Mitarbeiteranlass von Circle. Der Internetgigant präsentiert die neue App LuvLuv, die aus der Datenwolke im Web unsere Spleens und Vorlieben destilliert. Praktisch, wenn zum Beispiel Francis seine Arbeitskollegin Mae ausführen will. «Was sollte Francis als Erstes wissen, um sich beim Date nicht lächerlich zu machen?», wird das Publikum gefragt. «Allergien auf Lebensmittel», brüllt es aus den Reihen. Ein Klick, und auf dem Display im Saal erscheint: «Wahrscheinlich Glutenunverträglichkeit.»
Die Szene stammt aus dem Bestseller «Der Circle» (2014) von Dave Eggers. Der US-Autor tischt darin düstere Visionen der digitalen Zukunft auf. Die Story hat aber durchaus aktuelle Bezüge: Die Datensammlungen realer Netzmonopolisten bereiten schon heute immer mehr Konsumenten Bauchgrimmen. Ebenso das Gluten oder die Laktose im ganz normalen Essen.
Dass auf einmal ganz vielen Menschen Lebensmittelstoffe schwer im Magen liegen, lässt zumindest das wachsende «Frei von»-Angebot in den Lebensmittelregalen vermuten. Indizien, die ausserdem dafür sprechen: Die Gastronomie setzt vermehrt entsprechende Gerichte auf die Menükarten, in den Buchläden stapelt sich spezifische Koch-, Diät- und Beraterliteratur. Und auch Ärzte beobachten die Entwicklung. Peter Schmid-Grendelmeier, leitender Allergologe am Unispital Zürich, sieht im Bereich der Nahrungsmittelunverträglichkeiten eine «steigende Tendenz».
Der Experte macht folgende Ursachen aus. «Früher wurde die Thematik eher unterschätzt», sagt er. Bemerkbar machen sich ausserdem neuere Empfindlichkeiten wie die Histaminintoleranz und Fruktosemalabsorbtion. Die Häufigkeit der einzelnen Unverträglichkeiten und Allergien bewegen sich zwar im tiefen Bereich zwischen einem und drei Prozent. «Nimmt man den ganzen Sammeltopf», so Schmid-Grendelmeier, «sind aber wohl 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung davon betroffen.»
Detaillisten sprechen von zwei Millionen Betroffenen
Eine beachtliche Zahl. Sie ist freilich längst nicht so hoch wie jene, die Coop und Migros ins Spiel bringen. Die Detaillisten sprechen von zwei Millionen Betroffenen in der Schweiz. Das wäre jede vierte Person. Diese Daten sind jedoch genauso wenig gesichert wie viele der anderen herumgeisternden Informationen, mit welchen Nahrungsmittelunverträglichkeiten hochgekocht und die Ängste davor geschürt werden.
Besonders krass tut das etwa der 400-Seiten-Wälzer «Weizenwampe» (2013) von William Davis. Der amerikanische Präventivmediziner haut darin das glutenhaltige Getreide in die Pfanne: Es mache fett, bucklig und halb blind, schädige Herz und Hirn und verursache Krebs. Kurz: Wer Weizen nicht meide wie der Teufel das Weihwasser, müsse den Löffel frühzeitig abgeben. Das Buch ging weg wie frische Weggli, obschon es nicht mehr ist als ein bitteres Gebräu aus Fakten und wissenschaftlich nicht bewiesenen Behauptungen.
Manchmal ist eine Intoleranz nur ein Spleen
Um bei dem zu bleiben, was man weiss: Der Körper reagiert empfindlich bis sehr massiv bei Allergien, etwa bei einer Weizen- oder Milchallergie. Denn damit wehrt sich das Immunsystem gegen einen bestimmten Stoff, dieser ist dann für den Allergiker tabu. Bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten handelt es sich jedoch meist um eine Intoleranz. Das heisst, ein in einem Lebensmittel enthaltenes Enzym wird aus unterschiedlichen Gründen im Darm nicht genug schnell abgebaut. Das führt mitunter zu unangenehmen, aber harmlosen Beschwerden. Durch eine Ernährungsumstellung werden sie gelindert.
Dass Produkte ohne Gluten, Laktose und Histamin auf den Markt kommen, ist für Betroffene somit «notwendig und hilfreich», sagt Udo Pollmer, Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften in München. «Es überall gross draufzuschreiben und laut zu bewerben, macht die Leute jedoch verrückt. Viele glauben plötzlich, sie hätten auch eine Unverträglichkeit.»
Eine weitere Folge der «Frei von»-Labels: Manche Konsumenten fühlen sich besser, wenn sie auf Gluten- oder Laktosehaltiges verzichten, selbst wenn sie vorher überhaupt keine Beschwerden hatten. Eine andere Art, die Esskultur zu überhöhen.
Der Lebensmittelbranche sind solch psychologisch bedingte Phänomene willkommen. Sie kurbeln das Geschäft an. So konnte Coop den Umsatz bei den Unverträglichkeitsprodukten von 2012 bis 2014 um 50 Prozent auf 25 Millionen Franken steigern, Migros will ihr Sortiment bis im kommenden Jahr um 30 Prozent erweitern. Und Nahrungsmittel-Multi Nestlé, seit kurzem Hersteller glutenfreier Cornflakes, frohlockt auf seiner Webseite: «Es ist zu erwarten, dass die Vermeidung von Gluten und Laktose zu einem Trend wird.»
Selbst in Gourmettempeln wird glutenfrei gespeist
Wird? Der Trend macht längst Schule. Im Gourmettempel «Terminus» von Spitzenkoch Didier de Courten in Sierre VS nutzen täglich zwei bis drei Gäste – an Samstagen sind es gar fünf bis sechs – die Möglichkeit, einen Mehrgänger «sans gluten» zu bestellen. Nicht, weil sie dieses im Gedärme zwicken würde. «Es ist schlicht Mode», so de Courten.
Die deutsche Wissenschaftsjournalistin Susanne Schäfer formuliert es in ihrem aktuellen Buch «Der Feind in meinem Topf» noch bissiger: Es gehe oft darum, sich über das Essen von anderen abzugrenzen. Und durch Verzicht schaffe man die grösstmögliche Distanz zu denen, die «gar keine Auswahl treffen und mit ihrem grobschlächtigen Geiermagen alles wegverdauen».
Jetzt gerät Weizen noch stärker unter Verdacht
Allerdings ist auch das nicht der Weisheit letzter Schluss. Denn die Forscher bleiben dran. In ihrem Fokus steht derzeit die sogenannte Weizensensitivität. Ist sie verantwortlich dafür, dass manche nach dem Verzehr von Weissbrot und Zopf über Bauchweh, Gelenkschmerzen oder Kopfweh klagen, obwohl sie weder eine Weizenallergie noch -unverträglichkeit haben? Wie viele andere hatte Allergologe Peter Schmid-Grendelmeier dieses Phänomen bis vor wenigen Jahren «als Einbildung abgetan». Inzwischen gebe es aber wissenschaftliche Hinweise, dass das hochraffinierte Weissmehl dahinterstecken könne. Es kurble möglicherweise gewisse Enzyme im Körper an, die ihrerseits immunologische Prozesse beeinflussen. Schmid-Grendelmeier: «Da sind die Bücher aber noch längst nicht geschlossen.»