Die BLICK-Krebs-Serie Teil 1: Krebs-Spezialist Thomas Cerny begeistert über neue Therapien
Krebs ist kein Todesurteil mehr

Wie entsteht Krebs? Ist er eines Tages heilbar? Der St. Galler Onkologe Thomas Cerny (65) erklärt, was man über diese Krankheit wissen muss.
Publiziert: 01.02.2018 um 00:12 Uhr
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Aktualisiert: 24.02.2021 um 13:01 Uhr
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Professor Thomas Cerny ist der führende Krebs-Spezialist in der Schweiz.
Foto: Thomas Meier
Christiane Binder

Ist Krebs heilbar? Die Hoffnung keimt bei jedem medizinischen Durchbruch. Die Chancen, den Kampf gegen den Krebs zu gewinnen, steigt weltweit, wie eine neue internationale Studie zeigt. Der Schweizer Krebsforscher Thomas Cerny ist optimistisch, warnt aber auch vor übertriebenen Hoffnungen.

BLICK: Warum verbreitet Krebs einen derartigen Schrecken?
Thomas Cerny:
Krebs ist eine Metapher in der Medizin. Sie steht für das, was früher die Pest, die Cholera oder die Syphilis und Tuberkulose waren. Bis zum 85. Lebensjahr ist Krebs weltweit die Todesursache Nummer 1. In der Schweiz haben wir über 40'000 Neuerkrankungen im Jahr. Jeder zweite bis dritte Mann, jede dritte bis vierte Frau erhält irgendwann im Leben die Diagnose Krebs. Wir alle kennen Betroffene und es gibt keine Familie, die nicht in irgendeiner Form damit konfrontiert wurde.

Wird der Krebs eines Tages besiegt?
Nein. Krebs ist ein Teil der Natur. Er ist in unseren Genen angelegt. Im Kampf ums Überleben lebte jede Spezies primär gerade so lange, dass sie sich reproduzieren kann. Beim Menschen reicht dazu eine Lebensspanne von etwa 40 Jahren und da war Krebs in der Evolution noch kein Selektionsfaktor. Krebs wird erst danach wichtig: Die Krebsrate steigt ab dem Alter von 50 bis 60 erst richtig an, bis zu etwa zum 85. Lebensjahr. Deshalb werden auch die Krebserkrankungen weltweit massiv steigen, da das Lebensalter überall deutlich zunimmt.

Früher sagte man «Alterskrebs». Man meinte damit: Er verläuft weniger stürmisch als in jungen Jahren. Stimmt das?
Nein. Allerdings treten viele meist weniger aggressive Krebsarten wie Prostatakrebs, hormonabhängiger Brustkrebs und Lymphdrüsenkrebs besonders mit zunehmendem Alter auf. Aber ein aggressiver Krebs bleibt auch im Alter gefährlich.

Sie haben einmal vom «Schweigen der Zellen» geredet. Was heisst das?
Jede Zelle trägt die gesamte genetische Information in sich. Aber 99,9 Prozent davon bleibt nach dem Ende des Körperwachstums inaktiv. Die Zelle «schweigt» und aktiviert nur einen minimen Bruchteil der Gene, je nach der ihr zugeteilten Funktion. Eine Zelle produziert z.B. ein Hormon, eine andere liefert Knorpelsubstanz. Erst wenn dieses «Schweigen» durch genetische Fehler gebrochen wird, kann sich ein Krebs entwickeln: Es werden dann schlummernde Wachstumssignale wieder geweckt, welche die Zellteilung und die Wanderungsbereitschaft der Zelle aktivieren. Diese Funktionen waren mal notwendig, damit aus einer befruchteten Zelle ein Mensch entstehen konnte.

Wie passiert das?
Irgendetwas verändert die Gene der Zelle. Ein chemischer, krebserregender Stoff, z.B. im Zigarettenrauch oder in der Ernährung, radioaktive Strahlen der irdischen und kosmischen Strahlung, UV-Licht und auch Infektionen können eine Mutation, also eine Genveränderung, auslösen. Eigentlich können die Zellen solche DNA-Veränderungen lange reparieren, und lange nicht alle Mutationen führen zu Krebs – zum Glück. Aber mit zunehmendem Alter machen die Zellen immer mehr Fehler und die sammeln sich an. Die Abwehr- und Reparaturkapazität wird schwächer, und über Vorstufen entsteht meist über viele Jahre eine bösartige Krebsform.

Wie lässt sich dies bei Patienten feststellen?
Besonders gut kann man dies bei der Entstehung von Dickdarmkrebs durch die regelmässige Darmspiegelung beobachten: Meist sind zuerst kleine noch gutartige Ausstülpungen sichtbar. Wenn man sie nicht entfernt, entstehen grössere Polypen und daraus schliesslich Dickdarmkrebs. In den Gewebeuntersuchungen können wir das molekulargenetische Profil heute individuell immer genauer definieren und entscheidende Hinweise über die Bösartigkeit und die relevanten Therapieoptionen erhalten.

Deshalb ist die Darmkrebs-Früherkennung so wichtig?
Ja, man sollte ab 50 alle zehn Jahre eine Dickdarmspiegelung machen lassen. Werden Polypen oder andere Vorstufen entdeckt, kann man sie gleich herausschneiden, bevor sie sich zu einem Tumor entwickeln.

Funktioniert das auch bei anderen Krebsarten?
Nur sehr bedingt. Man darf nicht vergessen: Es gibt 210 Arten von Krebs. Der Magen-Darm-Trakt ist ein langer Hohlraum, er lässt sich leicht spiegeln in seinem ersten und im letzten Meter, dazwischen aber nicht. Die Haut ist natürlich gut zu inspizieren, und auch die Genitalorgane lassen sich in gewissen Bereichen zuverlässig untersuchen. Aber viele Organe leider nicht. Bei der Lunge zum Beispiel kann man nur die grossen Luftwege spiegeln, weiter peripher ist das Organ wie ein Baum tausendfach verästelt. Die Bauchspeicheldrüse liegt versteckt, man kann sie überhaupt nicht spiegeln. Ein Grund, dass wir hier fast keine Frühstadien kennen und die Krankheit meist spät entdeckt wird. Da sind wie heute leider nicht viel weiter als vor 30 Jahren. Bei andern Früherkennungsuntersuchungen wie bei der Brustdrüse müssen wir heute noch auf Röntgen- und Ultraschall Untersuchungen basieren. Die diagnostische Forschung versucht deshalb, immer mehr direkt im Blut, Urin oder Stuhl frühe Spuren zu finden, welche einen Hinweis auf eine beginnende Krebserkrankung oder einen Rückfall liefern. Da dürfen wir optimistisch sein.

Muss die Krebstherapie also direkt an der bösartigen Zelle ansetzen?
Grundsätzlich ja. Wenn wir herausfinden, wo die entscheidenden Fehler auf der molekulargenetischen Ebene liegen, dann wissen wir auch, wo wir mit der Therapie ansetzen können. Für zunehmend viele dieser Fehler haben wir heute zielgerichtete Medikamente. Aber es gibt eben viele tausend krankmachende Mutationen und noch viel mehr Kombinationen davon. Und fast jeder Patient hat noch einige individuelle Besonderheiten.

Immer wieder liest man von einem neuen «Durchbruch» in der Krebstherapie. Wo sind wir heute besser als vor 30 Jahren?
Hier kommt nun ein lange ersehnter Traum näher an die Realität. Wir wussten schon seit längerem, dass unser Immunsystem in der Lage ist, einen wesentlichen Teil der Krebszellen zu erkennen und zu eliminieren. Warum geschieht dies nicht zuverlässig, und wie kann die Tumorzelle sich der Erkennung durch die Immunzellen entziehen? Wir wissen heute, wie die Krebszelle diese Immunzellen trickreich paralysiert, und haben nun erste entsprechend wirksame Medikamente. Dadurch wird das gelähmte Immunsystem wieder aktiv und kann die Tumorzellen direkt angreifen und eliminieren. Nun zeigt es sich, dass dies bei mehreren Tumorarten hervorragend funktioniert, z.B. beim schwarzen Hautkrebs, und dort wohl auch eine vorerst noch kleine Gruppe von Patienten heilen wird – auch im sehr fortgeschrittenen Stadium. Das hat es so noch nicht gegeben. Nun wissen wir, dass dieses Prinzip sich für immer mehr Patienten mit auch anderen Tumoren sinnvoll nutzen lässt, aber es wird wiederum nur für einen Teil wirksam sein können.

Immer wieder ist die Rede von der CAR-T-Zell-Therapie. Was ist darunter zu verstehen?
Diese zelluläre Immuntherapie ist gerade daran, erste grosse Erfolge zu zeigen bei sehr aggressiven Leukämien und Lymphdrüsenkrebs Arten. Hier müssen dem Patienten Immunzellen aus dem Blut genommen werden und genetisch gezielt so verändert und damit «umgeschult» werden, dass sie nun die eigenen bösartigen Zellen als fremde Zellen erkennen und wie ein Fremdorgan radikal abstossen. Dies ist noch sehr kompliziert, aufwändig und auch hochgefährlich. Aber die ersten Resultate der noch kleinen Patientengruppen sind schon fantastisch. Auch hier werden neu Heilungen für eine Gruppe von Patienten möglich werden.

Glaubt man der Pharmaindustrie, dann ist sie mit neuen Medikamenten dem Sieg über den Krebs schon sehr nahe.
Noch einmal: Es gibt 210 Krebsarten. Jeder einzelne Tumor ist anders und er reagiert mit jeder Therapie anders. Bisher hat man nur beim Schwarzen Hautkrebs und beim Lungenkrebs gewisse Erfolge mit der Car-T-Zelltherapie. Grob gesagt wird dazu das Immunsystem eingesetzt, um die Krebszellen zu zerstören. Die Heilungsrate könnte bei 20 bis 30 Prozent liegen. Aber da wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren einiges passieren. Trotzdem darf man nicht vergessen: Diese Therapien sind hochintensiv, hochkompliziert und hochgefährlich.

Auch die Nebenwirkungen der Chemotherapie machen Angst. Ist das immer noch so?
Die Angst vor der Chemotherapie ist in unserem Kopf fixiert und stimmt in sehr vielen Situationen nicht mehr mit der Realität überein. Viele Therapien sind heute viel besser verträglich, einfacher und wirksamer geworden als früher. Unsere Patienten wissen dies bald, wenn sie gestartet haben, aber dieser «Anfangsschreck» ist auch die verständliche Reaktion auf das Ungewisse. Es gibt aber schon noch die sehr intensive und belastende Therapie bei sehr aggressiven lebensbedrohlichen Situationen, wo es meist um Leben und Tod geht.

Sie werfen der Pharma-Industrie vor, die Forschung zu behindern. Warum?
Viele wichtige Resultate der internationalen Krebsforschung werden von den Pharmafirmen nicht optimal genutzt oder sogar blockiert. Wenn eine Pharmafirma mal einen Patentschutz für ein Produkt hat, dann kann sie allein bestimmen, was damit gemacht oder eben nicht gemacht wird. Hat Firma X ein wichtiges Medikament etwa für Lungenkrebs bereits erfolgreich auf dem Markt, dann hat sie wenig Interesse daran, eine vielversprechende konkurrenzierende Entwicklung voranzutreiben. Sie wird dann diese Entwicklung so weit verzögern, dass sie nach Patentablauf das eigene Produkt ersetzen kann. Die Patienten verpassen eventuell auf Jahre das bessere Medikament. Hat Firma X ein Medikament, welches bei einem sehr seltenen Tumor, wo noch wenig oder nichts zugelassen ist, wirksam ist, aber bei einem häufigen Tumor auch wirksam sein könnte, wo ein potentiell grosser Markt wartet, wird die seltene Erkrankung hintangestellt. Dies alles ist insofern inakzeptabel, als die zu neuen Medikamenten führende, enorm aufwändige Grundlagenforschung praktisch vollständig von der Öffentlichkeit finanziert wird und die Pharmafirmen diese Erfolge dank einem Trick des US-Senats für sich privatisieren können. Damit haben sie aber moralisch die Verantwortung, damit auch das Beste für die Bevölkerung zu tun.

Im Internet kursieren die wildesten Theorien über Krebsrisiken. Gehören Handystrahlen dazu?
Nach dem heutigen Forschungsstand: Nein. Es gibt keine überzeugende Studie, dass die schädlich ist. Trotzdem muss man dies weiter untersuchen, da es noch zu früh ist, Langzeitfolgen auszuschliessen.

Welche Rolle spielt die Seele bei Heilung und Behandlung von Krebs?
Man weiss, dass depressive Menschen allgemein gefährdeter sind bei Krankheiten, stärker und häufiger auch mit schlechterem Ausgang zu erkranken, als Menschen ohne Depression. Aber der Schluss, dass unglückliche Menschen oder Menschen mit seelisch belasteter Lebensgeschichte eher an Krebs erkranken, stimmt offenbar nicht. Für den Heilungsprozess ist eine aktive und grundsätzlich positive selbst mitgestaltende Grundhaltung wichtig, vermindert auch die Nebenwirkungen und erhöht insbesondere die Lebensqualität.

Auch sogenannte Superfoods von der Acai-Beere bis zu Quinoa sollen Krebs verhindern helfen.
Wir wissen: Gesund zu leben, lohnt sich. Das Essen spielt eine wesentliche Rolle. Diabetiker erkranken zum Beispiel häufiger an Krebs – alles hängt mit allem zusammen. Spezielle Diäten sind aber aus meiner Erfahrung nicht nötig. Wir empfehlen grundsätzlich die Mittelmeerkost, da es dafür eine Unzahl positiver Studien gibt: viel Obst und Gemüse, Olivenöl, wenig rotes Fleisch, eher Fisch und wenig Alkohol. Dabei ist es immer eine Frage des richtigen Masses. Wer zum Beispiel am Wochenende mässig Wein oder Bier trinkt, ein Steak isst und sich ein Dessert gönnt, ist nicht gefährdet! Unser Körper braucht eine ausgewogene Ernährung über weite Zeiträume. Und bitte die tägliche Bewegung nicht vergessen. Die wichtigste Massnahme bliebt aber das Nichrauchen.

Gibt es eigentlich auch Wunder?
Die unerklärlichen Fälle werden weltweit gesammelt. Es gibt sie. Aber sie sind äusserst selten. Ich sehe diese Fälle nicht als Wunder, sondern als noch ungelöste Fälle. Die Genetik eines Tumors ist instabil, so dass sie eben auch selten mal zum Beispiel heilende Mutationen hervorbringt. Solche Fälle zu erforschen, kann dann eben auch neue Erkenntnisse bringen und tut das auch.

Immer noch sterben sehr viele Menschen an Krebs. Ist Ihre Arbeit nicht manchmal belastend?
Belastend sind nicht die Patienten, sondern das Monster der Bürokratie und das kranke Gesundheitssystem. Die Patienten sind gerade unsere grosse Bereicherung und auch unsere Motivatoren. Die Diagnose Krebs ist für alle Menschen immer etwas ganz unmittelbar Existentielles. Das ganze Leben wird urplötzlich in Frage gestellt, und wir begleiten sie durch diese Tiefen und Höhen. Da lernen wir auch sehr viel von ihnen, und dies bereichert unser Leben ungemein. Die Forschung begleitet uns täglich, und wir sind selber Teil dieser Entwicklungen und leisten unseren Part. Auch können wir heute so viel mehr für unsere Patienten erreichen als noch vor kurzer Zeit, und der Fortschritt ist ungebrochen. Es ist also ein unglaublich befriedigender spannender und privilegierter Beruf.

Morgen auf blick.ch: Die Krebs-Serie Teil 2 - Alles, was Sie über Krebs wissen müssen

Er behandelte auch Kurt Felix

Der international renommierte St. Galler Arzt Thomas Cerny (65) gilt als einer der führenden Tumorspezialisten in der Schweiz. Als Chefarzt der Onkologie am Kantonsspital St. Gallen behandelte er auch Entertainer Kurt Felix (†71) bis zu dessen Tod im Jahr 2012. Schon 1995 wurde Cerny der Robert-Wenner-Preis der Schweizer Krebsliga für herausragende Wissenschaftler unter 45 verliehen. Cerny ist Präsident der Krebsforschung Schweiz.

Der international renommierte St. Galler Arzt Thomas Cerny (65) gilt als einer der führenden Tumorspezialisten in der Schweiz. Als Chefarzt der Onkologie am Kantonsspital St. Gallen behandelte er auch Entertainer Kurt Felix (†71) bis zu dessen Tod im Jahr 2012. Schon 1995 wurde Cerny der Robert-Wenner-Preis der Schweizer Krebsliga für herausragende Wissenschaftler unter 45 verliehen. Cerny ist Präsident der Krebsforschung Schweiz.

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