen. Bundesrat und Parlament erhoffen sich davon mehr Organspenden. Denn die Nachfrage nach Organen ist viel grösser als das Angebot. Diese Regelung ist in den meisten Ländern Westeuropas verbreitet. Bisher gilt hierzulande die Zustimmungslösung: Organe dürfen grundsätzlich nur entnommen werden, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten zugestimmt hat. Zum Beispiel mit einer Patientenverfügung. Liegen keine Dokumente vor, werden die nächsten Angehörigen angefragt, wobei sie den «mutmasslichen Willen» der Verstorbenen berücksichtigen müssen.