James Fallon hat das Gehirn eines Mörders
«Ich bin kein übler Kerl»

James Fallon (68) ist ein hochgelobter Professor für Psychiatrie. Seine Gehirnstruktur ist die eines Mörders, eines Psychopathen. Das Böse fasziniert ihn deshalb ganz besonders.
Publiziert: 06.10.2015 um 14:26 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2018 um 13:03 Uhr
Seine Vorlesungen wurden auf Youtube zum Hit, sein Selbstbekenntnis, ein Psychopath zu sein, machte ihn zum Medienstar. Der amerikanische Neurowissenschaftler und Professor für Psychiatrie James Fallon (68) lehrte über dreissig Jahre an der University of California. Sein Spezialgebiet sind die Gehirnstrukturen von Serienmördern. Als Abwechslung beobachtet er im Garten Insekten, die sich nach dem Liebesakt auffressen. Fallon lebt in Kalifornien, ist seit über 50 Jahren mit seiner Gattin Diane zusammen, dreifacher Vater und Grossvater.
Foto: Daniel A. Anderson
Interview: Franziska K. Müller

Seine Vorfahren waren Meuchelmörder. Und auch er hat die Gehirnstruktur eines Psychopathen. Vor einem Jahr schrieb der amerikanische Neurowissenschaftler und Professor für Psychiatrie James Fallon (68) darüber ein Buch. Dieses Jahr ist «Der Psychopath in mir» auf Deutsch erschienen. Seither steht er im Fokus der Wissenschaft und wird weltweit zu Vorträgen eingeladen. Amüsant: Auch zahlreiche selbst ernannte Psychopathen melden sich bei ihm, um mit dem Experten über das Böse zu fachsimpeln.

Herr Fallon, Sie vertraten 30 Jahre lang die Theorie, die genetische Veranlagung und nicht das soziale Umfeld präge den Charakter eines Menschen. Was geschah dann?
James Fallon: Mein Team war mit einer Studie beschäftigt, die der Fragestellung nachging, ob es für die Alzheimer-Krankheit eine genetische Disposition gibt. Im Rahmen dieser Arbeit nahmen meine Kollegen und ich Gentests vor: bei Betroffenen und bei Mitgliedern meiner Familie, die als normale Kontrollgruppe herhalten sollte. Als ich die Bilder meiner Familie studierte, bemerkte ich, dass ein Scan das typische Hirn eines Psychopathen zeigte. Da die Aufnahmen anonymisiert waren, ging ich von einem Irrtum aus.

Sie dachten, das Bild sei versehentlich auf dem Stapel gelandet?
Genau. Um einen Fehler auszuschliessen, bat ich einen Labortechniker, diesen einen Code zu entblinden – das heisst, die Aufnahme mit einem Personennamen zu versehen.

Wie lautete das Resultat?
Es handelte sich um mein eigenes Gehirn. Ich liess alle Geräte und Einträge der übrigen Techniker überprüfen, die für die Bildgebung und die Datenbank verantwortlich waren. Es änderte jedoch nichts am Resultat: Ich besitze das Gehirn eines Serienmörders.

Woran erkennt man das?
Es zeigt vor allem in jenen Bereichen verringerte Aktivitäten, in denen die Impulsivität reguliert wird und wo Trieb und sozialer Kontext abgewogen werden, um eine angemessene Entscheidung treffen zu können. Diese Hirnregionen tragen also zu unserer Verhaltenssteuerung bei. Ich hatte vor der Entdeckung unzählige solcher Hirne analysiert. Sie gehörten Menschen, die teilweise fürchterliche Verbrechen begangen hatten.

Wie veränderte die Entdeckung, dass Sie über ähnliche Hirnstrukturen verfügen, Ihr Leben?
Sie brachte vor allem meine vorherigen beruflichen Erkenntnisse ins Wanken. Später begann ich, mich intensiv mit mir selbst und meinen Ahnen zu befassen. Väterlicherseits gab es in der Familie tatsächlich unzählige Mörder und Menschen, die grauenhafte Dinge angestellt hatten.

Auf welche Gräueltaten stiessen Sie?
Unter anderem auf den ersten Muttermord in den amerikanischen Kolonien. Er trug sich im Jahr 1673 zu. Rebecca Cornell, eine Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Grossmutter väterlicherseits, wurde von ihrem eigenen Sohn erstochen. Aus dieser Linie ging unter anderem auch Lizzie Borden hervor, die im Jahr 1892 als Axtmörderin in die Geschichte einging, weil sie ihren Vater und ihren Stiefvater umgebracht haben soll. Väterlicherseits gab es noch eine Handvoll weiterer Mörder und Mordverdächtige, die angeklagt oder überführt worden waren. Die Verbechensserie ist noch weit länger. Der Hang, seine Angehörigen umzubringen, riss erst Ende des 19. Jahrhunderts in meiner Familie ab.

Die genetische und hirnorganische Disposition ist also in der Familie vorhanden – und ist noch immer da.
 Ja. Allerdings waren die Lebensumstände und die Sozialisierung damals anders. Ich musste folglich meine Gen-Theorie grundlegend überdenken.

Um Klarheit zu finden, liessen Sie Ihr Genom entschlüsseln und unterzogen sich verschiedenen psychiatrischen Gutachten. Gleichzeitig analysierten Sie Ihr Leben und Ihre charakterlichen Veranlagungen. Zu welchen Schlüssen kamen Sie?
Mir sagten Menschen seit jeher, mir mangle es an Mitgefühl. Dieser Vorwurf ist natürlich schnell gemacht, und deshalb ignorierte ich ihn lange, ebenso wie der frühe Verdacht, ich sei bipolar. Als mir ein Berufskollege dann aber versicherte, mein Verhalten gleiche tatsächlich jenem eines Soziopathen, tröstete mich mein Leben über diese Meinung hinweg. Ich bin verheiratet, Vater von drei Kindern, habe eine stabile berufliche Karriere und viele Freunde.

Als Wissenschaftler ging es Ihnen danach um die Frage, weshalb Sie zu keinem Schwerkriminellen wurden. Richtig?
Ja. Bereits als Kind litt ich unter extremen Zwangsstörungen. Dann als Jugendlicher unter einem religiösen Wahn, und im Erwachsenenleben machten mir rund 700 schwere Panikanfälle das Leben zur Hölle. Später kam noch der Hang zu Exzess und Rücksichtslosigkeit dazu. Meine Denk- und Wahrnehmungsvorgänge und die daraus resultierenden mentalen Ergebnisse sind also anders als bei anderen Menschen.

Sie schildern in Ihrem Buch einen Zwischenfall, bei dem Sie Zeuge eines schrecklichen Unfalls wurden. Diese Episode lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Sie jedoch erzählen sie beinahe unbeteiligt.
Man kann die Passage auch als der Wahrheit verpflichtete Schilderung sehen: Ich drückte dem Schwerverletzen mit blossen Händen das Blut ab, der sterbende Mann röchelte. Für andere wäre das ein Horror gewesen. Mir gab das Ganze einen Kick, ich ging danach regelrecht beflügelt in die Bar, um bei den Kollegen mit den schrecklichen Details zu prahlen. Ich führte andere auch immer wieder in Gefahr. Allein, weil mir das einen Energieschub gab. Trotzdem verspürte ich nie den Drang, jemanden zu töten oder zu verletzen. Auch stehlen und lügen war nie mein Ding.

Weil Sie sonst moralische oder praktische Nachteile erlitten hätten?
Wer zu solchen Mitteln greift, ist in meiner Wahrnehmung als Psychopath ein Versager. Ich frage mich bei jedem Vorhaben, wie ich es möglichst lange spannend gestalten kann. Wer Gewalt anwendet oder kriminell wird, läuft Gefahr, dass der Spass schnell endet. Es sind also praktische und berechnende Überlegungen, die mich vor solche Ausfällen bewahren. Wie auch das Bewusstsein für die unangenehmen Konsequenzen.

Sie würden sich als erfolgreichen Psychopathen bezeichnen?
Oder als pro-sozialen Psychopathen. Der Begriff existiert nicht als wissenschaftliche Definition.

Sind Sie nun Psychopath oder nicht?
Nebst allen anderen Voraussetzungen erfülle ich viele Punkte der offiziellen Psychopathen-Skala. Was fehlt, sind allerdings die anti-sozialen Merkmale. Will heissen: Ich kann mich beherrschen und die Konsequenzen allfälliger Taten abschätzen. Mein Geschick, andere zu manipulieren und einzuwickeln, aber auch meine Genusssucht setze ich eher zum Guten ein. Und wenn etwas Schlechtes dabei herauskommt, ist das purer Zufall.

Trotz allem sind Sie also kein übler Kerl?
Genau. Aus wissenschaftlicher Sicht war das ein echtes Problem. Obwohl ich genetisch und aufgrund meiner Hirnstrukturen ein Psychopath bin, wurde ich nicht zum Monster. Warum ein Psychopath nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen muss, sogar ein gesellschaftlich akzeptiertes, erfolgreiches Leben führen und verbindliche Beziehungen aufbauen kann, blieb mir vorerst ein Rätsel.

Wie gings weiter?
Eine führende Hirn-Expertin der Universität Yale fand heraus, dass ich über eine spezielle Gen-Variante verfüge. Menschen mit solchen Dispositionen sind normalerweise eher Partylöwen, Menschen voller Charisma und Selbstsicherheit. Das klang vertraut. Ich suchte jahrelang weiter und musste schlussendlich meine Meinung revidieren: Unser Erbgut steuert Tun und Handeln nicht zu 80 Prozent. Davor waren bereits andere Wissenschaftler zu diesem Schluss gekommen, doch nun war auch ich der Überzeugung, dass Kindheit und Sozialisierung einen grösseren Einfluss auf unser Leben ausüben.

In der Zwischenzeit entwickelten Sie die viel diskutierte Drei-Hocker-Theorie. Können Sie diese ganz kurz erläutern? Psychopathie steht mit drei Voraussetzungen in Verbindung: mit der Beschaffenheit gewisser Hirnregionen und der Hochrisikovariante verschiedener Gene. Als dritter begünstigender Punkt gilt die emotionale oder körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch in der Kindheit.

Weil der dritte Punkt nicht auf Sie zutrifft, wurde Sie nicht zum Mörder?
Simpel gesagt, ist das richtig. Allerdings beeinflusste auch die Erziehung meine Entwicklung positiv. Zu Hause war ich ein regelrechter Prinz, der mit Liebe und Aufmerksamkeit überschüttet wurde. Später bewahrten mich mein soziales Umfeld, mein Beruf, die Familie und unzählige Freizeitaktivitäten offenbar davor, dass die dunklen Seiten meiner Veranlagung zum Ausbruch kommen konnten.

Gibt es eigentlich viele frei herumlaufende Exemplare wie Sie?
Der mordende Psychopath ist nur die Spitze des Eisbergs. Psychopathisch veranlagte Menschen gibt es zuhauf – darunter beruflich äusserst erfolgreiche – und sie kommen nie mit dem Gesetz in Konflikt . Das heisst jedoch nicht, dass die Mitmenschen nicht unter ihnen zu leiden haben.

Weil solchen Menschen Begriffe wie Moral ein Buch mit sieben Siegeln bleibt?
Ja. Meine eigene Neugier wurde immerhin so gross, dass ich moralisches Verhalten ernsthaft ausprobierte. Ich war nett und hilfsbereit zu meinen Mitmenschen und tat viele liebevolle Dinge für meine Frau. Das täuscht aber nicht über die Tatsache hinweg, dass in meinem limbischen System ein kleiner Giftzwerg hockte, der mir zuflüsterte, wie langweilig doch alles ist, wenn ich mich immer nur gut benehme.

«Der Psychopath in mir», die Entdeckungsreise eines Neurowissenschaftlers zur dunklen Seite seiner Persönlichkeit. Von James Fallon, 288 Seiten, Verlag Herbig.

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