Der führende Infektologe Ulrich Heininger über Impfgegner
«Wussten Sie, dass es Masern-Partys gibt?»

Ulrich Heininger (55), einer der führenden Impfexperten Europas, über Impfgegner und verbotene absichtliche Ansteckung.
Publiziert: 05.05.2017 um 14:41 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 16:53 Uhr
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«Ich bin kein Missionar»: Ulrich Heininger.
Foto: Philippe Rossier
Adrian Meyer (Interview) und Philippe Rossier (Fotos)

Herr Heininger, gegen was haben Sie Ihre Kinder nicht geimpft?
Ulrich Heininger: Ich verzichtete auf das, was sie nicht brauchen. Gelbfieber zum Beispiel. Sonst haben sie alle Impfungen bekommen, die im nationalen Impfplan vorgesehen sind. Auch die Grippeimpfung jeden Winter.

Gegner halten Impfungen für wirkungslos, für eine Geldmaschine der Pharmafirmen – oder sie fürchten die Nebenwirkungen. Weshalb haben Impfungen ein solch schlechtes Image?
Ach, die Kritik ist so alt wie das Impfen selbst. Schon als 1796 der englische Landarzt Edward Jenner als Erster zeigte, dass sich mit einer Kuhpockenimpfung menschliche Pocken bekämpfen lassen, gab es kritische Stimmen. Karikaturen aus jener Zeit zeigen, wie Menschen Kühe aus den Armen wachsen.

Warum hielt sich die Skepsis?
Es gibt immer Menschen, die gegen ein Thema sind. Manche haben das Gefühl, Impfungen würden ihnen von oben diktiert. Sie können nicht akzeptieren, wenn ihnen jemand sagt, was gut für sie ist. Und glauben, sie bräuchten die Empfehlungen nicht, weil sie etwa genug schlafen und Vitamin C nehmen. Wieder andere sind durch Gerüchte verunsichert, zum Beispiel wegen des Nachbarkindes, das angeblich ständig schreit, seit es geimpft wurde.

Die Natur soll alles selber regeln, sagen manche Eltern.
Das tut sie oft. Wir können ja nicht gegen alle Infektionskrankheiten impfen. Nur ist Natur nicht perfekt. Denn dann gäbe es keine Krankheiten.

Andere glauben, ihr Kind werde stärker, wenn es an Masern erkrankt.
Dafür gibt es keinen Beleg. Ich kenne Kinder, die nach den Masern behindert waren oder daran gestorben sind. Ein Kind mit Masern ist zwei Wochen schwer krank, natürlich wirkt es danach, als steige es wie ein Phönix aus der Asche. Aber einen Vorteil hat es deswegen nicht. Ich sage in solchen Diskussionen gern, mein Sohn habe nach der Impfung das Laufen gelernt und meine Tochter das Sprechen. Was natürlich daran liegt, dass sie im entsprechenden Alter geimpft wurden.

Immer wieder wird eine gefälschte Studie des britischen Arztes und Betrügers Andrew Wakefield von 1998 zitiert: Mumps-Masern-Röteln-Impfungen können Autismus auslösen. 
Genau, diese These wird immer wieder ausgegraben. Doch eine Lüge wird nicht wahrer, wenn man sie ständig wiederholt. Wakefield hat schon fast Märtyrerstatus. Er wurde des Betrugs überführt und hat Berufsverbot erhalten. 

Eine Heilpraktikerin aus dem Toggenburg sorgte jüngst weltweit für Schlagzeilen. Sie behauptet: Wer masturbiert, leidet an der Impfkrankheit.
Masturbation als Impffolge? Das habe ich noch nie gehört! Bettnässen war bis jetzt die absurdeste Behauptung. Manchmal will es der Zufall, dass eine Krankheit nach einer bestimmten Impfung ausbricht. Dann muss sie als Sündenbock herhalten. Weil man sich nach einer einfachen Erklärung sehnt. Der Ursprung von Autismus etwa ist noch immer unklar.

Macht Sie die Kritik der Gegner wütend?
Nein, ich bin ja kein Missionar. Ich kläre die Bevölkerung und meine Kollegen auf, das ist mein Job. Ich beschäftige mich täglich bis zu zwei Stunden ausschliesslich mit dem Thema Impfung. Das muss ich, um à jour zu bleiben. 

Waren Sie immer so gelassen?
Früher hatte ich mehr Mühe mit Gegnern, da ich mich engagiert mit dem Thema beschäftigt habe. Ich habilitierte zur Keuchhustenimpfung und beschäftigte mich intensiv mit angeblichen Nebenwirkungen. Da fragt man sich schon: Mensch, warum merken die anderen nicht, dass es keine sind? Es ist doch so offensichtlich! Aber Wut bringt nichts, es braucht Argumente und Empathie.

Schaffen Sie es häufig, Skeptiker zu überzeugen?
Ich schätze die Erfolgsquote auf etwa 75 Prozent. Denn meist lehnen Skeptiker Impfungen nicht kategorisch ab, sondern haben individuelle Gründe. Etwa fünf bis zehn Prozent der Eltern zähle ich dazu. Man kann mit ihnen darüber reden. Kategorische Impfgegner hingegen sind streitlustig, laut und treten gerne öffentlich auf. Sie machen maximal ein bis zwei Prozent der Bevölkerung aus. Manche bezweifeln gar die Existenz von Infektionserregern. Mit denen habe ich früher versucht zu diskutieren. Das ist zwecklos – ich habe aufgegeben.

Das Vertrauen in Ärzte war schon grösser.
Ja. Die Bevölkerung ist generell skeptischer, das ist ihr gutes Recht. Es hat sicherlich mit der Möglichkeit zu tun, dass man sich über das Internet vielfältig informieren kann.

Es scheint, als werde die Wissenschaft zunehmend zur Glaubensfrage.
Im Zeitalter von Social Media vertrauen Menschen oft mehr der gefühlten Wahrheit als echten Fakten. Ich fürchte mich vor dem Trump-Effekt: Der neue US-Präsident hat Impfskeptiker unter seinen Beratern. Nehmen diese Einfluss auf die wichtigen Behörden, gibts wohl Probleme. Wobei die Schweiz, glaube ich, immun ist gegen solche Dummheiten. 

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber Impfen ist ein Eingriff in die persönliche Freiheit. Gibt es denn kein Recht auf Krankheit?
Alle Menschen werden irgendwann krank. Es gibt auch ein Recht auf Rauchen, auf Alkoholgenuss oder andere Risiken, die der Gesundheit schaden. Will jemand auf eigene Verantwortung auf Impfungen verzichten, muss man ihm dieses Recht lassen. Obwohl das eine ethisch äusserst schwierige Frage ist.

Weshalb?
999 von 1000 Kindern tragen keinen Schaden davon, wenn sie an Masern erkranken. Darum ist es erlaubt, nicht zu impfen. Andererseits müssten aus genau dem gleichen Grund alle geimpft werden. Weil wir nicht wissen, wer diese 1000. Person ist – und bei wem sie sich ansteckt. Man trägt eine gewisse Verantwortung für die Gesundheit der gesamten Gesellschaft.

Die Schweiz hatte einst europaweit die meisten Masernfälle. Wie steht es um den Impfschutz?
Nicht so schlecht, wie manche behaupten. Bei Masern liegt die Rate knapp tiefer als der Schnitt, knapp 90 Prozent für zwei Dosen. Bei jeder anderen Basisimpfung ist die Quote über 90 Prozent. 

Warum lehnen Sie die Impfpflicht ab?
Weil überzeugen besser ist als erzwingen. Damit hatten wir in den letzten Jahrzehnten Erfolg. Die Impfquote steigt kontinuierlich. Und sowieso: Wie will man jemanden zum Impfen zwingen? Soll der Kantonsarzt mit Polizeischutz ein Kind gegen den Willen der Eltern festhalten und die Spritze setzen? Stellen Sie sich vor, das Kind bekommt kurz danach zufällig eine schwere Lungenentzündung. Ein Horrorszenario. 

Kinderlähmung und Rachendiphterie sind in der Schweiz seit den 1980er-Jahren verschwunden. Warum sollen wir uns trotzdem dagegen wappnen?
Diphterie-Bakterien gibts nach wie vor. Impfen wir uns nicht mehr dagegen, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis diese Krankheit zurückkehrt. Das ist, wie wenn Sie aufhören, Ihren Rasen zu schneiden. Er wächst nach. 

Haben die Menschen vergessen, wie verheerend diese Krankheiten waren?
Ja. Und teilweise wurden die Krankheiten gar nie als bedrohlich wahrgenommen. Masern klingen nicht gefährlich. Spräche man von «Hirnfäule», würden sich viel mehr Personen dagegen impfen. Man hat nur vor dem Respekt, was einem bedrohlich scheint.

Sind Impfungen Opfer ihres Erfolgs?
Sozusagen. Impfungen schaufeln sich ihr eigenes Grab. Weil sie die Krankheit zurückdrängen, diese ihren Schrecken verliert und dann Fragen auftauchen, ob man die Impfung überhaupt noch braucht. Darum ist es derart schwierig, die letzten Prozente der Quote zu erreichen. 95 Prozent der Bevölkerung müssen geimpft sein, damit die Masern verschwinden.

Da sich alle impfen lassen, muss ich mein Kind nicht auch noch, denken einige.
Ist die grosse Mehrheit einsichtig, profitiert selbst die Minderheit, die sich weigert. Bis zu einem gewissen Grad sind solche Menschen aber Egoisten. Interessant ist, dass Impfgegner sogar wünschen, dass sich ihr Kind infiziert. Sie beklagen sich, dass das gar nicht mehr so einfach sei. Wussten Sie, dass es Masern-Partys gibt? 

Impfen ist sein tägliches Geschäft

Professor Ulrich Heininger (55) ist leitender Infektiologe und Vakzinologe am Universitäts-Kinderspital beider Basel. Er gehört zu den Führenden seines Fachs und ist Mitglied der Impfkommissionen in der Schweiz und in Deutschland. In der Weltgesundheitsorganisation WHO ist er Mitglied des Global Advisory Comittee for Vaccine Safety. Der gebürtige Münchner hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Riehen bei Basel.

Professor Ulrich Heininger (55) ist leitender Infektiologe und Vakzinologe am Universitäts-Kinderspital beider Basel. Er gehört zu den Führenden seines Fachs und ist Mitglied der Impfkommissionen in der Schweiz und in Deutschland. In der Weltgesundheitsorganisation WHO ist er Mitglied des Global Advisory Comittee for Vaccine Safety. Der gebürtige Münchner hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Riehen bei Basel.

Wie bitte?
Impfgegner sind gut vernetzt. Hört jemand, dass in einem Ort Masern ausgebrochen sind, spricht sich das schnell herum. Dann organisieren sie Treffen, bei denen sie ihre Kinder bewusst anstecken lassen.

Sehr bizarr.
Streng genommen ist das verboten. Man darf nicht wissentlich Infektionserreger in Umlauf bringen.

Impfungen zählen zu den grössten Errungenschaften der Medizin. Ist etwas Skepsis nicht trotzdem angebracht?
Wir hinterfragen in der Eidgenössischen Impfkommission regelmässig das Verhältnis von Nutzen und Risiko einzelner Impfungen. Keine ist frei von Nebenwirkungen. Darum verabschiedet man sich auch mal von einer. Die Pocken sind bereits ausgerottet. Die Tuberkuloseimpfung ist seit 1998 nicht mehr im Impfprogramm, weil es kaum mehr Fälle gibt. Irgendwann wird man vielleicht auf die Polio-Impfung verzichten können.

Könnten Sie eine Krankheit mit einem Impfstoff ausrotten: Welche wäre das?
Heute im Jahr 2017, weltweit gesehen, wäre das Malaria, gefolgt von Tuberkulose und HIV. Das sind die drei grossen Killer. Meist fragt man mich, auf welche Basisimpfung ich gerne verzichten würde. Da antworte ich natürlich: auf keine.

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