Hier werden Seile noch traditionell auf der Reeperbahn gefertigt
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Seltene Berufe: Seiler:Hier entstehen Seile noch auf der Reeperbahn

Vom Aussterben bedrohte Berufe: Seiler
Hier werden Seile noch traditionell auf der Reeperbahn gefertigt

In der Serie «Vom Aussterben bedrohte Berufe» porträtieren wir von BLICK-Leserinnen und -Lesern ausgewählte Berufe, die es in der modernen Zeit schwer haben. Heute an der Reihe: Martin Benz und seine Seilerei in Winterthur.
Publiziert: 20.09.2020 um 12:30 Uhr
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Aktualisiert: 20.09.2020 um 13:16 Uhr
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Zwischen eingestaubten Bildern und Maschinen hängen, wohin man auch blickt, Seile in allen Variationen.
Foto: Blick / Daniel Kellenberger
Johanna Beli

Inmitten von Mehrfamilienhäusern steht ein altes, unscheinbares Holzhäuschen. Beim Betreten riecht es nach altem Holz, überall hängen Seile und Stricke von den Wänden und unbekannte, eingestaubte Maschinen füllen eine fast 100 Meter lange Bahn.

Im Eingangsbereich läuft geschäftig telefonierend ein Mann umher: Martin Benz (49) ist Seiler und betreibt seit 20 Jahren voller Überzeugung die Seilerei Kislig in Winterthur.

Die Herstellung von Seilen geht weit zurück, läuft heute jedoch hauptsächlich in grossen Seilereien industriell und maschinell ab. Doch einige wenige Menschen haben sich der traditionellen Fertigung von Seilen angenommen und bedienen so eine Nische.

So auch Martin Benz. Seit vielen Jahren erfüllt er in seiner Seilerei die individuellsten Wünsche der Kunden und stellt Seile, Stricke, Netze und Ähnliches her.

Hier werden seit 140 Jahren Seile hergestellt

Die Anfertigung von Seilen ist ein uraltes Handwerk. Das vermutlich älteste Seil fand man bei Ausgrabungen in Ägypten – um die 3300 Jahre ist es alt. Damals schon ein wichtiges Hilfsmittel für Schifffahrt, Bergbau oder Landwirtschaft, kommen Seile auch heute in unzähligen Bereichen zum Einsatz.

Martin Benz produziert sie auf traditionelle Art und Weise. Zwischen Fotos von der Seiler-Familie Kislig aus längst vergangenen Zeiten steht er also heute. «Die Seilerei Kislig ist ein Familienbetrieb», beginnt er. Das Haus sei, so wie es jetzt stehe, schon 140 Jahre alt.

Durch Zufall habe Martin Benz «den alten Kislig», wie er ihn nennt, kennengelernt und diesen in seiner Seilerei besucht. «Ich wusste direkt, dass ich hierhin gehöre», erzählt er strahlend. Er hat damals also eine dreijährige Ausbildung bei ihm gemacht und habe bereits kurz danach den Familienbetrieb übernommen.

Von Anfang an wusste Martin Benz: «Hier gehöre ich hin!»
Foto: Blick/ Daniel Kellenberger

Die Nische in der Nische

Grossbetriebe beschränken sich fast ausschliesslich auf Massenanfertigungen. Unter einer gewissen Anzahl oder vielen Hunderten Metern würde dort gar nicht produziert, so der Seiler. «Wenn jemand also Spezialaufträge hat, dann kommt er zu mir.»

Ob für Hängebrücken, Spielplätze, Bühnentechnik oder die Bauindustrie. Ob lang oder kurz, dick oder dünn, fein oder robust – ob Stahl, Kunststoff oder Naturfaser: Der 49-jährige Seiler kann dank jahrelanger Erfahrung fast jeden Wunsch erfüllen. Diese reichen vom Seil, das 300 Grad aushalten muss, über Hundespielzeug bis hin zu Uhrenantriebsseilen.

Auch handgeknüpfte Netze entstehen in der Seilerei Kislig.
Foto: Blick/ Daniel Kellenberger

Die Wünsche seiner Kunden könnten unterschiedlicher kaum sein. «Wenn man so will, bediene ich die Nische in der Nische», sagt Martin Benz lachend. Dazu zählen etwa auch Fesseln und Bondage-Seile – es mag einem im ersten Moment nicht in den Sinn kommen, aber auch diese müssen irgendwo hergestellt werden. «Ich erfülle auch solche Wünsche», beginnt Martin Benz schmunzelnd. Anfangs, so erzählt er, wären Pärchen mit solchen Anliegen etwas schüchtern in seinen Laden gekommen. «Mittlerweile ist das aber ganz normal und keiner schämt sich mehr.»

Ein Seil entsteht

Wenn der 49-Jährige ein neues Seil fertigt, dann geht das dank jahrelanger Routine blitzschnell. Im maritimen Wortschatz heisst das Herstellen eines Seils «Reepen». Der Ort, wo das passiert, nennt man Reeperbahn. Deshalb heisst auch das bekannte Vergnügungs- und Rotlichtviertel in Hamburg so, dort entstanden früher tatsächlich Seile.

Die zuvor zu sogenannten «Kardeelen» gedrehten Garne, die einer Kordel gleichen, spannt Martin Benz in eine Reepmaschine. Diese besteht aus einer Art Schlitten und der Getriebeeinheit.

Je nach Dicke des späteren Seils wird an die Ösen der Maschine die gleiche Menge Fäden angebunden. Dann beginnt der Seiler die Kurbel der Reepmaschine gegen den Uhrzeigersinn zu drehen. Sofort beginnen sich die Kardeele zu verdrillen, geraten unter Spannung und ziehen somit am Schlitten.

Das Seil ist fertig. Jetzt müsse das offene Ende nur noch mit Klebeband abgeklebt werden. «Damit es nicht wieder aufgeht.» So könne es nun gelagert werden, bis es abgeholt wird. «Das hier ist jetzt ein klassischer Strick für einen Dachdecker», erzählt Martin Benz und hält das fertige Seil in die Luft.

«Ich bin wie ein Ping-Pong-Ball»

In der Seilerei Kislig gibt es immer etwas zu tun und so steht Martin Benz selten still. «Ich bin wie ein Ping-Pong-Ball», sagt er lachend, während er zu einer der Maschinen läuft und sie ausschaltet. Die Geräte, welche dafür sorgen, dass die Fäden auf Spulen gewickelt werden, funktionieren grösstenteils automatisch. Die Spulen wechseln, sobald sie voll sind, muss er jedoch von Hand. «Sowas ist in einem Grossbetrieb natürlich automatisiert», so der Seiler.

Ist eine Spule voll, so muss Martin Benz diese noch von Hand wechseln.
Foto: Blick/ Daniel Kellenberger

In der alten Seilerei werden nicht nur Seile produziert. Die vielen verschiedenen Aufträge, die er bekommt, würden den Beruf so abwechslungsreich machen, erzählt er. «Wenn das Telefon klingelt, dann höre ich mir eben an, was die Kunden wieder für lustige Ideen haben.»

Und wenn er nicht gerade neue Aufträge annehme, dann kümmere er sich um den Online-Shop und seine eigenen Ideen. «Ich mache zum Beispiel Fussmatten aus alten Feuerwehrseilen», erzählt er und präsentiert eine aus Seilen gewebte, robuste Matte.

Hart im Nehmen

Keine Sekunde kommt der Verdacht auf, Martin Benz könnte irgendetwas an seinem Beruf nicht mögen. Schwielen an den Händen bekomme er schon lange nicht mehr und den Staub und die Spinnennetze überall, bemerke er kaum noch. «Das ist alles Einstellungssache», beginnt der Seiler und grinst. «Ich habe längst aufgehört, die Spinnweben wegzumachen. Die sind schneller wieder da, als man gucken kann!»

Der Staub und die Spinnennetze stören den 49-Jährigen schon lange nicht mehr.
Foto: Blick/ Daniel Kellenberger

Etwas anstrengend wird die Arbeit nur manchmal in den Wintermonaten. Das alte Holzhäuschen ist 140 Jahre alt und schlecht isoliert. «Dann ist es hier bitterkalt», sagt Benz. Es falle ihm manchmal schon schwer, in dieser Zeit morgens aufzustehen und sich in die Werkstatt zu begeben.

Aber auch die klirrende Kälte, die regelrecht in alle Knochen zieht, scheint Martin Benz schlussendlich kaum etwas auszumachen. «Meist habe ich mehrere Schichten an, um mich warmzuhalten – wenn man friert, ist man selbst schuld.»

So können selbst die vermeintlich harten Seiten seines Berufs dem Seiler nichts anhaben. «Das hier ist eben mein absoluter Traumberuf», sagt er lächelnd.

«Es braucht Lehrlinge, die für die Seilerei brennen!»

Dass der Beruf vom Aussterben bedroht ist, möchte Martin Benz nicht ganz einsehen. «Seile und Netze werden schliesslich immer mehr gebraucht.» Doch die Automatisierung schreite natürlich voran und so würden Maschinen zukünftig grosse Teile der Arbeit übernehmen.

Einen Lehrling hat Benz dieses Jahr leider nicht. «Es war einfach niemand dabei, der wirklich gepasst hat», erzählt der 49-Jährige. Es sei wichtig, mit grossem Interesse an diesen Beruf heranzugehen. «Es braucht jemanden, der wirklich für die Seilerei brennt!»

Klar ist allerdings, dass der Beruf von Martin Benz ein besonderer ist. Spezielle Wünschen von Kunden, die ein Grossbetrieb nicht umsetzen würde, erfüllt der Seiler mit Leidenschaft und Liebe zum Detail.

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