Sie steht im Négligé vor dem Spiegel und pinselt mit geschürzten Lippen Make-up auf ihre Wangen. Das sieht bei Jennifer Coolidge (61) zum Schreien aus. Dann nimmt sie einen Schluck Champagner. Sie muss die Flüssigkeit aus dem Glas schlürfen, um den Lippenstift nicht zu verschmieren. Es ist die Einleitung zur ersten Sexszene der zweiten Staffel von «The White Lotus», die gerade auf Sky angelaufen ist. Sie spielt auf Sizilien und handelt – wie bereits Teil 1 – von den Nöten der Gäste und Mitarbeiter eines Luxusresorts. Jennifer Coolidge spielt zum zweiten Mal die Millionenerbin Tanya McQuoid.
Dass sie dafür bekannt ist, für einen Gag alles zu geben, beweist Coolidge, wenn sie sich zu Beginn der zweiten Staffel von ihrem Ehemann förmlich besteigen lässt und dabei quietscht wie ein Meerschweinchen. Aber eigentlich reicht es schon, ihr vor dem Spiegel zuzusehen. Die grimassenhafte Mimik, das Geschnaube und Geseufze, mit der sie diese depressive Superreiche verkörpert, brachte Coolidge dieses Jahr einen Emmy als beste Nebendarstellerin ein. Dabei hat es sehr lange Zeit überhaupt nicht gut ausgesehen für ihre Karriere.
Eine Mischung aus Fremdscham und erotischer Faszination
Den Durchbruch hatte Coolidge 1999 mit ihrer Rolle als Stifler's Mom (Stiflers Mutter) in «American Pie». Die Kult-Komödie handelt von einer Gruppe Jugendlicher, die vor Abschluss der Highschool versuchen, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Einer von ihnen, der 18-jährige Finch, lässt sich mit der Mutter seines Kumpels Stifler ein. Coolidge, die damals Ende dreissig war, spielte diese Femme fatale mit einer Inbrunst, die beim Kinopublikum eine Mischung aus Fremdscham und erotischer Faszination auslöste.
Im Film bezeichnet ein Typ sie als Milf (Mother I'd like to fuck). Den Begriff gabs schon vor «American Pie». Danach setzte er sich als Bezeichnung für ein Porno-Genre durch. Aus heutiger Sicht ist das despektierlich. Und fast niemand würde im Kino noch über eine dralle Blondine im mittleren Alter lachen, die sich mit einem bleichen 18-Jährigen einlässt.
Auf die Rolle des Dummchens abonniert
Der hohe Trash-Faktor ihrer Debüts führte dazu, dass Coolidge Mühe hatte, aus dem Schatten von Stifler's Mom herauszutreten. Sie hat einen Abschluss der renommierten American Academy of Dramatic Arts in New York und war Mitglied der kalifornischen Comedy-Truppe The Groundlings, bei der sich Stars wie Melissa McCarthy (52) und Will Ferrell (55) ihre Sporen verdienten. Trotzdem war Coolidge auf die Rolle des Dummerchens abonniert. 2003 spielte sie in «Legally Blonde 2» an der Seite von Reese Witherspoon (46) zum zweiten Mal eine unbeholfene Nagelstudio-Mitarbeiterin. Ihre vorerst letzte grössere Rolle.
Zehn Jahre sei sie an Castings gegangen, ohne einen ernst zu nehmenden Job zu ergattern, sagte sie in einem Interview mit dem «Variety». Dass diese lange Durststrecke mit «The White Lotus» endete, ist dem Regisseur der Serie, Mike White (52), zu verdanken. Der ehemalige Schauspieler ist Fan von Coolidge, seit er in der gefloppten Komödie «Gentlemen Broncos» ihren Liebhaber gespielt hatte. Die Rolle von Tanya McQuoid schrieb er ihr auf den Leib.
Sie spielt jetzt ein Stück weit sich selbst
Es dürfte daran liegen, dass Coolidge so überzeugend spielt. Denn wenn McQuoid sich in der Serie mit Tabletten über den Tod ihrer Mutter hinwegtröstet, die gleichzeitig ihre beste Freundin war, hat das Parallelen zu Coolidges Leben. Ihre Mutter starb an Krebs, als die Tochter ihre ersten Erfolge als Schauspielerin feierte. Diese sprach in Interviews schon offen über ihre frühere Kokainsucht.
Als das Angebot von White hereinkam – das war mitten in der Pandemie –, sei sie depressiv gewesen und habe sich überreden lassen müssen, überhaupt mitzumachen, sagte Coolidge zu «Variety». Jetzt spielt sie – abgesehen von ihrem Serien-Ehemann – als einziges Besetzungsmitglied der ersten Staffel auch im zweiten Teil von «The White Lotus» mit. Auch sonst läuft es rund: Gerade war sie als narzisstische Maklerin in der erfolgreichen Gruselserie «The Watcher» auf Netflix zu sehen.
Heute kann Coolidge über die Ablehnung, die sie jahrelang erfahren hat, lachen. Wenn man gewohnt sei, zu verlieren, habe man irgendwann keine Angst mehr davor. «Das gibt ein Gefühl von Freiheit.»