Ärger im Anflug
Darum sollte man Heuschnupfen ernst nehmen

Die ersten Frühlingstage haben vielen Schweizern triefende Augen und Nasen beschert: Heuschnupfen! Weshalb wir die Volkskrankheit nicht verharmlosen sollten.
Publiziert: 20.04.2016 um 12:15 Uhr
|
Aktualisiert: 13.12.2019 um 14:43 Uhr
Foto: Sollina Images
Andrea Vogel

Würmer! In vergangenen Zeiten plagten diese Parasiten Mensch und Tier, mittlerweile sind sie in der westlichen Welt nahezu ausgerottet. Was nicht nur Vorteile hat: denn die Wurmparasiten machten unser Immunsystem fit, ihr Verschwinden wird – neben anderen Faktoren wie Umweltbelastung, Ernährung und Klimaveränderung – für die Zunahme allergischer Erkrankungen verantwortlich gemacht.

«Allergien haben sich in den letzten Jahrzehnten in den Industrienationen geradezu epidemisch verbreitet», sagt Georg Schäppi (49), Geschäftsleiter von aha! Allergiezentrum Schweiz. Schuld daran seien die Umstände unseres modernen Lebens. «In Drittweltländern gibt es kaum allergische Erkrankungen», erklärt Schäppi. «Bei uns aber schon. Und auch Schwellenländer wie Indien und China legen enorm zu.»

Heuschnupfen: was hilft?

Was eine gängige These der Medizin stützt: Das Immunsystem des modernen Menschen hat zu wenig wahre Herausforderungen. Musste sich dieses früher gegen Wurmparasiten und andere Bedrohungen wehren, fehlen diese Erreger – und damit auch «richtige» Ziele für das Immunsystem. Plötzlich nimmt dieses an sich harmlose Strukturen ins Visier – eine Allergie macht sich bemerkbar. Der Körper legt sich in der Folge mit unbedenklichen Umweltstoffen an, obschon sie keine Gefahr für die Gesundheit darstellen. 

Einer der harmlosen Stoffe ist der Blütenstaub, bestehend aus vielen Pollenkörnern. Bereits ab Januar fliegen die Pollen der Hasel und Erle durch die Winterluft, vergangene Woche erreichte die Pollenbelastung einen ersten Höchststand. Und bis in den September blüht das Aufrechte Traubenkraut, die hochallergene Ambrosia. Pollen-Allergiker sind demnach jährlich gut neun Monate möglichen Reizfaktoren ausgesetzt.

Heuschnupfen: was ist das?

Kein Wunder, ist die Pollenallergie, also der Heuschnupfen, Spitzenreiterin unter den Allergien. Nahezu ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung leidet darunter. Die Symptome? Laufende Nase, Niesattacken, juckende Augen – und nicht zu vergessen: bleierne Müdigkeit. Heuschnupfen tangiert nämlich das Sozial- und Arbeitsleben genauso, wie es die Schleimhäute strapaziert.

Derzeit stehen Birken in Vollblüte: Heuschnupfen-Alarm!
Foto: Getty

«Man sollte den Heuschnupfen nicht dramatisieren, aber ihn dennoch ernst nehmen», sagt aha!-Experte Schäppi. Denn eine Komplikation der Pollenallergie ist der sogenannte Etagenwechsel. «Bis zu 40 Prozent all jener, die einen ganzjährigen allergischen Schnupfen haben, sind davon betroffen», sagt Annika Stern (51), Allergologin des ORL-Zentrums der Klinik Hirslanden in Zürich. «Innerhalb von zehn Jahren kann es zu einer Verlagerung der Erkrankung kommen.» Die Entzündungen der oberen Atemwege greifen auf die unteren über, sie wechseln sozusagen die Etage. Stern: «Der Heuschnupfen weitet sich zu einem allergischen Asthma aus.»

Was tun gegen Heuschnupfen: Hyposensibilisierung bekämpft Ursache

Genau das ist bei Michel Gübeli (43) aus Zürich passiert. Er litt seit Kindheit an Heuschnupfen, vor sieben Jahren machte sich bei ihm erstmals ein allergisches Asthma bemerkbar. Durch sogenannte Hyposensibilisierung versucht er nun, dem Leiden Herr zu werden. «Es ist mein zweiter Versuch», sagt der Architekt. «Die erste Runde, sie dauerte gut drei Jahre, konnte leider wenig ausrichten.»

In der Hyposensibilisierung wird der Körper allergieauslösenden Substanzen ausgesetzt, damit sich dieser langsam daran gewöhnt und es erst gar nicht mehr zu allergischen Reaktionen kommt. «Dabei wird eine sogenannte Immuntoleranz bewirkt. Der Körper lernt, das auslösende Allergen zu akzeptieren, und überreagiert nicht mehr krankmachend», sagt Hals-Nasen-Ohren-Ärztin Stern.

Die entsprechende Therapie dauert mindestens drei Jahre. «Wir behandeln damit die Ursache der Erkrankung und nicht nur die Symptome», sagt Annika Stern. Die meisten Allergiegeplagten machen aber genau das: Sie kämpfen sich mit Antihistaminika aus der Apotheke durch den Alltag. Diese ­blockieren die Wirkung von Histamin und verringern dadurch das Auftreten einer allergischen Reaktion – die Ursache aber bleibt be­stehen.

Allergietests gehen der Hyposensibilisierung voraus. Sie zeigen, auf welche Allergene der Patient reagiert. «Dann gibt es je nach Allergieauslöser verschiedene Möglichkeiten, diese den Patienten zu verabreichen», sagt Stern. Möglich ist die Einnahme von täglichen Tropfen und Tabletten oder per regelmässigen Injektionen. Gemäss Stern ist Hyposensibilisierung bislang die einzige kausale Behandlungsmöglichkeit, die den Etagenwechsel verhindern kann.

Comeback des Wurms

Entsprechend gross sind denn auch die Hoffnungen, die Betroffene daran knüpfen. Der Erfolg ist aber von mehreren Faktoren abhängig: Junge Allergiker sprechen darauf besser an als ältere Menschen, die schon länger von Allergien betroffen sind. «Fast 90 Prozent der Patienten stellen eine deutliche Verbesserung ihrer Symp­tome fest», sagt Schäppi.

Vielleicht gibt es aber bald ein anderes probates Mittel, das Heuschnupfen kausal angeht: der gute alte Wurm. Die Forschung macht sich die Strategie unseres Immunsystems zunutze – und will dieses mit anderen Faktoren beschäftigen als Allergenen. Würmer, oder zumindest Bestandteile davon, sollen dabei wieder zum Zuge kommen. «Muss sich das Immunsystem wieder mit richtigen Zielen abgeben, hat es keine Zeit mehr für harmlose Stoffe», sagt Schäppi.

Derzeit sind solche Ansätze noch in der klinischen Erprobung. Vorerst kann man das Abwehrsystem vermehrt zumutbaren Herausforderungen aussetzen – und etwa Kinder draussen spielen und «im Dräck» wühlen lassen. Also vorsorgen statt leiden.

Deshalb lohnt sich ein Mittagsschläfchen

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?