Ich höre ihren Herzschlag, mein Kopf liegt an ihrer Brust. Ihre Arme halten mich. Zu fest für Corona? Ihre Zunge pfeift eine Melodie durch ihre Zähne, die wie aus einer anderen Zeit klingt. Sie reinigt in ihrem Heilzentrum in Kandersteg BE gerade meine Energie von Unsicherheiten, sagt sie. Mir ist etwas schwindelig vom schweren Salbei-Rauch. Gemäss Jaclyn Rose ist meine Aura gelb.
Jaclyn Rose ist 27 und trägt eine fransige Lederjacke und Mokassins. Sie ist Schamanin und Model. Zwei Berufe, die auf den ersten und auch auf den zweiten Blick nicht recht zusammenpassen wollen. Als kleines Mädchen wollte sie reisen, schön und akzeptiert sein in einer Welt, in der sie sich als Aussenseiterin fühlte.
Nach Abschluss der Schule wurde sie in Mailand, London und Barcelona gebucht. Doch der Kindheitstraum fühlte sich nicht so an, wie sie sich ihn vorgestellt hatte. Rose sah ihr geschminktes Gesicht im Spiegel und erkannte sich nicht wieder. Sie dachte sich: Da muss doch noch mehr sein, da draussen – und vor allem in mir drin. Immer häufiger zog es sie dafür wieder in den Wald. Dorthin nimmt sie mich auch heute, zu ihrem Lieblingsplatz neben dem kleinen Fluss, wo sie mit Steinen einen Kreis gelegt hat.
Die umstrittene Naturheilkunde erlebt ein Comeback
Schamanismus, die umstrittene Naturheilkunde, boomt. Das zeigen Zahlen des europäischen Schamanen-Verbandes: die Foundation for Shamanic Studies in Europa hat in den letzten drei Jahren in der Deutschschweiz einen Anstieg der Anfragen und Buchungen von Kursen um bis zu zwanzig Prozent festgestellt. Auch Sekten-Experte Hugo Stamm spricht von einem zunehmenden Interesse: «Momentan scheint Schamanismus wieder leicht im Hoch zu sein.» Wie alle esoterischen Disziplinen unterliege der Schamanismus Modeströmungen, die kämen und gingen.
Als Schamanen galten ursprünglich Medizinleute aus Sibirien, Nord- und Südamerika. Sie arbeiteten mit Heilkräutern und dem Kontakt zur sogenannten Geisterwelt. Mit Instrumenten wie zum Beispiel einer Trommel versetzten sie sich in einen anderen Bewusstseinszustand. «Eine Art Trance», sagt Rose. «Denn Schamanen verstehen sich als Vermittlungsperson zwischen der menschlichen und der geistigen Welt.»
Unsichere Zeiten sorgen für eine Desillusionierung
Doch weshalb wird in unserer vernetzten und digitalen Zeit eine uralte Heilmethode wieder salonfähig? Für Susan Mokelke, Präsidentin der Foundation for Shamanic Studies, ist die globale Unsicherheit der Hauptgrund für das zunehmende Interesse: «Eine Pandemie, beispielloser Rassismus wie im Falle von George Floyd, der drohende Klimawandel und ungerecht verteilter Wohlstand haben die Illusion getötet, dass wir so weitermachen können.» Gemäss Mokelke stellten viele Leute ernüchtert fest, dass der bisherige Weg nicht funktioniere, und suchten deshalb nach Alternativen.
Doch was bei uns gelehrt und praktiziert werde, sei ein Wohlstands-Schamanismus, sagt Stamm. «Aus dem schicken Einfamilienhaus mit dem SUV ins Berner Oberland und ein Wohlfühlseminar in Schamanismus: Das ist leicht dekadent.»
Jaclyn Roses Weg in den Schamanismus begann mit einer Reise in den Dschungel Perus. Dort trank sie das halluzinogene Pflanzengebräu Ayahuasca. Sie lernte viel über Heilpflanzen und darüber, wie sie die Trance mit einer Trommel beherrschen kann. «Ich fühlte mich, als hätte ich lange nur geschlafen», sagt sie. «Und dann bin ich aufgewacht.»
Das Geschäft mit den Urwaldpflanzen boomt
Ayahuasca scheint die Neu-Spirituellen besonders zu faszinieren. Gemäss Heilpflanzen-Forscher Christian Rätsch lassen sich immer mehr Touristen den Pflanzensud in Urwaldkliniken verabreichen. Unter der Betreuung von Schamanen tauchen sie bei nächtlichen Ritualen in psychedelische Welten ab. Es ist eine eigentliche Industrie entstanden. «Die Summen, die Touristen für Ayahuasca-Rituale zu zahlen bereit sind, sind für uns ein Klacks, dort jedoch die erstrebenswerte Hälfte eines durchschnittlichen Jahreseinkommens», sagt Rätsch in einem Interview mit der «Annabelle».
Rose ist in den USA geboren und in Luzern aufgewachsen. Heute gehört ihr ein kleines Heilzentrum in Kandersteg: ein gemütlicher Raum mit einer Liege in der Ecke, gelbem Citrin und anderen bunten Steinen in den Regalen und warmen Bergkristall-Leuchten an den Wänden. Wegen Corona kommen manche Leute häufiger zu Rose, da die Pandemie auch mehr Stress bedeutet.
Wir gehen zusammen durch den Wald, bis zu einem rauschenden Bach. Dass sie meine Energien gereinigt haben soll, bemerke ich zwar nicht. Doch die Natur und Jaclyns Herzlichkeit haben mir gutgetan. Ab und zu begegnen uns andere Bewohner mit ihren Hunden. Ich prüfe ihre Blicke, doch niemand starrt Rose an. Das Bergdorf hat sich an seine Schamanin gewöhnt.