Du wirst nie mehr laufen können.» Dieser Satz hat sich in sein Hirn gefressen. Ausgesprochen am 14. Februar 1996, von einem Arzt im Paraplegiker Zentrum Nottwil. Ueli Steinmann hebt die Stimme und macht eine abwehrende Handbewegung: «Das war der blanke Horror.»
Heute, fast 20 Jahre später, sitzt der Projektleiter Abteilung Forschung und Entwicklung bei Trisa im luzernischen Triengen im Rollstuhl am Sitzungstisch. Ein grosser Mann mit freundlichem, offenem Gesicht, der gerne lacht und voller Begeisterung über Zahnbürsten und den Stand der Forschung referiert. Gestern erst, verkündet er und strahlt über das ganze Gesicht, ist sein erstes Enkelkind zur Welt gekommen. Ein Mädchen.
Ein Versuch wert
Dass dieses, sein zweites Leben, heute so aussieht, hat er zwei Dingen zu verdanken: seinem Arbeitgeber Trisa und seinem anpackendem Wesen. Denn am 14. Februar 1996 sah seine Zukunft schwarz aus, rabenschwarz. Der damals 32-jährige Bauschreiner war an diesem Mittwoch vor dem schmutzigen Donnerstag allein auf einem Baugerüst. Als aktiver Guggenmusiker hatte er sich auf den Beginn der Fasnacht gefreut. Und irgendwann war er gefallen – «warum auch immer». Als er sich auf dem Rücken liegend am Boden wieder fand, wusste er sofort, «dass etwas ganz schlecht war, denn ich konnte die Beine nicht bewegen».
Trümmerbruch im Lendenwirbelbereich L1 lautete die Diagnose, nachdem er mit dem Helikopter ins Spital gebracht worden war. Seinen angestammten Beruf, so viel war klar, würde er nicht mehr ausüben können. Nächtelang grübelte der dreifache Familienvater darüber, wie es weitergehen sollte. Eines Tages stand Besuch an seinem Bett: das Bruderpaar Adrian und Philippe Pfenninger, die junge Generation der Eignerfamilie von Trisa. Adrian, mit dem Ueli Steinmann in die Schule gegangen war, sagte: «Mach dir keine Sorgen, bei uns kannst du anfangen, sobald du wieder draussen bist.» Und so geschah es.
Eine zweite Lehre
Nach fünf Monaten Reha im Paraplegiker Zentrum Nottwil begann sein neues Leben. Der gestandene Schreiner machte eine zweite Lehre, «zusammen mit den 16-Jährigen» als Maschinenzeichner. Krempelte danach die Ärmel erneut hoch und absolvierte neben der Arbeit noch eine Zusatzausbildung als Kunststoff-Techniker in Zürich. Und – «weil ich definitiv ein manueller Mensch bin und alleine vor dem Computer fast kaputt ging» anschliessend noch eine Zusatzausbildung als Leiter Projektmanagement an der Fachholschule für Wirtschaft.
Heute ist er rundum happy mit seinem Beruf. Ist sich aber bewusst, dass er grosses Glück hatte, «dank der IV gab es keine finanziellen Probleme, und ich bekam stets die volle Unterstützung meines Arbeitsgebers», sagt der lebhafte Innerschweizer.
So viel Glück wie Steinmann ist nicht allen vergönnt. Das Thema der Ein- und Wiedereingliederung von Menschen mit Handicap ist den meisten Schweizer Unternehmen nicht wirklich geläufig. «Weniger aus Desinteresse als vielmehr des fehlenden Bezugs wegen», wie Roland A. Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, betont. «Wer im persönlichen Umfeld jemanden mit einer Beeinträchtigung hat, der ist auch als Arbeitgeber sensibilisiert für das Thema.» Eben so, wie es bei Trisa passiert ist. Berührungsängste hat man dort keine, drei Rollstuhlfahrer sind im Moment angestellt, eine Selbstverständlichkeit in einem Betrieb, der dank Ueli Steinmann fast zu 100 Prozent rollstuhlgängig ist. «Aber wir haben keine feste Quote, bei uns zählt die Qualifikation der Bewerber, und wenn es eine sitzende Tätigkeit ist, ist der Rollstuhl für uns kein Thema», sagt denn auch Othmar Wüest, der bei Trisa die Unternehmenskommunikation leitet.
Unlängst hat auch Bundesrat Johann Schneider-Ammann auf das Potenzial von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufmerksam gemacht. Dieses dürfe nicht brachliegen gelassen werden. Und es scheint, als ob solche Appelle fruchten: Haben die IV-Stellen 2008 rund 6000 Menschen mit Behinderung an Unternehmen vermittelt, waren es im letzten Jahr bereits gegen 20'000.
«Sich gebraucht fühlen, als arbeitendes Mitglied der Gesellschaft zu funktionieren, ist mit einer Behinderung das Allerwichtigste», meint Ueli Steinmann. Betont aber auch, dass das Engagement beidseitig sein muss: «Wenn du willst, wird dir geholfen – aber man muss sich auch engagieren. Niemand möchte einen Angestellten, mit dem man nur Theater hat.»