Punkt 14.40 Uhr am letzten Montag in Riehen BS: Zwei starke Männer von der Fondation Beyeler hieven die leichtbekleidete Maja des spanischen Malers Francisco de Goya (1746–1828) an die graue Ostwand des hintersten Ausstellungsraums im Museum. Je eine Hand am vergoldeten Seitenrahmen, eine unten, dann noch einen kurzen Blick dahinter, ob alles sitzt – fertig. Ein Akt von wenigen Sekunden. Wenn Bilder-Hängen immer so einfach ginge!
Dabei ist «La maja vestida» (Die bekleidete Maja) kein Leichtgewicht: Das lebensgrosse Ölporträt, das Goya in den Jahren 1800 bis 1807 malte, ist samt Rahmen und Glasabdeckung 81 Kilogramm schwer. Und es ist mit der Inventarnummer 741 eines der Prunkstücke des Museo Nacional del Prado in der spanischen Hauptstadt Madrid. Doch nun hängt das Meisterwerk bis zum 23. Januar 2022 in der Fondation Beyeler – eine Sensation!
Museumsdirektor Sam Keller (55) ist jedenfalls ganz aus dem Häuschen: «Es ist wohl das berühmteste Werk, das je in der Fondation hing.» Und das, obwohl es schon häufig populäre Bilder namhafter Maler in den Kunsttempel an der Baselstrasse 77 in Riehen schafften – zu erwähnen sind da nur die Ausstellungen zu Ferdinand Hodler, Claude Monet oder Edward Hopper in den letzten zehn Jahren.
400'000 sahen die Maja 1939 in Genf
«Goya», die heute beginnende Schau mit dem schlanken und schlichten Titel ist in vielerlei Hinsicht beachtlich und gewichtig. Zum einen zeigte das selbstdeklarierte «Museum für moderne und zeitgenössische Kunst» noch nie eine Einzelausstellung zu einem derart alten Meister. Zum andern sind unter den rund 70 Gemälden sowie 100 Zeichnungen und Druckgrafiken noch kaum je ausgestellte Werke aus Privatsammlungen und sehr selten ausgeliehene aus grossen Museen der ganzen Welt zu sehen.
Wie «La maja vestida» aus dem Prado: Sperrige 188 Zentimeter breit und 94,7 Zentimeter hoch verlässt die ewig jung aussehende über 200-jährige Dame höchst selten das Land. So reiste sie 1995 nach New York ins Metropolitan Museum of Art, 1971 nach Tokio ins National Museum of Western Art oder 1963 nach London in die Royal Academy of Arts – und 1939 nach Genf ins Musée d'Art et d'Histoire.
Das kam so: In den späten 1930er-Jahren retten die republikanischen Madrilenen die Kunstschätze des Prado vor den Bombenangriffen der Faschisten unter General Franco (1892–1975) und bringen 174 Gemälde und Skulpturen über verschlungene Wege per Lastwagen und Bahn zum Hauptsitz des Völkerbunds (Vorgängerorganisation der Uno) nach Genf. Dort sollen sie in Sicherheit den Spanischen Bürgerkrieg überdauern.
Genf lässt sich die Chance nicht entgehen, veranstaltet vom 1. Juni bis 31. August 1939 eine «Exposition des chefs-d'oeuvre du Musée du Prado». 400'000 Besucherinnen und Besucher nutzen die Gelegenheit und bestaunen Werke von Rubens, Velázquez, El Greco und Goya – darunter «La maja vestida» und «La maja desnuda» (die nackte Maja), welche der spanische Künstler bereits in den Jahren 1795 bis 1800 malte. Danach kehrt die prächtige Fracht wieder nach Madrid zurück.
«Eine verhüllte Enthüllung»
Und nun kommt erstmals wieder eine Maja in die Schweiz. «Wir konnten grosszügigerweise auswählen, welches Werk wir zeigen wollen», sagt Fondation-Beyeler-Direktor Keller und fügt süffisant an: «Wir entscheiden uns immer für die Kunst.» Ausstellungskurator Martin Schwander sagt erklärend: «Die bekleidete Version ist malerisch die reichere, die interessantere – und auch erotischer.»
Eine Feststellung, die Werner Hofmann (1928–2013), der österreichische Kunsthistoriker und frühere Museumsdirektor der Hamburger Kunsthalle, stützt: «Das Dreieck ihrer Schamzone ist allein schon eine verhüllte Enthüllung», schreibt er in seinem Standardwerk «Goya – vom Himmel durch die Welt zur Hölle». «Es bietet einen Blickfang, auf den der Maler bei der Nackten diskret verzichtet.»
Beide Gemälde gibt der spanische Staatsmann Manuel de Godoy (1767–1851) bei Goya in Auftrag. Da zu dieser Zeit Aktbilder von der mächtigen katholischen Landeskirche verboten sind, fertigt der Maler später die bekleidete Version an, die Godoy allen Betrachtern seiner Sammlung zeigen kann. Die nackte Maja präsentiert der Kunstliebhaber nur ausgewählten Gästen, die keinen Anstoss an der Freizügigkeit nehmen. Die beiden Gemälde sind also nicht dazu gedacht, dass man sie nebeneinander sieht.
«Einen weiblichen Akt ohne mythologische Rechtfertigung zu malen, war im Land des Heiligen Offiziums ein riskantes Unterfangen», schreibt Hofmann. Goya bekommt das zu spüren, als er 1815 die beiden 1808 bei Godoys Sturz beschlagnahmten Majas vor dem Inquisitionsgericht gegen den Vorwurf der Obszönität verteidigen muss. «Seine Argumente sind nicht überliefert, aber da man ihn unbehelligt liess, muss er sich geschickt verteidigt haben», so Hofmann.
Maja ist die Geliebte des spanischen Ministers
Doch wer sind die Majas, bei denen es sich offensichtlich um ein und dieselbe Person handeln muss? Es ist gewiss keine Frau mit diesem Vornamen, denn mit Maja (ausgesprochen «Macha») ist eine typische Madrilenin gemeint. Wegen ihres malerischen Aussehens und ihrer anmutigen Haltung verewigt sie Goya auf einigen seiner frühen Werke: Majas, die mit ihren Begleitern, den Majos, in den Parkanlagen Madrids herumstolzieren.
Doch die liegenden Majas sind augenscheinlich nicht irgendwelche Grossstadt-Frauen, sondern eine ganz bestimmte Person. Frühere Forschung ging davon aus, die Abgebildete sei die 13. Herzogin von Alba (1762–1802). Doch dann wäre sie gestorben, während Goya noch die bekleidete Maja malt. «Wir sehen hier die Geliebte von Godoy», sagt Ausstellungskurator Schwander und vertritt damit die heute gängige Vermutung unter Kunsthistorikerinnen und -historikern.
Pepita Tudó heisst die Geliebte und kommt 1779 in Cádiz zur Welt. Sie ist noch klein, als der Vater stirbt, und so zieht sie mit Mutter und Schwester nach Madrid ins Haus des Ministers von König Karl VI.: Manuel de Godoy. Obwohl er verheiratet und heimlicher Geliebter der Königin ist, bandelt er 1800 auch noch mit Pepita Tudó an. 1805 und 1807 gebärt sie ihm zwei Söhne, doch erst 1828 – nach dem Tod von Godoys Ehefrau – heiraten die beiden. Tudó stirbt 1869 in Madrid.
Goya beeinflusst Gegenwartskunst
Mit einem Lächeln und leicht geröteten Wangen schaut sie nun nach der überstandenen Reise aus Madrid das Museumspublikum in Riehen an. «Der Körper, straff und leicht nach vorne gewandt, wird in einer selbstbewussten Pose dargeboten», schreibt der deutsch-amerikanische Kunsthistoriker und Goya-Spezialist Fred Licht (1928–2019) in seiner Monografie «Goya – die Geburt der Moderne».
Tatsächlich ist Goyas Werk zukunftsweisend. «Über ihre tiefe Ausdruckskraft hinaus zählen die Majas zu den wenigen Gemälden von Goyas Hand, die aktiv an der Entwicklung der Malerei des 19. Jahrhunderts beteiligt waren», schreibt Licht. So ist das berühmte Gemälde «Olympia» (1863) des französischen Künstlers Edouard Manet (1832–1883) eine Reminiszenz an Goya: Manet liess sich zuvor Fotos der Majas in Originalgrösse zuschicken.
Doch der Einfluss Goyas weist bis in die Gegenwart. «Kein Maler, der von modernen Kunstschaffenden mehr als Referenz angegeben wird», sagt Keller von der Fondation Beyeler. Die Performancekunst der Serbin Marina Abramović (74) wäre ohne die selbstbewusste Darstellung der Maja ebensowenig denkbar wie die Nackt-Aktionen der Schweizer Konzeptkünstlerin Milo Moiré (38).
Insofern ist Goya in der Fondation Beyeler – dem Museum für moderne und zeitgenössische Kunst – bestens aufgehoben.
«Goya» bis zum 23. Januar 2022 in der Fondation Beyeler in Riehen BS; Tickets über fondationbeyeler.ch