Forscherin erklärt, was die innere Monotonie mit uns macht
Aus Langeweile kriminell? Fünf Mythen im Check

Wer sich langweilt, hat oft keine andere Wahl. Das schreibt die deutsche Soziologin Silke Ohlmeier in ihrem neuen Buch. Darin räumt sie mit Mythen auf.
Publiziert: 03.09.2023 um 20:00 Uhr
|
Aktualisiert: 04.09.2023 um 12:58 Uhr
Antriebslosigkeit, fehlende Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung oder keine erfüllende Arbeit: Es gibt viele Gründe für Langeweile.
Foto: Getty Images
RMS_Portrait_AUTOR_912.JPG
Valentin RubinRedaktor Service
1

Mythos: Langeweile macht kreativ

Laut der deutschen Soziologin und Langeweileforscherin Silke Ohlmeier (37) stimmt diese Aussage nicht ganz. In ihrem 2023 erschienenen Buch «Langeweile ist politisch» schreibt sie, dass Langeweile vor allem das in uns hervorhole, was sowieso schon da sei. Menschen, die bereits kreativ tätig sind – zum Beispiel Musiker oder Künstler – wenden sich laut Ohlmeier bei Langeweile eher kreativen Tätigkeiten zu. Bei Menschen, die kaum kreativ tätig sind, sei dies hingegen weniger der Fall. Um der Langeweile zu entkommen, greifen sie deshalb oft auf Streaming-Angbote als Langweilevertreiber zurück oder beschäftigen sich mit ihrem Smartphone.

Um Langeweile zu bewältigen, greifen viele Menschen zum Smartphone.
Foto: Getty Images
2

Mythos: Langeweile begünstigt kriminelles Verhalten

Langeweile wird immer wieder als Motiv für Verbrechen genannt – von Ladendiebstählen, Prügeleien, bis hin zu Mord. Dieses Motiv greift aber zu kurz, wie Ohlmeier in ihrem Buch schreibt: «Niemand wird ein Mörder nur aus Langeweile.» Oft seien es tieferliegende Probleme, die Menschen in die Kriminalität treiben. Zum Beispiel Perspektivlosigkeit, fehlende Aufmerksamkeit oder mangelnde Anerkennung. Langeweile sei oft nur ein Symptom dieser Probleme, schreibt sie. «Solange sie nicht gelöst werden, verhindert eine reine Beschäftigungstherapie keine Morde.»

Sie findet Langeweile gar nicht langweilig

Silke Ohlmeier absolvierte nach der Schule eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Ihre darauffolgende Arbeit fand sie aber zu langweilig, so dass sie sich für ein Studium der Soziologie entschied, um dem Phänomen der Langeweile auf den Grund zu gehen. Sie ist Mitglied der «International Society for Boredom Studies» (Internationale Gesellschaft für Studien über Langeweile) und promoviert an der Universität des Saarlandes in Deutschland. Im März 2023 erschien ihr Buch «Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät».

Silke Ohlmeier absolvierte nach der Schule eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Ihre darauffolgende Arbeit fand sie aber zu langweilig, so dass sie sich für ein Studium der Soziologie entschied, um dem Phänomen der Langeweile auf den Grund zu gehen. Sie ist Mitglied der «International Society for Boredom Studies» (Internationale Gesellschaft für Studien über Langeweile) und promoviert an der Universität des Saarlandes in Deutschland. Im März 2023 erschien ihr Buch «Langeweile ist politisch. Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät».

3

Mythos: Langeweile lässt sich mit Beschäftigung vertreiben

«Menschen langweilen sich auch, wenn sie etwas tun», schreibt Ohlmeier. Etwa im Geschichtsunterricht, beim Familientreffen, im Kino oder bei der Arbeit. Trotzdem sei die Deutung verbreitet, Beschäftigung sei das Gegenteil von Langeweile. Ein voller Terminkalender allein sorge jedoch nicht für ein Leben ohne Langweile. Wichtig sei, dass einem das, was man tut, erfülle. Oder anders formuliert: Langeweile ist der unbefriedigte Wunsch nach einer befriedigenden Tätigkeit.

Nichtstun muss nicht langweilig sein. Es kann auch eine Möglichkeit zur Reflexion und Entspannung sein.
Foto: Getty Images
4

Mythos: Nur langweilige Menschen langweilen sich

Der deutsche Modedesigner Karl Lagerfeld sagte einmal: «Langeweile ist ein Verbrechen. Wenn man sich langweilt, heisst das nur, dass man selber langweilig ist.» Ohlmeier begründet die Popularität solcher Sprüche mit einem «diffusen Überlegenheitsgefühl» vieler Menschen. Eine 2022 in England durchgeführte Studie gibt der Soziologin recht: Wer andere als langweilig bezeichnet, fühlt sich besser. Man impliziert damit, selbst weder langweilig noch von Langeweile betroffen zu sein. Ohlmeier schreibt dazu: «Alle Menschen haben hin und wieder Langweile, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass.» Dieses Ausmass hänge nicht davon ab, ob jemand vom Charakter her langweilig sei oder nicht. Sondern von den jeweiligen individuellen Möglichkeiten. «Manchmal liegt es einfach an fehlenden Privilegien wie Status, Macht und Geld, um die Situation zu ändern.»

5

Mythos: Intelligente Menschen sind nie gelangweilt

Die Auffassung, intelligente Menschen seien nie gelangweilt, fusst laut Ohlmeier auf der Annahme, dass diese so kreativ und diszipliniert seien, dass sie permanent sinnvolle Beschäftigungen finden – Geige spielen, klassische Literatur lesen, meditieren. Dem gegenüber stünden Menschen mit vermeintlich tieferem Intellekt, die nicht fähig seien, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen. Ohlmeier schreibt dazu: «Die Abwesenheit von Langeweile ist für viele Menschen ein Statussymbol.» Dabei hätten Untersuchungen gezeigt, dass intelligente Menschen schneller gelangweilt sein können als weniger intelligente, da sie oft hohe Ansprüche haben oder schnell unterfordert sind. «Ein klassisches Beispiel ist das hochbegabte Kind, das sich in der Schule langweilt.»

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?