Für das Interview treffen wir Mirjam Christ-Crain (49) an ihrem Arbeitsort im Universitätsspital Basel. Dort ist sie als stellvertretende Chefärztin für Hormonmedizin tätig, ist Dozentin und führt ihre Forschungsprojekte durch. In den knallroten Sesseln, in denen wir sitzen, nehmen sonst Probanden für medizinische Studien Platz. Auf den Liegen bekommen sie eine Dosis MDMA verabreicht, besser bekannt als Ecstasy.
Haben Sie auch schon mal MDMA ausprobiert?
Mirjam Christ-Crain: Nein. Bis jetzt nicht.
Warum nicht?
Es hat sich nicht ergeben. Das Problem ist auch, dass ich bei meinen eigenen Studien gar nicht mitmachen darf, das wäre ethisch nicht korrekt. Ich könnte aber bei einem anderen Team mitmachen, da spricht nichts dagegen. Allerdings bin ich eher der Typ Mensch, der nicht so gern die Kontrolle verliert. Aber es ist gut möglich, dass ich es demnächst ausprobieren werde. Neugierig bin ich schon drauf.
Was passiert bei der Einnahme von MDMA?
Der Oxytocinwert steigt an. Es ist das sogenannte Kuschelhormon, man kennt es vor allem aus der Schwangerschaft, bei der Geburt, wo es die Wehen auslöst, und dem Stillen. Es entspannt, man hat sich und sein Gegenüber gern, man öffnet sich und hat Vertrauen.
Funktioniert das auch hier im Studienzentrum, also wenn man alleine an eine weisse Wand guckt?
Man wird durchgehend begleitet und überwacht. Von einem meiner Studenten, der mitgemacht hat, weiss ich, dass es eine angenehme Erfahrung sein muss. Er hat erzählt, dass die Musik schöner klingt, alles sei wunderbar farbig und liebevoll. Es ist relativ einfach, Freiwillige dafür zu finden.
MDMA ist eine Partydroge, wozu diese Studien?
Über einen Umweg. Wir behandeln am Unispital eine seltene Erkrankung mit Vasopressinmangel. Das Hormon wird genau wie das Oxytocin aus der Hirnanhangdrüse freigesetzt. Es ist für den Wasserhaushalt zuständig; wenn davon zu wenig produziert wird, zum Beispiel, wenn ein Tumor darauf drückt, oder bei einer Entzündung, müssen Patienten teils bis zu 15 Liter Wasser trinken, damit sie nicht verdursten. Zum Glück kann man das leicht beheben.
Wie das?
Mit einem Nasenspray oder einer Tablette, die ein- bis zweimal täglich angewendet werden. Es ist unglaublich spannend, wie Hormone all unsere Körperfunktionen steuern. Und die Chefin dieser Schaltzentrale ist eine Drüse, klitzeklein, grad nur so gross wie eine Erbse.
Ihr Spezialgebiet?
Genau, die Hirnanhangdrüse oder auch Hypophyse genannt. Sie sitzt in der Höhe unserer Nase mitten im Kopf. Sie steuert alle anderen Drüsen und damit die Hormone in unserem Körper. Also die Schilddrüse, Nebennieren, das ist dort, wo die Stresshormone gebildet werden, die Eierstöcke bei der Frau und die Hoden beim Mann. Und der hintere Lappen setzt zwei Hormone frei, das Vasopressin und Oxytocin.
Wie hängen sie zusammen?
Wir haben beobachtet, dass Vasopressinmangel oft mit anderen Symptomen einhergeht. Die Betroffenen haben nicht nur Probleme mit ihrem Wasserhaushalt, sondern sie sind auch ängstlicher, ziehen sich sozial zurück oder haben sexuelle Einschränkungen. Diese Symptome haben uns darauf gebracht, dass ihnen auch Oxytocin fehlen könnte. Denn es wird im genau gleichen Hirnareal hergestellt und freigesetzt. Das zu messen, ist aber nicht so einfach.
Warum?
Wenn man das jetzt bei Ihnen und bei mir messen würde, dann ist es, als ob man Hausnummern vergleicht. Man kann damit keine wissenschaftlichen Daten erheben. Wir haben alle möglichen Tests gemacht und schon fast aufgegeben. Dann haben wir nochmals mit unseren Pharmakologen gesprochen, sie führen viele Versuche mit Substanzen wie MDMA oder LSD durch. Um das Oxytocin messen zu können, muss man es erhöhen, das funktioniert mit der Einnahme von Ecstasy.
Wie läuft das ab, wenn ich bei so einer Studie mitmache?
Wenn sie von der Ethikkommission bewilligt ist, suchen wir passende Probanden. In diesem Fall machen wir ein EKG, um sicherzugehen, dass das Herz gesund ist. Zudem sollte man keine Psychopharmaka einnehmen. Es wird eine erste Blutentnahme gemacht, um verschiedene Blutwerte, auch die Stresshormone zu messen, und dann wird das MDMA verabreicht, sowohl an Gesunde als auch an Patienten mit Vasopressinmangel. Währenddessen wird immer wieder Blut abgenommen.
Und das Resultat?
Bei den Gesunden hat sich der Oxytocinspiegel um das Achtfache erhöht. Bei den Patienten, die einen Vasopressinmangel haben, ist es völlig flach geblieben. Sie haben auch null Effekt vom Ecstasy gespürt, also die Euphorie und das Vertrauen, das sonst damit einhergeht. Damit konnten wir erstmals beweisen, dass es einen Mangel an Kuschelhormon gibt.
Was bedeutet das?
Es öffnet ein neues Forschungsfeld. Es ist möglich, dass der Oxytocinmangel ein neuer Phänotyp von neuropsychiatrischen Krankheiten ist. Dazu gibt es bereits Studien mit Oxytocin bei Angststörungen, Posttraumatischem Stresssyndrom und auch bei Autismus. Das war aber alles bisher nicht sehr vielversprechend.
Können wir nicht einfach Oxytocin einnehmen, um psychische Erkrankungen zu heilen oder glücklicher zu werden?
Ich glaube, das wäre zu einfach. Zwar ist es möglich, dass gewisse Betroffene von Angststörungen oder mit Posttraumatischem Stresssyndrom einen Oxytocinmangel haben, das erklärt aber sicher nicht alle Symptome, die Psyche ist extrem komplex. Man kann das nicht so einfach wie zum Beispiel bei der Schilddrüse regulieren. Aber womöglich kann der MDMA-Test bei einer bestimmten Gruppe von Patienten zum Einsatz kommen und einen Mangel aufzeigen – was dann in einer entsprechenden Therapie mit Oxytocin resultieren könnte. Das ist aber noch Zukunftsmusik. Wir werden dies in weiteren Studien untersuchen.
Sie wurden kürzlich mit dem renommierten Otto-Naegeli-Preis ausgezeichnet, ist das für diese Entdeckung?
Bekommen habe ich ihn nicht für diese einzelne Forschungsarbeit, sondern für meine bisherige wissenschaftliche Leistung. Insbesondere für die Entdeckungen im Zusammenhang mit der Hirnanhangdrüse, Oxytocin und dem Wasserhaushalt.
Was bedeutet ein solcher Preis?
Sehr viel. Das ist eine wahnsinnige Anerkennung für all die Arbeit, die man gemacht hat. Und es ist auch ein Signal, dass in Zukunft weitere Forschungsarbeiten erwartet werden. Der Preis ist mit 200'000 Franken dotiert, dieses Geld fliesst in unsere nächsten Studien. Das ist sehr wichtig, denn von der Pharmabranche werden wir nicht unterstützt.
Warum unterstützt die Pharmaindustrie Sie nicht?
Es lohnt sich nicht. Wir machen Forschung auf einem Gebiet, wo es keine teuren Medikamente gibt, das ist deshalb für die Pharmaindustrie nicht spannend. Oxytocin und Vasopressin sind günstig, und es gibt beides als Nasenspray. Unsere Forschungen werden alle vom Schweizerischen Nationalfonds und von kleineren Stiftungen unterstützt.
Sie sind erst die fünfte Frau, die mit diesem Preis ausgezeichnet wurde, woran liegt das?
Den Preis gibt es seit den 1960er-Jahren, damals waren noch weniger Frauen in der Medizin und insbesondere der Forschung tätig. Und bislang sind die Preise immer in die Laborforschung gegangen. Es ist die erste Auszeichnung für die patientenorientierte Forschung, wie wir sie betreiben. Das freut mich sehr, denn das wurde lange Zeit als Zweitklassen-Forschung betrachtet.
Warum wurde Ihre Art von Forschung als zweitklassig behandelt?
Die Meinung war lange, dass richtige Forscher im Labor sitzen und pipettieren und exakte Resultate auf zellulärer Ebene erzielen. Klinische Forschung funktioniert ganz anders, sie ist viel näher am Patienten. Ich komme in meiner Sprechstunde auf Ideen für eine weitere Studie – so wie mit dem Wasserhaushalt und dem Oxytocinmangel. Und mein Eindruck ist, dass sich mehr und mehr Frauen in der Medizin eher für diese Richtung der Forschung interessieren. Denn man hat auch den Austausch mit Betroffenen, es braucht viel Empathie, und es ist eine Forschungskarriere, die sich meiner Meinung nach eher mit dem Familienleben vereinbaren lässt.
Sie sind Mutter von drei Kindern, wie haben Sie gleichzeitig Ihren Weg als Professorin geschafft?
Ich würde nie behaupten, dass es einfach ist. Man muss es wirklich wollen und seinen Beruf lieben, sonst funktioniert es nicht. Hinzu kommt, dass wir Unterstützung hatten. Meine Eltern und Schwiegereltern sind in Basel, und wir hatten von Anfang an zwei Nannys. Sie haben uns den ganzen Haushalt geschmissen, das macht vieles leichter. Mir war es wichtig, dass ich zum Abendessen daheim war und die Kinder morgens zur Schule begleiten konnte. Aber in die Krippe bringen, Wäsche machen, Einkaufen und Kochen – ich weiss nicht, ob ich das dann durchgezogen hätte. Wichtig ist auch die Organisation und Planung.
Mirjam Christ-Crain ist im Kleinbasel aufgewachsen und habilitierte sich 2007 an der Universität Basel als eine der Jüngsten. In ihrer Jugend holte sie als Mittelstreckenläuferin Medaillen für die Old Boys. Von 2009 bis 2014 hatte sie eine Forschungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds inne. Seit 2014 ist sie Professorin für Endokrinologie sowie stellvertretende Chefärztin am Universitätsspital Basel. Sie hat massgeblich dazu beigetragen, die klinische Forschung in Basel an die nationale Spitze zu bringen. Sie lehrte und förderte zahlreiche Talente und wurde mehrfach mit dem «Best Teaching Award» ausgezeichnet. Die Medizinerin ist mit dem Architekten Emanuel Christ verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Basel.
Mirjam Christ-Crain ist im Kleinbasel aufgewachsen und habilitierte sich 2007 an der Universität Basel als eine der Jüngsten. In ihrer Jugend holte sie als Mittelstreckenläuferin Medaillen für die Old Boys. Von 2009 bis 2014 hatte sie eine Forschungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds inne. Seit 2014 ist sie Professorin für Endokrinologie sowie stellvertretende Chefärztin am Universitätsspital Basel. Sie hat massgeblich dazu beigetragen, die klinische Forschung in Basel an die nationale Spitze zu bringen. Sie lehrte und förderte zahlreiche Talente und wurde mehrfach mit dem «Best Teaching Award» ausgezeichnet. Die Medizinerin ist mit dem Architekten Emanuel Christ verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Basel.
Das können Sie gut?
Ja. Meine Kinder sind inzwischen Teenies, und sie sind manchmal ganz froh, wenn ich nicht zu Hause bin. Aber als Frau muss man wirklich gut planen, wenn man Medizinerin und Mutter sein möchte. Als ich mit dem Studium angefangen habe, kam eine Expertin in die Vorlesung. Sie sagte, wer Kinder haben will, tut das am besten während dem Studium und sonst erst mit 40. Das hat mich damals erschreckt, und heute kann ich sagen, dass das nicht stimmt. Aber die Ausbildung dauert mit dem FMH ja auch ewig – das mit Kindern zu vereinbaren, ist eine Herausforderung.
Was hat Sie zu den Hormonen gebracht?
Darüber war ich mir früh klar, es ist ein eher intellektuelles Gebiet in der Medizin und sehr spannend. Die Hormone bestimmen über den ganzen Körper, es ist wie ein Puzzle, das man zusammensetzt. Hinzu kommt der Austausch mit den Patienten. Und das Schöne ist, dass man oft leicht etwas verbessern kann. Bei einer Schilddrüsenunterfunktion genügt eine Tablette. Und die Endokrinologie ist planbarer, es gibt weniger Notfälle als in anderen Gebieten der Medizin. Ich kann mit meiner Familie zu Abend essen und nachher wieder von daheim arbeiten. Zum Beispiel in der Chirurgie oder Kardiologie geht das schlechter. Ausserdem habe ich schnell gemerkt, dass ich manuell nicht so geschickt bin. Für die Patienten ist es ein Glück, dass ich nicht Chirurgin geworden bin.
Momentan reden alle von Longevity, also von Langlebigkeit. Kann man mit bestimmten Hormonen länger jung bleiben?
Natürlich haben Hormone einen Einfluss. Wer immer gestresst ist und einen zu hohen Cortisolspiegel hat, bei dem leidet langfristig die Gesundheit. Aber es gibt kein Hormon, das uns 120 Jahre alt werden lässt. Letztendlich wird Ihnen jede Koryphäe das erzählen, was wir schon alle wissen: genug schlafen, nicht zu viel trinken, nicht rauchen und gute soziale Kontakte haben. Es sind die wichtigsten Faktoren für ein langes und gesundes Leben.
Was ist Ihr Ziel für die zweite Lebenshälfte?
In der Forschung möchte ich das Gebiet um den Oxytocinmangel vertiefen und erweitern. Ich habe hier in Basel so viele Möglichkeiten für spannende Projekte in der Forschung, die ich mit meiner Arbeit als Ärztin und Dozentin verbinden kann, in einer Stadt, in der ich mich wohlfühle.