Das Leben der Betroffenen ist von Angst geprägt.
Foto: James Godman

Jeder 10. Schweizer hat Angststörungen
«Panisch, wenn das Kind zu spät heimkommt»

Viele Betroffene, wenige Behandlungen: Von 800'000 Schweizern sucht nur jeder Vierte professionelle Hilfe. Interview mit Joe Hättenschwiler, Chefarzt des Zentrums für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich.
Publiziert: 24.02.2017 um 14:20 Uhr
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Aktualisiert: 26.11.2018 um 10:39 Uhr
Joe Hättenschwiler, Chefarzt des Zentrums für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich.
Foto: Siggi Bucher
Pascal Schlecht

Die wichtigsten Fragen zu Angststörungen

Was ist eigentlich eine Angststörung?

Joe Hättenschwiler: Angst an und für sich ist eine lebensnotwendige Emotion. Eine Art Lebensversicherung. Zur Störung wird Angst, wenn sie völlig übertrieben ist im Verhältnis zur bestehenden Gefahr oder Herausforderung – ebenfalls wenn sie danach zu lange anhält und zu Vermeidungsverhalten führt.

Wie erkennt jemand, dass er medizinische Hilfe braucht?

Wenn die Angst das Leben prägt und Beruf sowie Privatleben leiden. Wenn man es nicht mehr schafft, das zu tun, was man will. Bei Schlafstörungen, Depressionen oder wenn zu viel getrunken wird. Dann ist der Hausarzt die erste Kontaktperson. Bei Bedarf verweist dieser den Patienten an einen Spezialisten.

Wie behandeln Sie solche Patienten?

Ziel ist es, dass sich die Patienten schrittweise ihren Ängsten stellen, bis diese weg sind. Denn Angstpatienten versuchen, die Situationen zu vermeiden, in denen sie Angst haben – genau das ist der Fehler. Zur Behandlung dienen vier Massnahmen. Erstens: ein Körper- und Blutcheck. Zweitens: Der Patient wird aufgeklärt, wie die Ängste entstehen und wie man sie kontrollieren kann. Drittens: Wenn nötig, erhält er Medikamente. Viertens: Er wird informiert, dass auch sein Lebensstil eine wichtige Rolle innehat. Wie viel Kaffee und Alkohol jemand trinkt, ob er Drogen nimmt, wie er sich ernährt und ob er genug Schlaf und Bewegung bekommt.

Wie gross sind die Erfolgsaussichten der Therapie?

Den meisten Betroffenen kann mit einer geeigneten Therapie geholfen werden. Wenn die Angst schon sehr lange besteht, kann die Therapie entsprechend länger dauern. Ein grosses Problem ist, dass 75 Prozent mit einer Angsterkrankung keine Hilfe aufsuchen.

Welches sind die häufigsten Ängste?

An der Spitze stehen soziale Phobien, die Furcht, von anderen in sozialen oder Leistungssituationen negativ beurteilt zu werden. Auch spezifische Phobien wie Angst vor Hunden, Spinnen. Häufig sind auch die Panikstörung, die Agoraphobie sowie die generalisierte Angststörung, auch Sorgenkrankheit genannt: Kommt das Kind nur fünf Minuten später nach Hause als sonst – schon wird man panisch.

Kann die Neigung zu Angststörungen auch vererbt werden?

Beim Entstehen von Ängsten spielt die genetische Veranlagung eine grosse Rolle. Dasselbe gilt für psychosoziale Faktoren wie Gewalt in der Familie, Scheidungen oder andere Verlusterfahrungen.

Kampf gegen die Angst

In der Schweiz leiden 800 000 Menschen an einer Angststörung. Nach Depressionen sind sie die zweithäufigste psychische Beeinträchtigung. Damit ist nicht die Angst gemeint, die jemand vor einem knurrenden Hund hat oder beim Bergwandern vor einem Abgrund empfindet. Betroffene von Angststörungen leiden unter massiven Störungen wie Herzrasen und Erstickungsangst, sie fangen in grossen Menschenansammlungen zu zittern an oder es wird ihnen schlecht, wenn sie einen Lift betreten sollen. Bei einer Angststörung kommt der gesamte Alltag aus dem Gleis, schwer Betroffene können ihren Job nicht mehr ausüben. 75 Prozent dieser Menschen suchen aber keine Hilfe auf – obwohl es heute wirksame Behandlungsmethoden gibt. Deshalb startet Pro Infirmis heute die Kampagne «Angst lähmt», um die Gesellschaft zu motivieren, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

In der Schweiz leiden 800 000 Menschen an einer Angststörung. Nach Depressionen sind sie die zweithäufigste psychische Beeinträchtigung. Damit ist nicht die Angst gemeint, die jemand vor einem knurrenden Hund hat oder beim Bergwandern vor einem Abgrund empfindet. Betroffene von Angststörungen leiden unter massiven Störungen wie Herzrasen und Erstickungsangst, sie fangen in grossen Menschenansammlungen zu zittern an oder es wird ihnen schlecht, wenn sie einen Lift betreten sollen. Bei einer Angststörung kommt der gesamte Alltag aus dem Gleis, schwer Betroffene können ihren Job nicht mehr ausüben. 75 Prozent dieser Menschen suchen aber keine Hilfe auf – obwohl es heute wirksame Behandlungsmethoden gibt. Deshalb startet Pro Infirmis heute die Kampagne «Angst lähmt», um die Gesellschaft zu motivieren, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

«Die Panik schnürte mir den Hals zu»

Mit 19 Jahren erlitt Marco Todesco (44) seine erste Panikattacke an einem Familien-Essen. «Es war ein einschneidendes Erlebnis. Ich hatte Herzrasen, verspürte Übelkeit und dachte, ich müsse jeden Moment sterben», so der Chemiker und Unternehmer. Von der Notfallstation wurde er als gesund eingestuft und wieder entlassen. Danach folgten unzählige Arztbesuche – ohne Erfolg. Todesco litt an intensiven körperlichen Symptomen wie Zittern, Übelkeit und Magen-/Darmbeschwerden. «Das Schlimme war, niemand konnte mir erklären, an was ich erkrankt war.» Erst zehn Jahre später diagnostizierte ein Arzt die Angststörung – genauer: Panikstörung und soziale Phobie. Es folgte eine Verhaltenstherapie. Einerseits musste er die schädlichen Gedankenmuster verlernen und durch positive ersetzen (kognitive Verhaltenstherapie). Andererseits musste Todesco sich den Angst auslösenden Situationen stellen, die Angst zulassen und aushalten (Expositionstherapie). Der Körper lernt dabei, dass die Angst vorbei geht. Begleitet wurde die Therapie mit Antidepressiva. Fünf Wochen später hat sich sein Zustand bereits wesentlich verbessert, heute fühlt er sich «sehr gut». Dennoch: «Ich würde aber nicht so weit gehen, zu behaupten, ich sei geheilt. Die Angst ist noch da, belastet mich jedoch kaum noch. Ich habe einen Weg gefunden, damit umzugehen.»

Seit 18 Jahren engagiert sich Todesco bei der Angst- und Panikhilfe Schweiz, einer Selbsthilfeorganisation für Betroffene.

 

Marco Todesco (44) erlitt mit 19 Jahren seine erste Panikattacke.
Marco Todesco (44) erlitt mit 19 Jahren seine erste Panikattacke.

Mit 19 Jahren erlitt Marco Todesco (44) seine erste Panikattacke an einem Familien-Essen. «Es war ein einschneidendes Erlebnis. Ich hatte Herzrasen, verspürte Übelkeit und dachte, ich müsse jeden Moment sterben», so der Chemiker und Unternehmer. Von der Notfallstation wurde er als gesund eingestuft und wieder entlassen. Danach folgten unzählige Arztbesuche – ohne Erfolg. Todesco litt an intensiven körperlichen Symptomen wie Zittern, Übelkeit und Magen-/Darmbeschwerden. «Das Schlimme war, niemand konnte mir erklären, an was ich erkrankt war.» Erst zehn Jahre später diagnostizierte ein Arzt die Angststörung – genauer: Panikstörung und soziale Phobie. Es folgte eine Verhaltenstherapie. Einerseits musste er die schädlichen Gedankenmuster verlernen und durch positive ersetzen (kognitive Verhaltenstherapie). Andererseits musste Todesco sich den Angst auslösenden Situationen stellen, die Angst zulassen und aushalten (Expositionstherapie). Der Körper lernt dabei, dass die Angst vorbei geht. Begleitet wurde die Therapie mit Antidepressiva. Fünf Wochen später hat sich sein Zustand bereits wesentlich verbessert, heute fühlt er sich «sehr gut». Dennoch: «Ich würde aber nicht so weit gehen, zu behaupten, ich sei geheilt. Die Angst ist noch da, belastet mich jedoch kaum noch. Ich habe einen Weg gefunden, damit umzugehen.»

Seit 18 Jahren engagiert sich Todesco bei der Angst- und Panikhilfe Schweiz, einer Selbsthilfeorganisation für Betroffene.

 

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