Paula streicht sich eine dunkelbraune Locke aus der Stirn. Sie ist ein wenig schüchtern, aber auch stolz. Ihre «Mutperlenkette» sei vier Meter lang, erzählt sie. Und sie allein hat das geschafft.
Mutperlen, das muss man erklären, sind kleine Glasperlen, mal ein Mini-Glacé, mal ein Pinguin oder ein Kasper. Für jede Behandlung darf sich ein Patient der Kinder-Onkologie der Klinik für Kinder und Jugendliche im Kantonsspital Aarau eine Perle aussuchen – für eine Spritze, für eine Chemo, für einen Test. Was aussieht wie eine lustige, bunte Kette, ist eine Aneinanderreihung von Tränen, Schmerzen, Ängsten. Ein Leidensweg, vier Meter lang.
Sie dachte, es sei Eisenmangel
Paula, die Zehnjährige, hatte Leukämie. Jetzt sind ihre Haare wieder nachgewachsen, es sind keine Krebszellen mehr nachzuweisen, sagt die Leitende Ärztin Katrin Scheinemann. Die Schüpfers, Paula, Mami Beate, Papa Stephan und Bruder Ben sind noch mal auf «ihre» Station zurückgekommen, um ihre Geschichte zu erzählen.
Am Tag der Diagnose hat es sie kalt erwischt. Paula sei immer so schlapp gewesen, «ich dachte, es ist vielleicht Eisenmangel», erinnert sich Mutter Beate Schüpfer (42). Sie nahm die Kleine mit zum Hausarzt. Sie dachte, er verschreibe ihrer Tochter vielleicht Brausetabletten oder so. Doch der Doktor war auf einmal sehr ernst: «Sie gehen nicht nach Hause. Ihre Tochter muss sofort ins Spital.» Die Mutter fuhr heim, packte schnell ein paar Sachen für sich und das Kind.
Die Schüpfers wirken wie eine Bilderbuchfamilie, lächelnde Gesichter, zwei hübsche Geschwister. Doch damals war in ihrem Leben kein Stein mehr auf dem anderen. «Man ist am Boden zerstört», sagt Vater Stephan (44). Paula kam zunächst in die Spitäler Luzern und Basel, dann nach Aarau. Die Station ist freundlich, fast gemütlich, nichts erinnert daran, dass hier Kinder dem Tod ins Auge schauen. Über den Flur stolpert, an der Hand seines Vaters, ein Würmchen, das erst das Laufen gelernt hat. 14 Kinder und Jugendliche werden hier behandelt, zwischen zwei Monaten und 18 Jahren sind sie alt, einige haben Krebs. Es gibt einen Kindsgi, eine Schule – und ganz viel Hoffnung. Alle wirken so fröhlich und zupackend wie die Pflegefachfrau Claudia Steger, die auch Paula betreut hat.
Paula tanzte nachts um drei
Das war nun das Zuhause der Schüpfers. Die Mutter zog zu Paula ins Spital. Sie und ihr Mann führen in Gunzwil LU das Restaurant «Chommle», ein Lichtblick immerhin, denn auch der Vater konnte die Arbeit so organisieren, dass er meistens bei seiner Tochter sein konnte. «Ohne die vielen wunderbaren Kollegen, die immer eingesprungen sind, wenn Not am Mann war, wäre das aber nie und nimmer gegangen», sagen die Eltern.
Paulas Leben hatte nichts mehr mit dem Leben eines anderen Mädchens in ihrem Alter gemein. Chemo, Spritzen, Blutabnahmen. Vom Kortison bekam sie das typische «Mondgesicht», schlimmer noch, es machte einen Menschen aus ihr, den sie selbst und ihre Eltern nicht kannten. «Es ruft Wesensveränderungen hervor, die Kinder schlagen, beissen, kratzen, manchmal sind sie traurig, dann wieder euphorisch», erklärt Pflegefachfrau Claudia Steger. Es gab Zeiten, da tanzte Paula nachts um drei auf dem Zimmer.
Dennoch ging Paula, wann immer es ging, zur Schule. Ihre Mutter lernte häkeln, um die Zeit im Spital zu füllen. Die bohrenden Fragen liessen beide Eltern nicht zu. Warum unsere Paula? Nur ganz wenige Kinder erkranken an Krebs, es kann jeden treffen, Schicksal. «Aber Weinen nützt nichts», sagt Beate Schüpfer. Bruder Ben litt still mit seiner Schwester. Mit zwölf Jahren ist er in einem Alter, wo Jungs nicht gern über Gefühle sprechen, «es war halt blöd», sagt er, mehr bringt er nicht heraus.
Ist Krebs heilbar? Die Hoffnung keimt bei jedem medizinischen Durchbruch. Die Chancen, den Kampf gegen den Krebs zu gewinnen, steigt weltweit, wie eine neue internationale Studie zeigt. Der Schweizer Krebsforscher Thomas Cerny ist optimistisch, warnt aber auch vor übertriebenen Hoffnungen.
Ist Krebs heilbar? Die Hoffnung keimt bei jedem medizinischen Durchbruch. Die Chancen, den Kampf gegen den Krebs zu gewinnen, steigt weltweit, wie eine neue internationale Studie zeigt. Der Schweizer Krebsforscher Thomas Cerny ist optimistisch, warnt aber auch vor übertriebenen Hoffnungen.
Kinder sind härter im Nehmen als Erwachsene
Dann kam der Tag, als Beate ihrer Tochter die paar Haare, die noch nicht ausgefallen waren, abrasieren musste, «das war das Brutalste». Paula ging mit Glatze in die Schule, die anderen Kinder hätten sich sensationell verhalten, «keiner hat gelacht».
Katrin Scheinemann, die Ärztin, gehört für die Schüpfers mittlerweile genauso zur Familie wie Pflegefachfrau Claudia Steger. Man hat zusammen gelitten, gekämpft, ist sich nahe gekommen. Katrin Scheinemann liebt ihren Beruf. «Man geht mit den Kindern durchs Leben und sieht, was aus ihnen als Teenager und junge Erwachsene wird.» Kinder können, sagt sie, aggressiver therapiert werden, ihr Körper ist noch jung und kräftig. Sie leiden – aber sie seien «härter im Nehmen» als Erwachsene. «Ein Kind lebt im Jetzt. Ein Kind hadert nicht.»
Das Mädchen mit der vier Meter langen Mutperlenkette muss jetzt nicht mehr ins Spital. Ist sie auch geheilt? Katrin Scheinemann nennt es lieber «Remission». Eine hoffnungsvolle Remission. Vier von fünf Kindern können heute in der Schweiz geheilt werden, sagt die Ärztin. Paula wird wieder leben – auch wenn sie jetzt schon Osteoporose hat, eine der Nebenwirkungen des Kortisons. Sie freut sich schon riesig auf die Reitferien im Sommer.