Handgeschriebenes statt WhatsApp
Brieffreundschaften sind noch nicht ausgestorben

Wer glaubt, Brieffreundschaften sind in Zeiten von WhatsApp und Co. längst Geschichte, irrt. Wer nach Schreibenden sucht, findet sie. Das SonntagsBlick Magazin hat drei Frauen mit besonderen Geschichten getroffen.
Publiziert: 04.01.2020 um 14:13 Uhr
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Susanne Munz (42) liebt Briefe. So sehr, dass sie mit 57 Personen aus der ganzen Welt regelmässig handgeschriebene Post austauscht.
Foto: Thomas Meier
Livia Fischer

Goethe schrieb Briefe an seinen Freund Schiller. Von Hand, versteht sich. Würde er heute leben, würde er das auch tun? Oder Schiller schnell ein WhatsApp senden? Oder eine Sprachnotiz aufnehmen? Schliesslich ersetzen im Beruf Mails die Briefe, in der Freizeit sind es die sozialen Medien.

Ausgestorben sind Brieffreundschaften aber nicht. Silvio und Fiona zum Beispiel haben in einem Kindermagazin eine Annonce aufgegeben: «Suche Brieffreundschaft!» Silvio mag die Tiere auf seinem Bauernhof und hasst Gurken. Fiona zeichnet gerne Koalabären, früh aufstehen findet sie blöd. Silvio ist neun, Fiona elf. Sie hoffen, dass es da draussen ein Kind mit ähnlichen Interessen gibt.

Aber es sind längst nicht nur Kinder. Es gibt auch heute noch Erwachsene, die Brieffreundschaften pflegen. Mehrere Tausend sogar. Die Schreibenden tummeln sich auf dafür vorgesehenen Internetseiten oder in Facebookgruppen wie «Brieffreundschaften gesucht». Einen Prototyp gibt es nicht. Meistens sind es Frauen im Alter zwischen 20 und 70 Jahren. Schreibwillige Männer sind rar.

Durch die digitale zur physischen Kommunikation

Finden tun sich die heutigen Brieffreunde also online. Was ein bisschen die Magie zerstört. Denn: Wer zuerst über Facebook in Kontakt tritt, sieht meist schon ein Foto des anderen. Das ist untypisch für den Anfang einer klassischen Brieffreundschaft, nimmt vielleicht auch den Reiz.

Den Reiz, mit einer zunächst völlig fremden Person zu kommunizieren. Ohne zu wissen, wie sie aussieht. Ohne zu wissen, wie ihre Stimme klingt. Ohne Vorurteile. Völlig unbefangen. Der einzige Hinweis auf die Persönlichkeit: die Handschrift. «Auch darin sieht man den Charakter. Hat jemand eine ‹Sauklaue›, so kommt er anders rüber als eine Person mit einer sorgfältigen Schrift», sagt Alfred Messerli, Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich.

Mit Treffen und Telefonaten die Tradition brechen

Der Professor selber kennt Brieffreundschaften aus der Sekundarschule. Damals wurde der heute 66-Jährige dazu verdonnert, sich mit einem fremden welschen Mädchen auszutauschen – um Französisch zu lernen. «Das war so unecht. Für mich war es der Horror, solche Briefe zu schreiben. Ich hatte gar keine Motivation.» Seinen Schulgschpänli sei es gleich ergangen.

Traditionell beinhalte eine Brieffreundschaft wirklich nur das gegenseitige Briefeschreiben, sagt Messerli. Er vergleicht es mit einem Vertrag und spricht in diesem Zusammenhang von einem «Breakthrough», einem Durchbruch. Damit meint er, dass der Vertrag durch den Wunsch, einander zu treffen oder mal zu telefonieren, gebrochen wird.

Vom Massenmedium zum kostbaren Gut

Die Entwicklung von Brieffreundschaften ist so gut wie unerforscht. «Es gibt fast keine Quellen», weiss Messerli. Sicher ist aber: Früher hatten Briefe noch eine ganz andere Funktion. Sie waren eines der wenigen Kommunikationsmittel. Ein Blick zurück ins frühe 19. Jahrhundert zeigt, dass damals auch die Unterschicht beginnt, Briefe zu schreiben.

Feldpost wird immer wichtiger. Soldaten schreiben an ihre Frauen – und umgekehrt. Briefe schweissen eine Familie zusammen. Auch wenn ein Kind für einige Zeit ins Ausland geht. Da wird ein Brief nicht nur an eine Person geschrieben, sondern gleich an mehrere. Laut Vorlesen ist erlaubt, weiterreichen erwünscht.

Heute werden handgeschriebene Nachrichten privat behandelt. Ob Grusskarten zum Geburtstag, die besten Wünsche fürs neue Jahr oder Liebesbotschaften. Aber einfach so ein Brief? Das ist selten. Doch genau das macht Briefe so besonders. Sie werden also nicht mehr aus einer Notwendigkeit heraus, sondern zur Unterhaltung oder als besondere Geste geschrieben.

Briefeschreiben erfordert Zeit und Konzentration

Das SonntagsBlick Magazin hat drei Frauen getroffen, die Brieffreundschaften pflegen. Susanne Munz zum Beispiel. Ihre ehrlichsten Worte stammen aus ihrer Feder, nicht aus ihrem Mund. Im persönlichen Umfeld hat sie nur wenige Freunde, ihre Briefbekanntschaften sind aber Ersatz genug. Susanne Keller hingegen wollte Kontakte aus Übersee knüpfen, Nadia Buess eine Fremdsprache lernen.

Die Motivation zum Schreiben mag unterschiedlich sein, eines haben die Frauen aber gemeinsam. Sie nehmen sich Zeit. Setzen sich hin, nehmen Stift und Papier in die Hand, ordnen ihre Gedanken und schreiben sie nieder. Eine Löschtaste gibt es nicht – ausser vielleicht Tippex oder Tintenkiller.

Auch Emojis gibt es keine, der Inhalt muss die Gefühle transportieren. Und wenn der Brief erst einmal fertig ist, muss der Umschlag frankiert und zur Post gebracht werden. Bis er beim Empfänger ankommt, kann es Wochen, gar Monate dauern. Noch mehr kostbare Zeit verstreicht. Wer Brieffreundschaften pflegt, übt sich in Geduld. Geduld, die sich zumindest für diese drei Frauen mehr als auszahlt.

Drei Frauen mit Brieffreundschaften

Wenn Brieffreunde zu Familie werden

Tagsüber arbeitet Susanne Munz als Servicekraft in einem Hotel. Abends widmet sie sich ihrem liebsten Hobby: dem Briefeschreiben. Die 42-Jährige aus Muhen AG verbringt täglich zwei bis vier Stunden damit, ihren Brieffreunden aus aller Welt zu antworten. Munz ist ein Sprachtalent – sie verfasst Zeilen auf Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Englisch, Französisch und Italienisch. In den nächsten Tagen erhalten die Belgierin Mélanie, Umer von den Fidschi-Inseln und Ana Maria aus Samoa Post.

Insgesamt sind es 57 Personen, mit denen sich Munz mindestens einmal im Monat austauscht. Vier davon hat Munz bereits getroffen. Gefunden hat sie ihre Brieffreunde via Facebook in Gruppen zum Thema «Brieffreunde». Sie sind zwischen 25 und 65 Jahre alt, sieben davon sind Männer. Viele haben die gleichen Interessen wie Munz, einige sind aber grundverschieden. Manchmal zu verschieden.

«Wenn ich jemandem nichts zu schreiben habe und von seiner Seite nur sinnloses Gelaber kommt, beende ich die Freundschaft», erzählt Munz. Auch wenn jemand nur halbpatzig dabei ist – sprich zu selten oder etwa nur eine halbe Seite schreibt –, macht sie Schluss. Manche nehmen es locker, andere reagieren mit Unverständnis und Wut.

Ihre Familie kann die Leidenschaft nur bedingt nachvollziehen – zu viel Stress, zu grosser Aufwand, denken sie. Für Munz ist es aber mehr als nur Schreiben: «Hätte ich meine Brieffreunde nicht, würde etwas fehlen.» Sie erzählt, dass sie in ihrem Umfeld keine engen Freunde hat, denen sie alles anvertrauen kann. Es fällt ihr leichter, ihre Sorgen auf Papier zu bringen, als sie laut auszusprechen. Auch von ihrem Brieffreund aus Mexiko, der kürzlich verstorben ist, erzählt sie lieber in einem Mail als persönlich. «Er war mein Seelenverwandter und hat eine tiefe Leere hinterlassen. Ich bin immer noch traurig», steht in der Nachricht. Einer Bekanntschaft ist sie dafür speziell nahe: Sie wurde von der Freundin auf dem Papier zum Mitglied der Familie. Die Brieffreundin, die Munz schon seit ihrer Jugend kennt, ist das Gotti ihrer Tochter.

Brieffreundschaft in der zweiten Generation

Susanne Keller hält einen Brief ihrer japanischen Freundin Sachiko Kuriki in der Hand. Es ist der obligatorische Neujahrsbrief – eine Tradition, die seit 28 Jahren anhält. 1991 lernten sich die beiden bei einem Sprachaufenthalt in Edinburgh kennen. Sie verbringen nur wenige Stunden miteinander, sind sich aber so sympathisch, dass sie in Kontakt bleiben wollen.

Sieben Jahre und Dutzende Briefe später reist Keller nach Tokio. Kurikis Familie empfängt die Zürcherin mit offenen Armen. «Japaner sind nicht nur gastfreundlich und grosszügig, sondern auch sehr lustig», schwärmt die heute 48-Jährige. Das Zusammenleben mit den Einheimischen ermöglicht ihr den privaten Einblick in ein fremdes Land, dessen Kultur und Leute.

Für Keller der grösste Vorteil ihrer Brieffreundschaft. Der Inhalt der Briefe bleibt nämlich oberflächlich. Sie teilen sich grosse Veränderungen rund um den Job, die Familie oder Beziehungen mit. Im Neujahrsbrief erzählt Keller von der bunten Blumenwiese beim Münsterhof im Frühling. Vom Schwimmen in der Limmat im Sommer. Von ihrem Besuch bei einem Weinbauer im Herbst. Vom Schlitteln auf dem Uetliberg im Winter. Intime Erlebnisse und Gedanken schreibt die Grafikerin nicht nieder: «Schliesslich ist Sachiko kein Kummerkasten.» Und trotzdem: Die langjährige Treue bedeutet Keller viel.

Die zweite Bekanntschaft, die Keller in ihrem Sprachaufenthalt in Schottland macht, ist Natsuko Yamamoto, Kurikis Reisegschpänli. Auch mit ihr pflegt sie bis zuletzt eine Brieffreundschaft – 2018 stirbt Yamamoto aber an Krebs. Keller ist betroffen, trauert um das langjährige Ritual und die damit verbundenen Erinnerungen. Umso mehr freut sie sich, als sich Monate später Yamamotos Tochter bei ihr meldet. Die junge Japanerin will weiterführen, was ihre Mutter angefangen hat.

Freundinnen aus zwei verschiedenen Welten

Früh morgens macht sich Nadia Buess auf den Weg zur Arbeit. Die 29-Jährige ist Pöstlerin. Täglich fallen Tausende Briefe in ihre Hände – häufig auch ihre eigenen. Buess ist Fan von handgeschriebenen Nachrichten. Sie schreibt in die USA, nach Kanada und Uganda. Letzteres ist eine ganz besondere Freundschaft. Die Empfängerin: Lisa Ssemugabi (34).

Vor zwei Jahren lernen sich die beiden auf einer Webseite, um internationale Kontakte zu knüpfen, kennen. Das Ziel: eine Fremdsprache lernen. In den ersten Briefen stellen sie sich einander mit Namen, Alter und Wohnort vor, erzählen von ihren Hobbys, ihrem Beruf und der Familie. Dann wird der Inhalt immer persönlicher.

Erste Fotos werden mitgeschickt, manchmal sogar kleine Geschenke. «Mittlerweile ist Lisa meine zweitbeste Freundin», erzählt Buess. Tabus gibts keine, sie vertrauen sich alles an. Ssemugabis Briefe bewahrt Buess in einer Guetslidose auf.

Vor genau einem Jahr reist Buess nach Uganda. Sie kann es kaum erwarten, ihre Brieffreundin endlich kennenzulernen. Ihr Umfeld ist besorgt. Immer wieder wird Buess ungläubig gefragt, ob sie wirklich alleine nach Afrika gehe. «Ich hatte keine Angst vor der Reise. Mein Vertrauen zu Lisa war gross», sagt die Bernerin. Bereut hat sie es keine Sekunde – im Gegenteil. Die Harmonie zwischen den beiden stimmt; schon schmieden sie Pläne für Ssemugabis Besuch in der Schweiz.

Elf Monate später steigt Ssemugabi ins Flugzeug. Enddestination: Buess' Zuhause in Suberg im bernischen Seeland. Die beiden Frauen verbringen Weihnachten zusammen und feiern gemeinsam ins neue Jahr. Buess freut sich, der Uganderin ihr Land und die Schweizer Kultur näherzubringen. Mittlerweile sind den Freundinnen die Briefe zu wenig, sie möchten sich öfters austauschen. Deswegen schreiben sie sich zusätzlich täglich Nachrichten auf Whatsapp.

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