Fit oder fett
Ein starker Rücken kennt keinen Schmerz - oder doch?

Punkto Rückenschmerzen und deren Behandlung gibt es neue Erkenntnisse – oder doch zumindest eine interessante Theorie.
Publiziert: 14.02.2017 um 10:02 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 01:26 Uhr
Die Einnahme von bestimmten Schmerzmitteln hilft bei Rückenschmerzen nicht immer gleich.
Foto: Thinkstock Images
Werner Vontobel

Kein Rückenschmerz ist gleich wie der andere, doch zumindest für die Schmerzen im Kreuz, wie sie etwa beim Wandern oder bei einer Stehparty entstehen, gibt es ein klares Muster. Es fängt damit an, dass man den Kopf nach vorne neigt und den oberen Rücken leicht krümmt. Um das Gleichgewicht zu wahren, schiebt man das Becken nach vorne. So entsteht ein leichter Hohlrücken. Da nun aber die Statik immer noch leicht nach vorne geneigt ist, ist der Rückenstrecker ständig damit beschäftigt, den Oberkörper nach hinten zu ziehen. Das schmerzt.

Schwäche der Wirbelsäulenmuskulatur

Das brachte den amerikanischen «Muskelpapst» Arthur Jones in den 70er-Jahren auf die Idee, Rückenschmerzen mit gezieltem Muskeltraining zu heilen. Schon damals führten Forscher den Schmerz auf eine Schwäche der Wirbelsäulenmuskulatur zurück. Das Problem bestand darin, ein Gerät zu entwickeln, mit dem man den tief liegenden Rückenstrecker isoliert trainieren kann. Jones soll über 100 Millionen Dollar in die Entwicklung seiner Geräte (Markenname Nautilus) gesteckt haben. Mitte der 80er-Jahre konnte er seinem Schweizer Freund und Geschäftspartner Werner Kieser melden: Problem gelöst.

Seither kann jedermann in den Kieser Studios auf dem Gerät F3 seinen erector spinae stärken. Meist verbessert sich die Kraft innerhalb weniger Wochen markant. Auszug aus der Kieserwerbung: «Bei Menschen mit Rückenbeschwerden ist diese Muskelgruppe fast immer zu schwach. In den meisten Fällen hilft eine gezielte Kräftigung der tiefen Rückenstrecker. Diese lässt sich mit Hilfe spezifischer Trainingsmaschinen erzielen, wie sie bei Kieser Training zum Einsatz kommen. Sogar chronische Beschwerden lassen sich lindern oder beseitigen.»

Kieser habe den Unterschied nicht begriffen

So weit die Kieser-Theorie und -Praxis. Jetzt hält einer dagegen: Der Schmerztherapeut Dr. Jörg Stuckensen. Seine Arztpraxis liegt nur wenige Hundert Meter von Kiesers Hauptsitz an der Sihl entfernt. In seinem neuen Buch «chronischer Schmerz ist nur Verspannung» gibt es ein Kapitel mit dem Titel «Der Märchen vom starken Rücken». Das zielt direkt auf Kiesers Werbespruch «Ein starker Rücken kennt keinen Schmerz». Doch warum soll das falsch sein? Weil, so Stuckensen, Kieser den Unterschied zwischen überdehnt und konzentrisch verspannt nicht begriffen habe.

Wie bitte? Stuckensen argumentiert so. Erstens gibt es im Körper ein Zusammenspiel zwischen allen Muskeln, das von den Faszien orchestriert wird. Im Fachjargon der Faszien-Spezialisten spricht man von Tensegrity, eine Spannung die über den ganzen Körper aufrecht erhalten wird. Zweitens hat jeder Muskel seinen Gegenspieler. Es gibt immer einen Beuger und einen Strecker. Der Gegenspieler des Rückenbeugers sind die Bauchmuskeln. Der Gegenspieler des Armbeuger, des Bizeps, ist der Triceps, der Armstrecker. Ein Blick in jedes Fitnesstudio zeigt, dass die Beuger viel mehr trainiert werden als die Strecker. Also muss man das doch ausgleichen, indem man auch den Strecker trainiert. Ein Punkt für Kieser, scheint es.

Wir wären längst total verkrümmt

Hier kommt nun Stuckensens raffinierter Gegenzug: Strecker und Beuger sind durch die Tensegrity so miteinander verbunden, dass sie immer gleichzeitig trainiert werden. Wäre das nicht so, wären wir längst total verkrümmt, denn der Beuger wird fast immer mehr beansprucht. Das Zusammenspiel ist aber so organisiert, dass der Beuger im Endeffekt dominiert. «Wenn tagsüber der Rückentrainiert wird und wenn nachts dann die Muskelmasse erhöht wird, so imponiert das der Frontseite nicht, weil sie ihre Muskalatur automatisch anpasst. Wär das nicht so, würde eine erhebliche muskuläre Dysbalance entstehen.» Da dieser Anpassungprozess aber Zeit brauche, so Stuckensen, könne es durchaus sein, dass ein Training des Rückenstreckers vorübergehend Erleichterung bringe. Die halte allerdings nicht an, weil der Beuger aufholt.

Das leuchtet intuitiv ein. Es gibt in unserem Körper Millionen von Prozessen, die wir nicht oder jedenfalls nur beschränkt steuern können. Der genetische Autopilot übernimmt. Zum Glück, denn er weiss es besser. Offenbar ist das auch beim Muskeltraining so. Wir meinen, bewusst ausgewählte Muskeln trainieren zu können, aber letztlich bestimmt die automatische Steuerung wo Muskeln aufgebaut werden.

Was heisst das nun in der Praxis? Leider ist Stuckensens Buch im Bezug auf konkrete Übungen sehr sparsam. Generell geht es darum, die Bauchmuskeln zu strecken und zu lockern. Das kann man beispielsweise dadurch erreichen, dass man die Beine vom Becken an über die Bett- oder Tischkante baumeln lässt und gleichzeitig die Hände über den Kopf streckt. (Das hilft, wie der Autor bestätigen kann, auch gegen Rückschmerzen bei Wanderungen und Velotouren). Auch für die morgendliche Meditation kann man die Übung nützen. Zweite Übung: Man lege sich flach auf den Rücken, Arme am Körper, atme voll aus und hebe und senke kräftig den Bauch. Einatmen. Mehrmals wiederholen. Das soll man mindestens sechs Wochen lang regelmässig machen und in dieser Zeit auf alle Kräftigungsübungen verzichten, vorne und hinten. Danach darf man wieder voll «kiesern».

Kopf hoch, Blick zum Horizont

Die Bauchrollen-Übung bewirkt, dass die Rippen und Wirbelsäule kräftig massiert und gelockert werden. «Es ist», so Stuckensen, «als würden die Karten neu gemischt.» Der Körper habe dadurch die Chance, sich daran zu erinnern, wie er das Zusammenspiel der Muskeln damals in der Jugend organisiert habe. Mit dieser Übung könne man dem Formengedächtnis des Körpers auf die Sprunge helfen. Sonst noch etwas? Ja. Kopf hoch, Blick zum Horizont, beim Gehen die Hüften einsetzen, erst bewusst, dann geht es automatisch.

Doch weiss es Stuckensen wirklich besser als Kieser? Um diese Frage zu beantworten, müsste man viel wissenschaftliche Literatur über Faszien und über neuronale Steuerung des Muskelaufbaus studieren. Vermutlich müsste man für ein definitives Urteil sogar neue Forschungsergebnisse abwarten. Aber man kann das eine oder andere auch einfach ausprobieren. Schädliche Nebenwirkungen sind nicht zu befürchten.

Nächste Woche: Kiesers Antwort und was Stuckensen dazu sagt.

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