Unzuverlässig. Oder zumindest unpünktlich. Das wären wohl Attribute, die man einem Drogensüchtigen zuschreiben würde. Nicht so recht ins Bild passen will Andreas H.* (58), der so ziemlich jede offene Drogenszene in Zürich von der Riviera beim Bellevue bis zum berüchtigten Letten mitgemacht hat. «Ich hatte eine 35-jährige Drogenkarriere», erzählt er. Schmuddelig oder ungepflegt ist er nicht und das Interview beginnen wir auf die Minute genau wie vereinbart.
Vor fast genau 25 Jahren, am 14. Februar 1995, wurde mit dem Letten die letzte offene Drogenszene der Schweiz geschlossen. Mit ihr verschwanden die Drogensüchtigen aus der öffentlichen Wahrnehmung. Die Sucht aber verschwand bei den meisten nicht. Sie verlagerte sich nur hinter verschlossene Türen. Bei der Schliessung des Letten hatte Andreas bereits eine beachtliche Drogenkarriere hinter sich. Mit 16 Jahren probiert er zum ersten Mal Heroin – aus Neugierde wie er erzählt. Schnell wurde er körperlich abhängig.
Süchtig und kriminell
Mit der Sucht kam auch die Kriminalität. Ein Gramm «Sugar», so der Gassenname für Heroin, kostete in den 80er-Jahren um die 600 Franken. Sehr viel Geld, bedenkt man, dass Andreas phasenweise ein halbes Gramm auf einmal spritzte. Um seinen Konsum zu finanzieren dealte Andreas selbst und verübte später Einbruchdiebstähle. Diese Delikte handelten ihm eine zweieinhalbjährige Haftstrafe ein. Geläutert wurde er im Gefängnis aber nicht. Wieder auf freiem Fuss geriet Andreas schnell in sein altes Umfeld und zurück in den Drogensumpf.
Andreas lebte während der Zeit seiner Sucht immer mal wieder auf der Strasse, dem Platzspitz oder kam bei Freunden in versifften Wohnungen unter. Manchmal fällt es ihm schwer, zeitlich einzuordnen wann genau was passiert ist. «Es ist so viel passiert in meinem Leben, dass kann ich gar nicht so einfach chronologisch wiedergeben», sagt Andreas dazu.
Nachdem der Letten geschlossen wurde stellte er sich die Frage «Was machst du jetzt? Wenn du so weiter machst lebst du nicht mehr lange!» Inzwischen spritzte er sich nicht nur Heroin, sondern rauchte auch Kokain aus der Pfeife – das sogenannte «Basen». «Baser» seien die Tiefsten in der Hierarchie der Süchtigen und die Schlimmsten, wie Andreas erzählt.
Wie konnte das passieren? Warum macht er oder sie das? Das sind die Fragen die sich Angehörige und Freunde von suchtkranken Menschen oft stellen. Manch einer tut eine Sucht als Schwäche ab. Oder als Zeichen überschwänglichen Hedonismus - dem Verlangen nach Spass ohne Rücksicht auf Verluste. Doch nicht nur die persönliche Einstellung zu Suchtmitteln, sondern auch die genetische Disposition oder Erfahrungen in der frühen Kindheit spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung einer Abhängigkeit.
Wie konnte das passieren? Warum macht er oder sie das? Das sind die Fragen die sich Angehörige und Freunde von suchtkranken Menschen oft stellen. Manch einer tut eine Sucht als Schwäche ab. Oder als Zeichen überschwänglichen Hedonismus - dem Verlangen nach Spass ohne Rücksicht auf Verluste. Doch nicht nur die persönliche Einstellung zu Suchtmitteln, sondern auch die genetische Disposition oder Erfahrungen in der frühen Kindheit spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung einer Abhängigkeit.
«Lange konnte ich unbehelligt ein Doppelleben führen»
Geholfen hat ihm das Heroinsubstitut Methadon, welches flächen- und vor allem nachfragedeckend eingesetzt wurde. Und zu dieser Zeit, Mitte der 90er-Jahre, traf er die Liebe seines Lebens. Andreas trat einen Job im Gastgewerbe an und griff praktisch nicht mehr zur Spritze. «Zumindest zuhause war alles ganz seriös, toll und gesittet, quasi ein bürgerliches Leben», erzählt er.
Ganz verschwunden sind die Drogen allerdings nicht aus seinem Leben. Regelmässig griff er zum Aufputschmittel Kokain. «Ich machte die Nächte mit Unmengen Alkohol und Koks durch.» Nach aussen hin aber lebte er ein normales Leben, arbeitete in einer Bar und als Türsteher. Dieses Doppelleben führte Andreas über einen langen Zeitraum, bis vor etwa sieben Jahren. Seither ist er komplett clean. Weder illegale Drogen noch Alkohol vernebeln seither seine Sinne und auch Fleisch landet bei ihm seit einigen Jahren nicht mehr auf dem Teller.
Andreas arbeitet nun selber mit Betroffenen
Andreas erzählt seine Geschichte routiniert. Man merkt ihm an, dass er nicht zum ersten Mal darüber spricht. Inzwischen arbeitet er im Peer-to-Peer-Programm für an Hepatitis C-Erkrankte des Arud Zentrums für Suchtmedizin und nimmt in dieser Funktion an Symposien teil und hält Vorträge. Andreas wirkt fit und gesund, man würde kaum einen Ex-Süchtigen erkennen, wüsste man nicht Bescheid.
Die jahrelangen Exzesse sind aber auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Andreas litt unter Hepatitis C, ehe er als einer der ersten 2014 mit einer neuen Behandlungsmethode geheilt wurde. Nun setzt er sich als Community-Arbeiter dafür ein, dass suchtkranke Menschen mit Hepatitis-C-Diagnose die nötige Unterstützung bekommen und vor allem Massnahmen der Prävention im Milieu bekannt werden.
Für Andreas ist dieser Job ein Segen. Erzählt er seine Geschichte sonst so abgeklärt, kann man bei diesem Thema förmlich seinen Enthusiasmus spüren. Berufsbegleitend absolviert er noch die Ausbildung zum Communityworker. Besonders wichtig ist ihm, dass er etwas für andere tun kann – aber auch für sich selbst. Lächelnd erzählt er: «Das hat mir einen enormen Kick gegeben, mich mit mir selber zu befassen. Das hat auch einen Schub im Selbstvertrauen bewirkt.»
In der Schweiz sind etwa 40'000 Personen mit Hepatitis C infiziert. Pro Jahr sterben rund 200 Menschen an den Folgen der Krankheit. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist dennoch gering. Die WHO spricht deshalb von einer «stillen Epidemie». Da der Krankheitserreger in erster Linie durch Blut einer infizierten Person übertragen wird, besteht die Gefahr einer Infektion unter anderem beim gemeinsamen Gebrauch von Injektionsspritzen und Inhalationsröhrchen. Bei 25 Prozent der Betroffenen entwickelt sich eine Leberzirrhose, eine Vernarbung der Leber. Es besteht ein erhöhtes Risiko für Leberkrebs. Eine chronische Hepatitis C ist der häufigste Grund für eine Lebertransplantation.
Weitere Informationen zu Hepatitis C finden sie unter: www.hepatitis-schweiz.ch
In der Schweiz sind etwa 40'000 Personen mit Hepatitis C infiziert. Pro Jahr sterben rund 200 Menschen an den Folgen der Krankheit. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist dennoch gering. Die WHO spricht deshalb von einer «stillen Epidemie». Da der Krankheitserreger in erster Linie durch Blut einer infizierten Person übertragen wird, besteht die Gefahr einer Infektion unter anderem beim gemeinsamen Gebrauch von Injektionsspritzen und Inhalationsröhrchen. Bei 25 Prozent der Betroffenen entwickelt sich eine Leberzirrhose, eine Vernarbung der Leber. Es besteht ein erhöhtes Risiko für Leberkrebs. Eine chronische Hepatitis C ist der häufigste Grund für eine Lebertransplantation.
Weitere Informationen zu Hepatitis C finden sie unter: www.hepatitis-schweiz.ch
Heroin ist out
An die Zeit auf den offenen Drogenszenen der Limmatstadt erinnert erklärt Andreas: «Die einzig schönen Momente waren die Flashes nach dem Abdrücken. Da war gar nichts Romantisches dabei und am Schluss war alles brutal, hart und kalt.» Er sieht die Entwicklung in der Drogenpolitik aber positiv: «Heute haben die Leute ein Auskommen, werden nicht mehr so stark kriminalisiert und es existiert keine offene Drogenszene mehr. Ausserdem kommen wenig neue Heroinkonsumenten nach.»
Die Präventionsmassnahmen haben offensichtlich gegriffen. «Heroin war in den 90er-Jahren in, heute sind es eher andere Substanzen», so Philip Bruggmann, Chefarzt der Inneren Medizin in der Arud.
Ein fast ganz normales Leben
Heute lebt Andreas in einer kleinen aber feinen Wohnung im Stadtzentrum Zürichs. Kontakt zur Szene hat er nur noch aus beruflichen Gründen. Das früher erlebte Elend belastet ihn nicht mehr. Er weiss aber: «Viele andere haben noch ihre Dämonen von damals.»
Was geblieben ist, ist die Methadon-Substitution. Andreas setzt sich nicht mehr unter Druck, diese ganz abzusetzen. Schwierige Momente clean zu bleiben gebe es höchstens dann, wenn belastende Situationen aufkommen. Zum Beispiel der Tod seiner Lebenspartnerin vor sechs Jahren. «Du weisst, du kannst dich in einer Sekunde auf ein Level beamen wo alles gut und vergessen ist. Du kannst dich auf Wolke sieben knallen.»
* Name der Redaktion bekannt