Sie fühlen sich zu dick. Nicht schön genug, nicht gut genug. Hungern. Erleiden Essanfälle. Stecken sich den Finger in den Hals. Treiben exzessiv Sport. Sie – das sind Personen, die an einer Essstörung leiden. Betroffen sind etwa 3,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Unter ihnen auch Männer – sie machen circa ein Viertel aller Betroffenen aus. Während krankhaftes Essverhalten bei Frauen relativ gut erforscht ist, weiss man über die männliche Version von Essstörungen deutlich weniger.
Darum werden nun auch Männer im Hinblick auf das Erscheinungsbild, die Häufigkeit, die Ursache sowie die Behandlung von gestörtem Essverhalten und Körperbildstörungen zunehmend untersucht. Denn: «Die jetzigen Instrumente zur Diagnose von Essstörungen greifen zu kurz. Wesentliche Aspekte, die für Männer relevant sind, werden nicht abgefragt und in der Behandlung noch zu wenig spezifisch aufgegriffen», sagt Stephan Trier. Er ist ärztlicher Direktor der Klinik Aadorf – eines Thurgauer Instituts, das unter anderem auf Essstörungen spezialisiert ist.
Nicht nur das Schönheitsideal ist schuld
Während bei Frauen der Hauptfokus auf dem Schlanksein ist, liegt er bei Männern typischerweise auf dem Schlank- und Muskulössein. Angetrieben von der Sorge, zu schmächtig auszusehen, besteht bei Männern eine höhere Wahrscheinlichkeit von Substanz- und Stereoidmissbrauch sowie exzessivem Fitnessverhalten. In diesem Zusammenhang spricht die Psychotherapeutin Andrea Wyssen auch von der Muskeldysmorphie; der Muskelsucht.
Gründe für eine Essstörung gibts – unabhängig vom Geschlecht – viele. «Hohe Körperunzufriedenheit, Druck des Schönheitsideals, Diäthalten und depressive Symptome sind bedeutsame Faktoren, die zur Entwicklung einer Essstörung beitragen können», erklärt Trier. Auch hoher Perfektionismus, Schwierigkeiten bei der Impuls- und Emotionsregulation, Mobbingerfahrungen oder Übergewicht in der Kindheit können Auslöser sein.
Männer brauchen eigene Behandlungsprogramme
Als Betroffener über seine Essstörung zu sprechen, ist schon schwierig genug. Für Männer ist die Hürde aber besonders hoch. «Weil Essstörungen so stark als frauenspezifische Krankheiten verankert sind. Und weil es im Konflikt zum traditionellen Männerbild steht», sagt Trier. So sollen Männer zwar gut aussehen, stark und gesund sein, dabei aber nicht bemüht wirken.
Haben sie Probleme mit dem Essen oder dem eigenen Körperbild, schämen sie sich oft, darüber zu reden. Hinzu kommt: «Bis anhin wurden die meisten Behandlungsprogramme von und für Frauen entwickelt. Männer fühlen sich davon wenig angesprochen.» Darum soll es in der Klinik Aadorf bald auch spezielle Therapieformen für Männer geben.
Essen als Flucht vor negativen Gefühlen
Ein ungesundes Essverhalten zeigt sich nicht nur durch die Art und Menge der Nahrungsaufnahme. Es zeichnet sich auch dadurch aus, welche Bedeutung das Essen hat. «Unkontrolliertes und anfallsartiges Essen etwa kann die Funktion der Emotionsregulation haben oder eine Art Flucht vor negativer Selbstaufmerksamkeit darstellen», weiss Psychotherapeutin Andrea Wyssen.
Auch ein starres Festhalten an einem vermeintlich gesunden Ernährungsverhalten sieht sie kritisch. So kann es sehr zeitintensiv sein und gar zur sozialen Isolierung führen – weil gemeinsames Essen mit anderen kaum noch möglich ist. Sich überhaupt Gedanken über die Figur zu machen, soll man laut Wyssen aber nicht verteufeln. Im Gegenteil: «Sie können nämlich auch Genuss, Selbstfürsorge und Selbstakzeptanz beinhalten.»
Die drei bekanntesten Essstörungen sind Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und Binge-Eating (Esssucht). Magersüchtige haben eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers. Ihre Angst vor einer Gewichtszunahme ist riesig – selbst wenn sie schon untergewichtig sind. Die gleiche Furcht kennen Bulimiekranke. Weil viele von ihnen normalgewichtig sind, ist die Krankheit praktisch unsichtbar. Aber mehrmals wöchentlich erleiden sie einen Essanfall. Dabei stopfen sie innert kurzer Zeit bis zu 10’000 Kalorien in sich hinein. Dann kommt das schlechte Gewissen. Sie müssen das Gegessene wieder loswerden: durch Erbrechen, den Missbrauch von Abführmittel oder exzessivem Sporttreiben. Essattacken erleben auch Binge-Eating-Patienten – allerdings ohne kompensatorische Massnahmen zu ergreifen. Verbunden mit Ekelgefühlen gegenüber sich selbst, Deprimiertheit und Schuldgefühlen sind die Anfälle trotzdem.
Die drei bekanntesten Essstörungen sind Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und Binge-Eating (Esssucht). Magersüchtige haben eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers. Ihre Angst vor einer Gewichtszunahme ist riesig – selbst wenn sie schon untergewichtig sind. Die gleiche Furcht kennen Bulimiekranke. Weil viele von ihnen normalgewichtig sind, ist die Krankheit praktisch unsichtbar. Aber mehrmals wöchentlich erleiden sie einen Essanfall. Dabei stopfen sie innert kurzer Zeit bis zu 10’000 Kalorien in sich hinein. Dann kommt das schlechte Gewissen. Sie müssen das Gegessene wieder loswerden: durch Erbrechen, den Missbrauch von Abführmittel oder exzessivem Sporttreiben. Essattacken erleben auch Binge-Eating-Patienten – allerdings ohne kompensatorische Massnahmen zu ergreifen. Verbunden mit Ekelgefühlen gegenüber sich selbst, Deprimiertheit und Schuldgefühlen sind die Anfälle trotzdem.
Gefangen in der Essstörung
Zu dick fand sich Alexander Fässler (41) nie. Trotzdem ist er in eine Mager- und Sportsucht reingeschlittert.
Alexander Fässler* ist Anfang 20, als er sich 2001 als homosexuell outet. Er ist in einen Mann verliebt, der seine Gefühle nicht erwidert. Fässler begehrt ihn trotzdem. Irgendwann fängt er an, sich mit ihm zu vergleichen. Er achtet darauf, was sein Schwarm isst oder wie viel Gewicht er im Fitnesscenter stemmen kann.
Ein Konkurrenzdenken entsteht. «Wenn wir uns zum Velofahren getroffen haben, habe ich davor schon zwei Extrarunden gedreht», erzählt Fässler. Sein Zwang, exzessiv Sport zu treiben, wird immer grösser. Der Zürcher wiegt sein Essen ab, zählt penibel Kalorien, stellt sich mehrmals täglich auf die Waage. Er ist zahlenfixiert.
Dreiste Lügen und Gefühlskälte
«Vermutlich, weil es das Einzige war, das ich nach meinem Outing unter Kontrolle hatte. Das gab mir Sicherheit», begründet der heute 41-Jährige. Das Wenig-Essen wird zur Sucht. So löffelt er zum Zmittag manchmal nur ein Gläschen Babybrei oder knabbert an einem Rüebli. Sein Ziel: im ständigen Kaloriendefizit leben. Dass sein Verhalten ungesund ist, merkt er selber. Einfach so aufhören geht aber nicht.
Weder eine Ernährungsberaterin noch ein Psychiater können Fässler helfen; die Essstörung wird immer schlimmer. Steht ein gemeinsames Essen mit Freunden und Familie an, tischt er ihnen Lügen à la «Ich hab schon gegessen» auf – oder lässt das Essen heimlich in der Serviette verschwinden. Fässler untergräbt nicht nur sein Hungergefühl, sondern auch seine Emotionen. «Ich verlor meine Lebensfreude, nahm meine Umgebung kaum noch wahr und wurde gefühlskalt», blickt er zurück.
Klinikaufenthalt als Auffangnetz
Der 1,81 Meter grosse Mann wiegt nur noch 58 Kilo. Er muss in eine Klinik, sonst droht ihm ein notfallmässiger Spitalaufenthalt. Dort hätte er kaum noch Freiheiten, würde über eine Magensonde ernährt werden müssen. Am Abend vor dem Eintritt weint Fässler zum ersten Mal nach langer Zeit. Auch aus Erleichterung, weil ihm endlich jemand die Entscheidung, was er wann essen muss, abnimmt.
«Ich war in meiner Sucht gefangen und nur noch erschöpft», erinnert sich Fässler. Er beschreibt die Klinik als Auffangnetz. Vollständig heilen kann ihn der Aufenthalt aber nicht. Nach fünf Monaten packt Fässler seine Koffer: «Ich konnte nicht ewigs 24/7 betreut werden. Ich brauchte eine Veränderung, um weiterzukommen.»
Befreiung nach fast zehn Jahren
Im Alltagstrott wieder angekommen, fällt Fässler in alte Muster zurück. Er geht erneut zum Psychiater, stellt aber eine Bedingung: Die Waage soll aus seinem Leben verbannt werden. Statt der wöchentlichen Gewichtskontrolle gibts fortan zusätzliche Hilfe. Eine Fachperson, durch die Arbeitsgemeinschaft Essstörungen vermittelt, steht ihm eineinhalb Jahre lang zur Seite. Diese Art Therapie hilft Fässler wieder aus dem Loch, er findet neue Hobbys – auch ausserhalb des Sportbereichs.
Das Ende seiner Essstörung zu definieren, fällt Fässler schwer. Er machts an mehreren kleinen Meilensteinen fest, wie er sie nennt. Noch immer achtet er auf eine gesunde Ernährung, aber seit rund acht Jahren gehört etwa ein Schöggeli zum Kaffee oder ein gefüllter Buffet-Teller wieder dazu. «Und letzten Silvester ass ich mit Lust Käsefondue und zum Dessert ein Stück Schokoladenkuchen!», freut sich Fässler.
10'000 Kalorien als Abendsnack
Einst schien ihm Bulimie die Lösung für einen schlanken Körper zu sein. Dann wurde die Krankheit zum Fluch. Über zwei Jahrzehnte dauerte es, bis Dominik Bösch sich von der schlimmen Ess-Brech-Sucht lösen konnte.
«Unvorstellbar», kommentiert Dominik Bösch* den Essensberg, der vor ihm aufgetürmt ist. Er stellt dar, was der heute 53-Jährige früher gegessen hat. Eineinhalb Kilo Brot, 250 Gramm Butter, drei Tafeln Schokolade, drei Guetslipackungen und einen Kübel Glace. Die Menge hat er nicht pro Tag, sondern innert weniger Stunden während eines Essanfalls verdrückt.
22 Jahre lang litt Bösch unter Bulimie. Vor Krankheitsbeginn war er übergewichtig, wog bei einer Grösse von 1,69 Meter 80 Kilo. Gedanken über seine Ernährung hat er sich bis dahin nie gemacht. Dann stand eine grosse Operation an, mit zweijähriger Rehabilitation. Bösch wollte dafür fit werden. Er fing an, unersättlich Ausdauersport zu treiben, machte eine Radikaldiät und nahm 15 Kilo ab.
Abends brach der Damm
Irgendwann las er etwas von Bulimie – daran, was für ein Artikel das war, erinnert er sich nicht mehr. Er dachte aber: «Cool, so kann ich alles essen, was ich will, ohne zuzunehmen.» Die Ess-Brech-Sucht erschien ihm als «elegante Lösung». Heute weiss er, dass Bulimie nie die Lösung für irgendwas ist. Niemand aus Böschs Umfeld bemerkte, was abging. Nur seine Frau wusste davon – ihr hatte er es anvertraut.
Tagsüber ass er zwar kontrolliert, aber nicht besorgniserregend. Der Schwyzer vergleicht sich mit einem Dampfkochtopf: «Ich habe stets versucht, meinen Gelüsten standzuhalten. Irgendwann wurde das Verlangen nach Essen aber zu gross.»
Bis zu sechsmal wöchentlich stürmte er spätabends noch in einen Laden, kaufte alles Mögliche zusammen, erlitt Essanfälle. Danach kam das schlechte Gewissen. Alles, was er soeben in sich reingestopft hatte, musste raus. Er ekelte sich vor sich selbst. An Tagen wie diesen hängte er bis um 3 Uhr nachts über der Schüssel. Um halb sieben klingelte sein Wecker wieder.
Ein Jahrzehnt lang Therapie
Die Krankheit belastete nicht nur Böschs Psyche, sondern auch seine Ehe und seinen beruflichen Erfolg. Nach fünf Jahren holte er sich professionelle Hilfe. Die Chemie zwischen seinem Psychiater und ihm stimmte nicht, Bösch brach ab.
Zwei Jahre später nahm seine Frau das Telefon in die Hand, vereinbarte einen Termin bei einem anderen Psychiater. Bösch wagte einen zweiten Anlauf. Ein Jahrzehnt ging er zur Therapie – es nützte nur bedingt, wieder brach er ab. Die Behandlung bereut hat er nicht: «Es ist wahnsinnig wichtig, sein Problem jemandem anzuvertrauen und zumindest zu versuchen, sich helfen zu lassen.»
Stress im Kopf bleibt
2011 – drei Jahre nach der letzten Behandlung – erlitt Bösch die letzte Ess-Brech-Attacke. Etwas Bestimmtes passiert ist nicht. Vorgenommen, dass es jetzt das letzte Mal ist, hat er sich davor schon tausendfach. Eine Woche verging. Zwei Wochen vergingen. Irgendwann waren es vier Monate. Mittlerweile sind es fast neun Jahre.
Jetzt sitzt er in einem Zürcher Café und schlürft einen Cappuccino. Vor ihm steht ein Korb mit zwei Gipfeli. Bösch greift zu, isst eins. Noch ist er entspannt. Aber wenn das nächste grosse Essen mit Freunden bevorsteht, beginnt der Stress in seinem Kopf wieder von vorne. Die Extrakalorien, die er dann zu sich nimmt, müssen kompensiert werden. Nicht mehr durch Erbrechen, aber durch einen leichten Zmittag oder eine Zusatzrunde auf dem Velo.
* Namen geändert