Leuchtende Duftkerzen, dampfender Glühwein, geröstete Marroni: Auf den derzeitigen Weihnachtsmärkten riecht es allenthalben intensiv, was Jung und Alt magisch anlockt.
Dabei ist die Geruchswahrnehmung unter den klassischen fünf Sinnen derjenige, auf den Menschen in Umfragen regelmässig als Erstes verzichten würden. Doch was wäre dieser Adventszauber mit verschlossener Nase? Nichts als eine glitzernde Geräuschkulisse, vor der einen kein Nahrungsmittel zu konsumieren gelüstet.
«Nasenblind» nennt der renommierte deutsche Geruchsforscher Hanns Hatt (71) diesen Zustand und macht ihn in einem Interview anschaulich: «Wenn man blind und mit geschlossener Nase eine Birne isst, würde man niemals sagen können, ob es eine war.» Man kann nur mit der Zunge feststellen, ob sie geschmacklich süss war. Trockener Wein oder Essigwasser? Einerlei ohne Geruch, denn 70 bis 80 Prozent von dem, was wir dabei wahrnehmen, erfolgt über die Nase.
30 Millionen Riechzellen auf nur 5 Quadratzentimetern
Höchste Zeit für ein Lob auf die einzigartige menschliche Nase. Der Dichter Heinrich Heine (1797–1856) weiss auch, weshalb sie im Gegensatz zu Augen und Ohren ein Unikat ist: «Gott gab uns nur eine Nase, weil wir zwei in einem Glase nicht hineinzubringen wüssten und den Wein verschlappern müssten.» Mit der einen Nase im Glas können wir fruchtige Aromen wie Brombeere und Apfel oder Gewürznoten wie Lakritze und Anis ausmachen.
Entgegen dem Unkenruf, dass der Zinken im menschlichen Gesicht wenig könne, kommt eine Studie der New Yorker Rockefeller University aus dem Jahr 2014 zum Schluss, dass wir konservativ gerechnet eine Billion Gerüche voneinander unterscheiden können. Zum Vergleich: Die Augen können maximal 7,5 Millionen Farben und die Ohren bloss 350'000 Töne differenzieren.
Die Riechschleimhaut des Menschen befindet sich am Dach der Nasenhöhle und ist bloss fünf Quadratzentimeter gross, bietet aber 30 Millionen Riechzellen Platz. Diese teilen sich in 350 Zelltypen auf – von jedem Typ hat es also knapp 100'000 Zellen. Die Zellen erneuern sich alle vier Wochen. Wir laufen also bildlich gesprochen jeden Monat mit einer neuen Nase durch die Welt.
Was physisch hineingeht, kommt als Gedanke heraus
Wenn man nun ein Duftmolekül einatmet, dann dockt es nur auf einem Zelltyp an – dort passt es wie ein Schlüssel ins passende Schloss. Da Gerüche meist komplex sind und aus mehr als einem Duftmolekül bestehen, reizen sie gleich mehrere der 350 Zelltypen. Parfüms können aus über hundert Komponenten bestehen. Düfte sind also wie lange Wörter, die quasi aus einem Duftalphabet mit 350 Buchstaben bestehen. Das führt in allen möglichen Kombinationen zu einer weitaus grösseren Zahl als der Billion wahrnehmbarer Gerüche aus der US-Studie.
Jeder Mensch atmet täglich über 20'000 Mal ein und aus und inhaliert dabei Millionen von Duftmolekülen, die er zu einem Teil von sich macht. Denn Riechen ist im Gegensatz zum Sehen und Hören ein chemischer Prozess. Das Knistern des wärmenden Feuers auf dem Weihnachtsmarkt dringt mit Schallwellen an unser Ohr, die züngelnden Flammen gelangen via elektromagnetischer Strahlen blitzschnell in die Augen, aber der Geruch verändert die Zusammensetzung unseres Körpers tatsächlich – wir verinnerlichen ihn sozusagen.
Wer verinnerlicht, erinnert: Was physisch hineingeht, kommt als Gedanke heraus. Kein anderer menschlicher Sinn ist so stark mit der Erinnerung verbunden wie der Geruchssinn. Man spricht dabei vom Proust-Phänomen, weil der französische Schriftsteller Marcel Proust (1871–1922) dazu in seinem Hauptwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» eine exemplarische Episode liefert.
Darin tunkt der Ich-Erzähler französisches Feingebäck, ein Stück Madeleine, in Tee und isst es. Kaum berührt der Bissen den Gaumen und stimuliert Nase sowie Zunge, durchzuckt ihn ein «unerhörtes Glücksgefühl», und verloren geglaubte Kindheitserinnerungen tauchen auf.
Die Nase hat den direktesten Draht zum Gehirn
«Wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Person, dem Untergang der Dinge», schreibt Proust in seinem Roman, «so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen.» Diese Sinne, so Proust weiter, werden «sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.»
Was Proust in gewählten Worten formuliert, hat einen profanen Grund: Unsere Nase hat den direktesten Draht ins Gehirn, und zwar in jene Region, die Erinnerungen verarbeitet. Während etwa Hör- und Seheindrücke zuerst durch das Zwischenhirn – den Thalamus – müssen, steigen Gerüche ungefiltert in die Hirnrinde. Das ist evolutionär durchaus sinnvoll: So erinnerte der Geruch fauligen Fleisches schon die Steinzeitmenschen sofort an die letzte Magenverstimmung – eine Warnung.
Übler Gestank kann einen sogar in der Nacht einholen und für schlechte Träume sorgen, denn im Gegensatz zu den Augen schliesst der Mensch die Nase beim Schlafen nicht. Forscher vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim (D) bestäubten das Schlafzimmer von Probandinnen mit Schwefelwasserstoff, dem Geruch fauler Eier.
Das Ergebnis: Die Frauen berichteten von Albträumen. Schöne Visionen hatten sie dagegen, wenn der Raum nach Rosen roch. Dabei geht es nicht um eine bewusste Wahrnehmung. Denn wer sich lange in einem stinkenden Raum aufhält, merkt das nicht mehr, weil die Riechzellen bei gleich bleibenden Duftmolekülen die Nervenreize nicht mehr ans Hirn weiterleiten.
Der sogenannte Riechkolben, der die Nervenreize der Riechzellen auswertet, liegt im Hirn gleich neben dem limbischen System mit Hippocampus und Amygdala. Der Hippocampus verarbeitet Erlebnisse und formt sie zu Erinnerungen, die Amygdala gibt den Erinnerungen einen emotionalen Stempel.
Ein «unerhörtes Glücksgefühl» erfüllt den Erzähler bei Proust. Mit welchen Emotionen ein Geruch verbunden ist, hängt einzig mit der Erfahrung zusammen, die man machte, als er einem das erste Mal in die Nase stieg. So kann ein Madeleine durchaus negative Gedanken auslösen, wenn man bei seinem ersten Erschnuppern als Dreikäsehoch gleichzeitig Schläge kassierte.
Orangen, Zimt, Vanille: Den Duftmix, der einem jetzt auf Weihnachtsmärkten entgegenströmt, verbinden die meisten Menschen mit schönen Kindheitserinnerungen, weshalb die Besucher gern von Stand zu Stand schlendern. Zudem wirken die warmen Dämpfe in der neutralen, kalten Winterluft aromatischer als der zarte Hauch einer Rose im Sommer.
Mit Ledergeruch verkaufen sich Autos besser
Düfte betören uns nicht nur auf Weihnachtsmärkten, sie kommen gezielt an weiteren Orten zum Einsatz, wo man uns zum Kaufen animieren will. Etwa in der Bäckerei-Abteilung des Supermarkts, in der uns künstlicher Brotduft sofort zugreifen lässt. Auch Orangen, die von künstlichem Zitrusduft umweht sind, gehen schneller über den Ladentisch als andere.
Selbst beim Autoverkauf werden Duftstoffe eingesetzt. So belegen Studien: Fahrzeuge, die im Innern nach Leder riechen, lassen sich eher verkaufen als geruchsneutrale – selbst wenn das Interieur nur aus Kunststoffen besteht. Für Duftforscher Hanns Hatt ist denn auch klar, dass die Natürlichkeit eines Dufts für die Nase nicht entscheidend ist: «Vanillin aus der Vanilleschote oder dem Labor, das ist dem Körper geruchstechnisch egal.»
Längst haben sich Banken, Kleiderläden und Hotels daran gemacht, ihre Räume mit jeweils identischem Wohlgeruch zu füllen, denn an der Nase soll man sie wiedererkennen. Die Duftmarke gehört mittlerweile zur Corporate Identity wie der optisch einheitliche Auftritt.
Fünf Milliarden Umsatz mit Duft- und Aromastoffen
Von der künstlichen Herstellung der Duftstoffe und Aromen lebt heute eine ganze Industrie. Die weltweit grösste Firma dieser Branche hat ihren Sitz in der Schweiz: Givaudan aus Vernier GE. Das Unternehmen beschäftigt über 10 000 Mitarbeiter in mehr als 40 Ländern und erwirtschaftet einen Jahresumsatz von annähernd fünf Milliarden Schweizer Franken.
Ein Milliardengeschäft um Billionen Gerüche – und kein Wortschatz dafür. Haben westliche Kulturen abstrakte Begriffe für Farben oder Klänge, so müssen sie sich bei Gerüchen mit Vergleichen behelfen: Die Sonne ist gelb, der Zug quietscht, aber der Wein riecht nach Brombeeren. Gerade Önologen versteigen sich bei ihren Charakterisierungen manchmal in die abstrusesten Sprachbilder.
Doch selbst ein gestandener Autor wie der Deutsche Patrick Süskind (69), in dessen verfilmtem Bestsellerroman «Das Parfum» (1985) es praktisch nur um Gerüche geht, kommt bei den Beschreibungen an Grenzen. «Gerüche werden von Süskind meistens metaphorisch beschrieben», schreibt die Germanistin Magdalena Makowska in ihrem Aufsatz «Duftende Texte». «Der Autor malt dabei mit Worten und gebraucht solche Wendungen und Vergleiche, damit der Rezipient auf sein Vorwissen zurückgreifen kann, um die Gerüche wahrzunehmen und zu erleben.»
«Das Meer roch wie ein geblähtes Segel, in dem sich Wasser, Salz und eine kalte Sonne finden», heisst es etwa poetisch im «Parfum». Oder: «Ihr Schweiss duftete so frisch wie Meerwind, der Talg ihrer Haare so süss wie Nussöl, ihr Geschlecht wie ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblüte …» Immerzu Vergleiche mit «wie».
Es gibt allerdings Kulturen, die bei der Duftdeklaration auf Vergleiche verzichten können: Im Süden Thailands leben zwei Völker, die Maniq und die Jahai, die mindestens 15 abstrakte Begriffe für Gerüche kennen. Das berichten Forscherinnen vom Max-Planck-Insititut. Die beiden Völker kategorisieren die Düfte nach Wohlgeruch und Gefährlichkeit – so können sich die Jäger und Sammler kurz und bündig von jagdbaren Tieren und gefährlichen Sachen berichten.
Pheromone entscheiden, ob man jemanden riechen kann
Die westliche Kultur, von der auch Süskind mit seiner Hauptfigur Jean-Baptiste Grenouille erzählt, ist demgegenüber längst sesshaft geworden und meint, nicht mehr auf die Alarmanlage Nase angewiesen zu sein. Die Gefährlichkeit des Mörders Grenouille könnten aber nicht einmal die Maniq oder die Jahai erschnuppern und demzufolge auch nicht in ein Wort fassen – Grenouille ist nämlich geruchslos.
Eine literarische Fantasie von Süskind, denn alle Menschen haben ihren Duft, der sich mit keinem Parfum vollständig übertünchen lässt. Der Eigengeruch umgibt jede Person im Umkreis von ein bis zwei Metern. Wer seine eigene Duftmarke in Erfahrung bringen will, der reibe die Zunge an einem Tuch ab und rieche daran.
Dieser Eigengeruch besteht zum einen aus Schweiss, zum anderen aus Pheromonen, mit denen Lebewesen untereinander kommunizieren. Haben Mäuse rund 300 Rezeptoren in der Riechschleimhaut, an die Pheromone andocken können, so sind die Empfangszellen beim Menschen auf fünf geschrumpft. Doch die entscheiden, ob man das Gegenüber riechen kann.
Wenn also jemand auf dem Weihnachtsmarkt steht, sich von den leckeren Standauslagen jedoch unbeeindruckt zeigt und stattdessen nur noch Augen für einen fremden Menschen hat, dann wirken die subtilen Pheromone. Aber egal ob Gewürze oder Gefühle – die Nase zeigt uns immer, wo es langgeht.