Zeit für Gedanken über den Anfang und das Ende
2018 ist da – auf ein Neues!

Das Geschäft macht zu, der Film hat ein Happy End, und gestern war Schluss mit 2017. Doch was passiert, wenn man übers Ende hinausgeht? Ein Experiment.
Publiziert: 01.01.2018 um 16:44 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 23:55 Uhr
Daniel Arnet

Die S-Bahn fährt vom ­Zürcher Hauptbahnhof in den Hirschengrabentunnel. Durch die Lautsprecher folgt die Durchsage: «Nächster Halt: Stadelhofen. Endbahnhof. Wir bitten alle Reisenden auszusteigen und ver­abschieden uns von Ihnen.» Der Zug kommt wieder ans Tageslicht, stoppt, öffnet die Türen, entlässt die letzten Passagiere. Es ist 8.40 Uhr.

Die alten Römer nannten diesen Ort Finis terrae, weil für sie danach die Welt nicht mehr weiterging: Strasse zum Cabo de São Vicente in der Algarve (P).
Foto: Valeriano Di Domenico

Ich bleibe sitzen, will herausfinden, was nach dem Ende kommt. Die Türen schliessen wieder, der Bildschirm mit dem Fahrplan erlischt, die Lichter gehen aus. Durch das vordere Türfenster sehe ich die rote SBB-Lok. Sie ruckelt los, zieht die Wagen immer schneller in den Zürichbergtunnel. Schwarz um mich. Was folgt? Erlebe ich eine nie enden wollende Bahnfahrt wie in Friedrich Dürrenmatts Erzählung «Der Tunnel»?«

Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei», sagt der Volksmund flapsig. Doch die heutige Gesellschaft ist drauf und dran, das Ende ab­zuschaffen: Im Fernsehen gibt es seit den 90er-Jahren keinen Sendeschluss mehr; wegen eines Volksentscheids von 2013 dürfen zumindest Tankstellenshops rund um die Uhr geöffnet haben; Durchgangsbahnhöfe ersetzen zunehmend Kopfbahnhöfe mit ihren Prell­böcken am Ende der Gleise. Und im Silicon Valley tüfteln sie am ewigen Leben herum.

Wir bewegen uns immer mehr in einer Endlosschleife ohne Anfang, ohne Schluss. Kein Wunder, ist der Buddhismus mit seinem Radsymbol und der Idee des wiederkehrenden Lebens im Westen eine Trend­religion.

Hoffnung, dass noch etwas kommt

Endet diese Fahrt je ­wieder, oder wird hier Friedrich Dürrenmatts Erzählung «Der Tunnel» Wirklichkeit? Die Autobahn A 3 beim Walensee.
Foto: Valeriano Di Domenico

Usw., etc., usf. …: Auch in der ­Sprache finden sich Wendungen, welche die ununterbrochene Fortdauer zum Ausdruck bringen – ­damit können wir über das Ende ­hinaus denken. In der Mathematik kennt man die liegende Acht als Unendlichzeichen. Und die Astronomie entwickelt angesichts der Weite und Tiefe des Sternenhimmels die Vorstellung eines unend­lichen Weltraums – ein Ort, der ­gemäss Theologie und manchen philosophischen Konzeptionen Gott vorbehalten ist.

«Die Busse ist schlechthin Erhebung des Gemütes über alles Endliche, ein Aufgehen in Gott», schrieb der deutsche Mystiker Meister Eckhart (1260–1328) und entwarf mit diesem Gedanken eine Überwindung der Endlichkeit auf Erden. Aber es ist eben «bloss» eine gedankliche Überwindung. Jetzt geht es um das handfeste Einreissen ­aller Einschränkungen.

Dabei ist es historisch gesehen noch nicht lange her, dass die ­Menschen überall auf der Welt Endmarken sahen, hinter denen das Leben nicht mehr weiterging: Die Römer erachteten das Cabo de São Vi­cente im äussersten Südwesten Portugals als das Ende der Welt, lateinisch ­Finis terrae. Davon leitet sich der Name Finistère für den westlichsten Zipfel der französischen Bretagne ab.

So weit muss man gar nicht gehen: Uns Schweizern war schon früher das eigene Land Welt genug. Und so bezeichneten die alten Eidgenossen sowohl den Talkessel von Horbis bei Engelberg OW wie auch die Hochebene bei Magglingen BE, worauf ein Teil der Eidgenössischen Hochschule für Sport steht, als «End der Welt» – natürlich jeweils mit einer gleichnamigen Beiz für den letzten Umtrunk, wie es sich für die Schweiz gehört.

Diese – wenn oft auch nur sprachlich – festgelegten Begrenzungen schafften die Voraussetzung für Abenteuer. Sie zu überschreiten, war ein Tabubruch, brauchte Courage, zeugte von der Hoffnung, dass danach noch etwas kommt – wie ein Hidden Track auf einer CD.

Als der portugiesische Seefahrer Gil Eanes 1434 als Erster das Kap Bojador an der Küste der West­sahara umschiffte, war er gewarnt: 15 Kapitäne vor ihm hatten es nicht geschafft, weshalb der Ort auch Kap des Schreckens oder Kap ohne Wiederkehr hiess. Wer das dama­lige Ende der Welt überschreiten sollte, würde in ein kochendes Meer segeln, wo die Sonne alles ver­sengte und die Haut der Menschen schwarz färbte – so die Vorstellung. Eanes gilt seither als todesmutiger Wegbereiter der europäischen Seeroute nach Indien.

Erfolgreiche «Lange Nächte»

Heute rennt man fast überall ­offene Türen ein. Heute kann man höchstens noch als Basejumper über die Mürrenfluh hinaus ins Leere schreiten und sich in die Tiefe des Lauterbrunnentals bei Interlaken BE stürzen. Oder man bleibt – weniger mutig – an einem Endbahnhof im Zug sitzen und schaut, was passiert.

Auch wenn alle Schranken fallen, das Leben bleibt vorerst begrenzt: der Friedhof Sihlfeld in Zürich.
Foto: Valeriano Di Domenico

Die S-Bahn ist inzwischen wieder ans Tageslicht gekommen, rast an Dübendorf ZH vorbei und bremst in Schwerzenbach ZH ab. Eine ­Station? Nein, die Türen bleiben verschlossen, die Komposition setzt nach einer Weile kurz zurück und bleibt auf offenem Gleis stehen. Stille, manchmal knackt das Material der Verschalung – immerhin bleibt der Wagen geheizt. Es ist 9 Uhr. Und ich bin an einem Ort, an dem zu diesem Zeitpunkt niemand sein sollte.

Welchen Reiz solche letzten Zonen ennet einer roten Linie haben, zeigt der Publikumsandrang, den Veranstaltungen wie «Die lange Nacht der Museen», «Die lange Nacht der Hotelbar» oder «Die ­lange Nacht der Industrie» hervorrufen: Man darf über das Ende ­hinaus verhocken und ist zu einem Zeitpunkt in Räumen, die dann normalerweise verschlossen sind. Um die Jahrtausendwende in Berlin aufgekommen, haben sich die «Langen Nächte» schnell über den gesamten deutschsprachigen Raum ausgebreitet – in der Schweiz gibt es solche Angebote in Basel, Bern, Luzern oder Zürich.

Ausstellungsgegenstände zu Unzeiten anschauen zu dürfen, hat ­etwas Exklusives, gibt dem Anlass einen Thrill. Erscheinen sie unter einem anderen Licht, wirken sie ­anders auf einen? Fantasieanregend sind in diesem Zusammenhang ­sicher die «Night at the Museum»-Filme mit US-Komiker Ben Stiller (52), in denen sich die naturhistorischen Ausstellungsgegenstände nachts zu Leben erwecken.

«Museumsnächte gehören zu den wichtigsten und erfolgreichsten Marketingmassnahmen», sagt Catherine Schott, Generalsekretärin des Verbands der Museen der Schweiz (VMS). Man spreche damit ein anderes, neues Publikum an, denn «es wird das Erlebnis und Unterhaltung gesucht, nicht die vertiefte Auseinandersetzung».

Am heutigen Silvester bieten auch viele Restaurants und Bars eine lange Nacht an – ganz legal, denn es ist Freinacht. Doch an anderen Tagen setzen die kantonalen Gastgewerbegesetze dem Gast – noch – deutliche Grenzen. So lautet zum Beispiel Paragraf 39 in Zürich: «Mit Busse wird bestraft (…) c. wer sich als nicht beherbergter Gast während der Schliessungszeit in einem gastgewerblichen ­Betrieb aufhält.»

In Warenhäusern versucht man die Menschen abends auf die sanfte Tour loszuwerden. «Die Schliessung wird kurz vor Ladenschluss per Lautsprecher angekündigt», sagt Tais Hitomi Okai von Manor. «Die Kunden richten sich danach oder werden gegebenenfalls höflich von den Mitarbeitenden darauf aufmerksam gemacht.»

Dem Kundenbedürfnis nach verlängerten Öffnungszeiten trage man zudem im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten Rechnung: War noch vor 20 Jahren samstags um 16 Uhr Schluss, kann man ­heute bis 20 Uhr einkaufen. ­Andere Geschäfte haben den Ladenschluss noch weiter in die Nacht verschoben. Und am Morgen schliessen sie häufig früher auf.

Google spielt Gott

Sollten dereinst alle Schranken fallen und jegliche Örtlichkeit rund um die Uhr zugänglich sein, so bleibt doch noch etwas begrenzt: das eigene Leben. Diese Grenze lässt sich nicht bewusst überschreiten. Und wer sie zeitweise überschritten hat und darüber berichten kann, der hatte eine sogenannte Nahtod­erfahrung.

So wie Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan (55), der 1996 nach ­einer Überdosis Heroin einen Herzinfarkt erlitten hatte. In einem Inter­view sagte er: «Ich schwebte direkt unter der Decke und konnte genau beobachten, was unten passierte: Sanitäter rannten um meinen Körper herum und versuchten, mich zu retten.»

Den Schweizern war schon früher das eigene Land Welt genug. Hier der Julierpass.
Foto: Valeriano Di Domenico

Solche Anekdoten, in denen Menschen berichten, was nach dem Ende kommt, sammelt Stefan Nadile (37) von der Universität Bern im Rahmen seiner Doktorarbeit. Bereits mit 30 Personen hat er über ihre Nahtoderfahrungen gesprochen, und viele stimmen mit ­Gahans Schilderung überein. ­«Einige Personen, die ich interviewt habe, berichten von einer Schranke oder einer Grenze, die sie gesehen oder gespürt haben», sagt Nadile. «Sie wussten, wenn sie ­diese Grenze überschreiten würden, könnten sie nicht mehr zurück­kehren.» Und entsprechend nichts mehr berichten.

Auch diese Grenzerfahrung scheint uns Menschen längerfristig abhandenzukommen, denn Internetgigant Google will das Altern stoppen und den Tod überwinden. Dazu haben die beiden Firmengründer Larry Page (44) und Sergey Brin (44) vor vier Jahren ­eigens ­Calico aus der Taufe gehoben, die California Life Company. Denn sie sehen in den Genen nichts anderes als eine grosse Ansammlung von Daten. Und die Datenauswertung ist die Spezialität von Google.

Google spielt Gott. «Dass du nicht enden kannst, das macht dich gross», schrieb schon Johann Wolfgang von Goethe in seinem Gedicht «Unbegrenzt» von 1819. Darin ­findet sich aber auch der Vers: ­«Anfang und Ende immerfort dasselbe». Ein Leben ohne Schranke ist eben schnell einmal eintönig. ­Diese Vorstellung hat auch US-Regisseur Woody Allen (82) und warnt: «Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.»

Es ist 9.30 Uhr: Eine gefühlte Ewigkeit sitze ich nun schon in ­diesem leeren S-Bahn-Wagen auf dem Nebengleis in Schwerzenbach. Langeweile. Von Zeit zu Zeit rauscht draussen eine andere ­S-Bahn vorbei. 9.45 Uhr: Nun bewegt sich auch mein Zug zurück nach Dübendorf – auf Gleis 1. Dort bleibt er bis zum abendlichen Stossverkehr stehen. Erst um 16.21 Uhr steigen wieder Pendler im Bahnhof Stadelhofen in diesen Sonderzug ein, der sie wieder nach Hause bringt.

Fazit: Wenn ich heute über das Ende hinausgehen will, brauche ich viel Geduld, lande schliesslich auf einem Abstellgleis und werde irgendwann wieder in den Kreislauf eingefügt. Das ist das Endlos. Der letzte anarchische Akt, der mir bleibt, ist, bis Ende Januar ­weiterhin 2017 auf Briefköpfe zu schreiben – aber das mache ich unfrei­willig sowieso.

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