Er soll keine Schwäche zeigen. Risikobereit sein und möglichst viele Frauen ins Bett kriegen. Bier trinken, Fleisch mögen und sicher nie weinen. So das klassische, patriarchale Bild eines Mannes. Dieses wankt nun immer stärker. Erst kürzlich hat der grösste Psychologenverband es als offiziell schädlich erklärt. Gleichzeitig sorgt ein Werbespot des Rasierklingenherstellers Gillette für Furore, in dem Männer kleine Jungen davon abhalten, sich zu prügeln. Damit trifft die Werbung einen Nerv. Denn Rollenbilder setzen sich schon in der Kindheit fest, werden oft durch Eltern transportiert. Und viele Buben lernen schon sehr früh, was es heisst, ein Mann zu sein.
Herr Daum, das klassische Männerbild macht Männer laut amerikanischem Psychologenverband krank. Gilt das auch schon für Buben?
Moritz Daum: Es geht hier um generalisierte Erwartungen, in die man als Junge oder Mann hineingepresst wird. Diese Erwartungen müssen aber nicht bei jedem Einzelnen mit der eigenen Persönlichkeit übereinstimmen. Kinder sollten die Möglichkeit haben, ihre eigene Identität zu finden und nicht jene, die andere von ihnen erwarten.
Gibt es überhaupt Eigenschaften, die natürlich männlich sind?
Sowohl beim Menschen als auch bei nicht-menschlichen Primaten und Nagetieren neigen die Jungen eher zu Raufen und Toben als die Mädchen. Schimpansenjungen benutzen Stöcke eher als Waffe, die Mädchen wiegen sie eher im Arm. Es gibt also biologisch angelegte Präferenzen, aber es ist nicht so, dass alle Jungen auf die eine Art spielen und alle Mädchen auf eine andere Art. Hinzu kommt, dass es weder beim biologischen noch beim sozialen Geschlecht ein glasklares Entweder-oder gibt.
Wann beginnen Kinder zu merken, was «typisch männlich» und «typisch weiblich» ist?
Sehr früh. Etwa im Alter von zwei Jahren beginnen sie Geschlechter zu unterscheiden. Im Vorschulalter bevorzugen Kinder dann eher gleichgeschlechtliche Spielpartner und verknüpfen erste Attribute mit Geschlechtern, etwa dass Jungen mit Autos spielen und Mädchen mit Puppen.
Sind diese Präferenzen sozial beeinflusst?
Eltern und Verwandte haben gewisse Vorstellungen, wie Mann und Frau etwas macht. Das zeigt sich, wenn sie sagen «Jungen spielen nicht mit Puppen» oder indem die Jungen zum Geburtstag eben keine Puppe geschenkt bekommen. Da steckt aber oft keine böse Absicht dahinter.
Prof. Dr. Moritz Daum (46) ist Professor für Entwicklungspsychologie am Psychologischen Institut der Uni Zürich. Dort untersucht er unter anderem die kognitive Entwicklung im Kindesalter. Daum ist Deutscher, wurde aber in Baden AG geboren. Er studierte in Zürich Psychologie und habilitierte sich in Leipzig (D). 2018 trat er in der Vox-Dokumentation «Die wunderbare Welt der Kinder» als Experte auf. Daum ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern und einem Sohn. Seine Kinder erzieht er nicht bewusst geschlechtsneutral. Er versucht aber, sie zu Menschen grosszuziehen, die sich anderen gegenüber respektvoll verhalten, unabhängig von Geschlecht oder anderen Faktoren.
Prof. Dr. Moritz Daum (46) ist Professor für Entwicklungspsychologie am Psychologischen Institut der Uni Zürich. Dort untersucht er unter anderem die kognitive Entwicklung im Kindesalter. Daum ist Deutscher, wurde aber in Baden AG geboren. Er studierte in Zürich Psychologie und habilitierte sich in Leipzig (D). 2018 trat er in der Vox-Dokumentation «Die wunderbare Welt der Kinder» als Experte auf. Daum ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern und einem Sohn. Seine Kinder erzieht er nicht bewusst geschlechtsneutral. Er versucht aber, sie zu Menschen grosszuziehen, die sich anderen gegenüber respektvoll verhalten, unabhängig von Geschlecht oder anderen Faktoren.
Im neuen Gillette-Werbespot halten Männer einander von sexistischem Verhalten ab und schlichten Konflikte zwischen Buben. Sie zeigen sich also nett und hilfsbereit und stehen gegen Sexismus ein. Dafür haben die Macher des Werbespots einen Shitstorm kassiert, vor allem von Männern. Kritiker sagen etwa, so würden Buben die neuen Mädchen. Wie sehen Sie das?
Das transportiert wiederum einfach das Stereotyp, dass es sich als Junge nicht gehört, wie ein Mädchen zu sein. Die Aspekte sind ja keine per se weiblichen, sondern einfach sehr positive Eigenschaften, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Ohne Diskri-minierung und ohne Gewalt. Und das finde ich an sich nicht die schlechteste aller möglichen Lebenswelten.
Sind denn «typisch männliche» Eigenschaften generell schlecht?
Natürlich nicht, aber wenn ich einem schüchternen Jungen ständig sage, dass er mutiger sein muss, dann fängt er vielleicht an, Gefühle des Versagens zu entwickeln. Man muss einem mutigen, abenteuerlustigen Jungen jetzt auch nicht seine Abenteuerlust ausreden, die darf er ausleben, wie auch ein abenteuerlustiges Mädchen. Wenn es eben der eigene Wunsch ist, Abenteuer zu erleben.
Also dürfen Buben trotzdem noch raufen, im Dreck spielen und sich messen?
Ja, klar. Aber schon nur diese Frage transportiert das Stereotyp. Warum werden hier nur die Buben
genannt? Kinder sollen spielen, wie sie wollen, raufen und bäbele. Unabhängig von Geschlecht.
Was löst der Spruch «Sei ein Mann» bei einem Buben aus?
Üblicherweise wird damit wohl zum Ausdruck gebracht, dass ein Junge dem männlichen Stereotyp entsprechen soll, dass er tapfer sein soll, nicht weinen, seine Gefühle nicht zeigen und hart im Nehmen sein soll. «Sei ein Mann» kann auch verwendet werden, um die eigene Überforderung mit der Situation, in der sich das Kind befindet, zu kaschieren. Wenn es zum Beispiel gemobbt wird und man nicht weiss, wie reagieren. Aber warum soll ein Junge nicht weinen, wenn ihm etwas wehtut? Und warum sollen Mädchen nicht tapfer sein können? Man sollte auf die kindlichen Bedürfnisse eingehen, wie sie gerade sind. Und nicht, wie man als Erwachsener denkt, dass sie sein sollten. Statt zu sagen, «Sei ein Mann», wäre es vielleicht gut, das Kind einfach mal in den Arm zu nehmen.
Wie müsste sich ein Vater verhalten, der merkt, dass sein Sohn nicht das traditionelle Rollenbild eines Mannes übernimmt?
Den eigenen Sohn lieben, bedingungslos. Punkt. Eigentlich ganz einfach.
Aber das tun doch viele. Trotzdem sind Stereotype alltäglich.
Unterschiedliche Behandlung von Mädchen und Jungen geschieht oft ganz unbewusst. Mädchen werden häufiger zum Basteln oder Vorlesen animiert, Junges eher dazu, zu toben oder technische Spiele zu spielen. Und da zum Beispiel angenommen wird, dass Mädchen insgesamt mehr reden als Buben, wird bereits ganz früh mit einem weiblichen Säugling mehr gesprochen als mit einem männlichen. Natürlich sind dann Mädchen im Schnitt kommunikativer.
Wie kann man das verhindern?
Man sollte Stereotype, die man mit sich rumträgt, nicht unreflektiert weitergeben. Man kann sie auch mit den Kindern zusammen diskutieren und infrage stellen. Eine Studie aus Schweden hat die Geschlechtsstereotype von Kindern, die in einen geschlechtsneutralen Kindergarten gehen, mit denen von Kindern verglichen, die in einen normalen Kindergarten gehen. Die Unterschiede zeigten zum Beispiel, dass ein grösserer Anteil der Kinder in der geschlechtsneutralen Schule daran interessiert ist, mit unbekannten Kindern des jeweils anderen Geschlechts zu spielen.
Also würde eine geschlechts-neutrale Erziehung helfen, damit Buben und auch Mädchen sich freier entwickeln können?
Ja, geschlechtsneutrale Erziehung kann tatsächlich helfen, ganz langsam, Stereotype abzubauen. Dabei ist wichtig, dass diesen wenig bis gar kein Raum gegeben wird.
Man kann Kinder zwar gleichgeschlechtlich erziehen, aber spätestens im Kindergarten werden Buben, die sich dann vielleicht sensibler zeigen und nicht so gerne Fussball spielen, ja doch wieder zu Aussenseitern.
Wenn man als Eltern alleine ist auf weiter Flur, dann ist es natürlich schwer. Aber das heisst nicht, dass man es dann auch gleich bleiben lassen kann. Ganz im Gegenteil, auch die anderen Kinder kriegen ja mit, wie das eigene Kind sich verhält, und vielleicht färbt dann auch etwas ab. Je mehr Einzelne sich von Stereotypen und rigiden Erwartungen entfernen, desto eher wird die Gesellschaft als Ganzes in diese Richtung gehen.
Aber man muss doch auch an das Kind denken.
Am besten ist es, wenn man das Kind zu einer selbständigen und selbstbewussten kleinen Person erzieht, die vielleicht auch mal sagt, dass ihr egal ist, was die anderen denken. Je mehr Selbstbewusstsein und Unterstützung von zu Hause ein Kind hat, desto besser kann es mit solchen Situationen umgehen.
Kritiker sagen, dass geschlechtsneutrale Erziehung zu extrem sei, weil man den Kindern nicht erlaubt, sich selbst zu sein.
Klar, wenn die Erziehung zu rigide ist und gewisse geschlechtstypische Spielweisen komplett unterbunden werden, ist auch nichts gewonnen. Kinder sollen durchaus die Möglichkeit haben, unterschiedlichste Formen von männlichem und weiblichem Verhalten und Spielen kennenzulernen. Man nimmt den Kindern nichts weg, sondern gibt ihnen einen Pool an Vorbildern, aus dem sie sich die Elemente heraussuchen können, die sie selbst als passend empfinden.
Könnte geschlechtsneutrale Erziehung Sexismus, Übergriffe auf Frauen und die hohen Gewalt- und Suizidraten bei Männern verhindern?
Erziehung kann dazu führen, dass ich anderen Personen mit Respekt begegne, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, und das kann in der Folge zu einem respektvolleren Umgang und zu weniger Gewalt führen.
Das klassische Männerbild wird seit der MeToo-Bewegung immer stärker infrage gestellt. Denn das Stereotyp des starken und furchtlosen Mannes ist nicht nur mitverantwortlich für Sexismus und Machtgefälle. Sondern schadet auch den Männern selbst, indem es sie von Kindesbeinen an lehrt, Gefühle zu unterdrücken. Das widerspiegelt sich in Statistiken: Männer üben häufiger Gewalt aus, leiden eher an Depressionen und begehen häufiger Suizid. Deshalb wird das Stereotyp auch oft mit toxischer Männlichkeit umschrieben. Erst kürzlich erklärte der grösste Psychologenverband das klassische Männerbild als schädlich. Auch in der Öffentlichkeit wird es immer häufiger diskutiert. Im letzten Jahr beschäftigte sich etwa die weltweite Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» damit. Sie kritisierte die Vorstellungen davon, was einen Mann ausmacht, und hielt die Gesellschaft dazu an, diversere Männerbilder zu fördern. Im Januar veröffentlichte Rasierklingenhersteller Gillette einen Werbespot, in dem Männer veraltete Rollenbilder hinter sich lassen – sie halten andere Männer von sexistischem Handeln ab und ermutigen kleine Mädchen, sich stark zu fühlen. Der Clip wurde fast 30 Millionen Mal geklickt und kassierte einen riesigen Shitstorm – vor allem von Männern. Das Thema toxische Männlichkeit polarisiert. Auch in der SRF-Diskussionssendung «Club» war es in den letzten Wochen gleich zwei Mal Gesprächsstoff und führte zu hitzigen Debatten.
Das klassische Männerbild wird seit der MeToo-Bewegung immer stärker infrage gestellt. Denn das Stereotyp des starken und furchtlosen Mannes ist nicht nur mitverantwortlich für Sexismus und Machtgefälle. Sondern schadet auch den Männern selbst, indem es sie von Kindesbeinen an lehrt, Gefühle zu unterdrücken. Das widerspiegelt sich in Statistiken: Männer üben häufiger Gewalt aus, leiden eher an Depressionen und begehen häufiger Suizid. Deshalb wird das Stereotyp auch oft mit toxischer Männlichkeit umschrieben. Erst kürzlich erklärte der grösste Psychologenverband das klassische Männerbild als schädlich. Auch in der Öffentlichkeit wird es immer häufiger diskutiert. Im letzten Jahr beschäftigte sich etwa die weltweite Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» damit. Sie kritisierte die Vorstellungen davon, was einen Mann ausmacht, und hielt die Gesellschaft dazu an, diversere Männerbilder zu fördern. Im Januar veröffentlichte Rasierklingenhersteller Gillette einen Werbespot, in dem Männer veraltete Rollenbilder hinter sich lassen – sie halten andere Männer von sexistischem Handeln ab und ermutigen kleine Mädchen, sich stark zu fühlen. Der Clip wurde fast 30 Millionen Mal geklickt und kassierte einen riesigen Shitstorm – vor allem von Männern. Das Thema toxische Männlichkeit polarisiert. Auch in der SRF-Diskussionssendung «Club» war es in den letzten Wochen gleich zwei Mal Gesprächsstoff und führte zu hitzigen Debatten.