Bis vor kurzem gab es punkto Alzheimer wenigstens eine «Gewissheit»: Die Krankheit kommt von den Amyloid-Ablagerungen an den Gehirnzellen. Diese werden regelmässig bei der Autopsie von Alzheimer-Opfern gefunden.
Seit einigen Jahren kann man sie auch mit Scannern entdecken. Die Amyloid-Ablagerungen sind auch heute noch das Kennzeichen, das Alzheimer von anderen Formen von Altersdemenz unterscheidet.
Bisher eher einseitige Forschung
Deswegen hat sich die Alzheimer-Forschung inzwischen fast ausschliesslich auf Substanzen konzentriert, die Amyloid-Ablagerungen auflösen. Davon hat man inzwischen über 200 gefunden, doch keine hat die Symptome verbessert, und in etlichen Fällen hat sich sogar eine deutliche Verschlechterung eingestellt.
Das war auch der Grund, warum Dale Bredesen, Chef des Instituts zur Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen an der University of California in Los Angeles, neue Wege gesucht – und gefunden hat. Die Ergebnisse seiner Forschungen hat er jetzt in seinem Buch «The End of Alzheimer's: The First Program to Prevent and Reverse Cognitive Decline» aufgeschrieben. Das wichtigste in Kürze:
Jede Synapse einer Gehirnzellen hat einen Rezeptor, der gleichsam die Buchhaltung führt: Sind noch genügend Reserven da um Signale zu empfangen und zu senden? Wenn ja, wird dieser Rezeptor in zwei Teile zerlegt und die Gehirnzelle überlebt. Wenn nein, wird der Rezeptor in vier Teile geschnitten und die Zelle stirbt.
Einer der vier Teile ist die Amyloid-Plaque, die ihrerseits wiederum anderen Rezeptoren das Signal zur Teilung gibt. Das Problem ist nicht, dass Gehirnzellen überhaupt sterben. Das ist sogar sehr erwünscht. Entscheidend ist vielmehr das Verhältnis von absterbenden und neu gebildeten Zellen.
Die Plaque zu beseitigen, nützt also nichts. Vielmehr geht es – ähnlich wie bei der Osteoporose – darum, das gestörte Gleichgewicht von Auf- und Abbau (der Gehirn-, beziehungsweise Knochenmasse) wiederherzustellen. Zu diesem Zweck wiederum muss man wissen, woher dieses Ungleichgewicht bei einigen Menschen kommt – und bei anderen nicht. Bredesen und sein Team sind dieser Frage nachgegangen. Bisher haben sie 36 mögliche Einflussfaktoren entdeckt, also in Zellkulturen und Tierversuchen nachgewiesen. Dazu Bredesen: «Ich glaube, mit diesen 36 haben wir die wichtigsten entdeckt, vielleicht sind es am Schluss ein paar wenige mehr.»
Mit einer Pille kann Alzheimer nicht bekämpft werden
Damit stand für Bredesen schon mal eines fest: Alzheimer kann man nicht mit einer Pille bekämpfen. Wenn schon, bräuchte es 36 chemische Substanzen, und dabei müsste man Abertausende von möglichen Neben- und Wechselwirkungen beherrschen. Unmöglich!
Aber es gibt eine Alternative – ein Protokoll. Will heissen: Der Patient muss seine Lebens- und Ernährungsweise so ändern, dass möglichst viele und die wichtigsten der 36 möglichen Ursachen ausgeschaltet werden. Daran haben Bredesen und sein Team die letzten zehn Jahre gearbeitet, und in den letzten zwei Jahren haben sie damit Hunderte von Patienten geheilt, darunter auch sehr fortgeschrittene Fälle.
Wie soll das möglich sein? Nun, die Forschungsergebnisse von Bredesen legen den Schluss nahe, dass Alzheimer eher ein Schonprogramm ist als eine Krankheit. Werden die Ressourcen knapp, konzentriert sich das Gehirn auf die lebensnotwendigen Funktionen, und zwar so, dass die Funktionsfähigkeit wiederhergestellt werden kann, wenn sich die Versorgungslage verbessert. Genau das ist das Ziel, das Bredesen mit seinem Protokoll erreichen will. Zu diesem Zweck hat er seine 36 Faktoren in drei Kategorien unterteilt: Chronische Entzündungen, Mangel an Nährstoffen und Umweltgifte.
Genetische Disposition und Umwelteinflüsse
Zuerst geht es darum, bei jedem einzelnen Patienten festzustellen, woran es am meisten hapert und wo in erster Linie angesetzt werden muss. Dabei spielt auch eine genetische Veranlagung eine wichtige Rolle. Wer über das so genannte ApoE4-Gen verfügt, reagiert sehr empfindlich auf chronische Entzündungen, hat damit ein rund vierfach grösseres Alzheimer-Risiko, und leidet oft schon mit 40 oder 50 unter der Krankheit. Hier ist eine frühe Erkennung besonders wichtig. Die weitere Abklärung – für alle Patienten – umfasst einen ganzen Katalog von rund 40 Blut- und Urin-Analysen.
2014 hat Bredesen eine erste Studie mit zehn Patienten veröffentlicht. Neun davon konnten geheilt werden. Inzwischen hat er Hunderte von Patienten behandelt und ist immer noch daran, aus den (gelegentlichen) Misserfolgen zu lernen und sein Protokoll zu verbessern. Schwierigkeiten gibt es vor allem bei Patienten, deren Hauptproblem die Umweltgifte sind – wie etwa Quecksilber oder Elektromagnetische Felder. Ein weiteres Problem ist das Durchhaltevermögen. Schliesslich geht es darum, lebenslange Gewohnheiten zu ändern. Das gelingt nicht allen. Entscheidend ist dann oft, ob ein noch gesunder Lebenspartner oder die Kinder die notwendige Unterstützung bieten können.
Bredesen-Protokoll kann zur Prophylaxe angewendet werden
Wer geistig noch einigermassen fit ist, kann oder sollte das Bredesen-Protokoll auch vorbeugend anwenden, ohne aufwendige Untersuchungen. Punkt 1 betrifft die Ernährung: Die meisten Alzheimer-Patienten können weder Fett noch Kohlenhydrate gut verbrennen, weil sie beides immer mischen. Um das zu korrigieren, muss man erstens zwischen dem Nachtessen und dem Frühstück mindestens 12 Stunden fasten. Wer das ApoE4-Gen hat, muss 16 Stunden durchhalten. Zudem sollte man alle schnell verdaulichen Kohlenhydrate (Zucker, Teigwaren, Brot, Süssigkeiten) möglichst meiden und stattdessen mässig Eiweiss (ca. 1 Gramm pro Kilo Gewicht und Tag), viel gesundes Fett (Olivenöl, Kokosnussöl, Butter) und Gemüse essen. Weiter empfiehlt es sich, die Glukosespeicher mit Sport (minimum 150 Minuten pro Woche) zu leeren. So lernt die Leber wieder, Ketonkörper zu produzieren und flexibel von Fett- zu Kohlehydratverdauung zu wechseln.
Bredesen nennt das Ketoflex 12/3-Diät. Vor allem durch deren hohen Anteil an Gemüsen und Beeren wird auch die Versorgung mit Nährstoffen verbessert. Die meisten Alzheimer Patienten leiden zudem an einem durchlässigen Darm und unter einem Mangel an den Vitaminen B (vor allem B6 und B12), C und D, Magnesium und Zink (zu viel Kupfer, zu wenig Zink) und sollten entsprechende Zusatzstoffe zuführen. Auch Lithium hilft. Mit dieser Ernährung sind schon mal die grössten Vitalstoffmängel beseitigt. Um chronische Entzündungen abzubauen, sollte man zudem den Stress minimieren. Dabei helfen Meditation oder Aufenthaltte in der Natur.
Das Bredesen-Protokoll unterscheidet sich übrigens nur unwesentlich von der Therapie, mit der an der Onkologischen Abteilung des Universitätsspitals von Istanbul Krebs bekämpft wird. Das ist kein Zufall. Alle Zivilisationskrankheiten sind letztlich die Folge einer nicht artgerechten Menschenhaltung.