Wenige Krankheiten sind wohl so von Vorurteilen betroffen wie HIV. Viele von uns verorten das Virus vermutlich noch immer an Rande der Gesellschaft. Bei Obdachlosen vielleicht. Oder bei Drogensüchtigen. In ihrer Anfangszeit dachte man sogar, die Krankheit könne nur homosexuelle Männer betreffen.
Alles Unsinn, wie man heute weiss. Auch Frauen können sich mit dem HI-Virus anstecken, und es kann alle treffen. Dennoch sind mit 79 Prozent der Infektionen deutlich mehr Männer betroffen. So wie Alex S.* (41) aus Lenzburg AG und Matthias B.* (49) aus Zürich, die beide mit beiden Beinen im Leben stehen.
Extreme Fortschritte in der Medizin
«HIV ist längst kein Todesurteil mehr», erzählt Nathan Schocher von der Aids-Hilfe Schweiz. «Die Lebenserwartung ist ähnlich hoch wie beim Rest der Bevölkerung.» Tatsächlich hat die Medizin extreme Fortschritte gemacht in der Behandlung von HIV und Aids.
Moderne Medikamente können die Viruslast im Körper unter die Nachweisgrenze drücken. Betroffene sind dann nicht mehr ansteckend, selbst bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Und auch bei der Familienplanung gibt es keine Einschränkungen mehr.
«Heute nehme ich noch eine Tablette»
Einer, der diesen Fortschritt hautnah miterlebt hat, ist Matthias B. Seit 23 Jahren lebt er schon mit der Diagnose HIV. «Früher musste ich mehrmals am Tag Medikamente nehmen, mit teilweise starken Nebenwirkungen. Heute nehme ich noch jeweils eine Tablette und merke eigentlich nichts mehr davon.»
Eine Entwicklung, die anhält. Alex S. geht davon aus, dass in naher Zukunft eine Depotspritze auf den Markt kommt, die man in regelmässigen Abständen erhält und ansonsten keine Pillen mehr braucht. «Das würde die Lebensqualität natürlich noch weiter heben», fügt er an.
«Medizinisch gesehen ist HIV eine Erfolgsgeschichte», pflichtet Schocher bei, «in Sachen Diskriminierung hat sich allerdings wenig getan.» Über hundert Diskriminierungsfälle registrierte die Aids-Hilfe im Jahr 2019. «Zu viel für ein Land wie die Schweiz», findet Schocher.
Ein Brasilianer (34) nahm Medikamente im Kampf gegen Aids ein. Seit nun einem Jahr ist bei ihm das HI-Virus nicht mehr aufgetaucht. Warum der Mann noch nicht offiziell als geheilt gilt, die Therapie aber Hoffnung macht.
Ein Brasilianer (34) nahm Medikamente im Kampf gegen Aids ein. Seit nun einem Jahr ist bei ihm das HI-Virus nicht mehr aufgetaucht. Warum der Mann noch nicht offiziell als geheilt gilt, die Therapie aber Hoffnung macht.
Diskriminierung auch im Gesundheitswesen
Auch Alex S. musste schon Diskriminierungserfahrungen machen. Und das in einem Bereich, in dem er es nicht erwartet hätte. «Als ich nach einer OP im Krankenhaus lag, brachte eine Krankenschwester für alle, die in dem Zimmer lagen, das Essen herein. Bevor sie mir meines austeilte, zog sie sich Handschuhe an, als könnte man sich durch eine Berührung mit mir anstecken.»
Laut der Aids-Hilfe Schweiz stecken hinter solcher Diskriminierung häufig irrationale Ängste vor der Übertragung des HI-Virus und Vorurteile gegenüber den Menschen mit HIV.
Tiefster Stand der Neuansteckungen
Die Aids-Hilfe Schweiz sowie der Verein Life4me+ setzen sich zum einen gegen diese Diskriminierung ein, zum anderen aber auch für Prävention und Sensibilisierung. Und vor allem die Präventionskampagnen tragen Früchte. «Hatten wir in der 1980er-Jahren noch mehrere Tausend Ansteckungen pro Jahr, waren es 2018 noch 425 – das ist der tiefste Stand, den wir je hatten», so Schocher.
Auch wenn man heute ohne Einschränkungen mit HIV leben kann, soll die Ansteckungsrate natürlich tief gehalten werden. Der Moment der Diagnose und die Aussicht auf ein Leben, angewiesen auf Medikamente, ist für Betroffene nach wie vor ein einschneidendes Erlebnis.
«Ich hatte Angst, ich sterbe bald»
Alex S. bekam die Diagnose 2012 oder 2013, so genau weiss er das nicht mehr. In seinem Umfeld lebten schon einige mit HIV. «Wir hatten im Freundeskreis schon vor meiner Diagnose viel darüber gesprochen, und ich wusste, dass man damit gut leben kann», erzählt er. «Dennoch hatte ich natürlich erst mal einen Schock. Der konnte aber durch mein Umfeld gut aufgefangen werden, und so war ich relativ schnell wieder einigermassen auf dem Damm.»
Anders sah es bei Matthias B. aus, der seine Diagnose bereits vor 23 Jahren erhielt. «Für mich ist eine Welt zusammengebrochen», erzählt er. «Ich dachte, das wars für mich mit dem Sex. Vier Jahre habe ich niemanden mehr getroffen. Ich war der Meinung, ich könnte mich niemandem zumuten, hatte Angst, ich könnte jemanden anstecken, und machte mir natürlich Vorwürfe. Und: Ich dachte, ich sterbe bald. Ich habe mich förmlich selbst stigmatisiert.» Lächelnd fügt er an: «Es war eine andere Zeit.»
Keine Einschränkung der Lebensqualität
Den starken Rückgang bei den Neuansteckungen führt Schocher neben der Prävention und der medikamentösen Therapie auch auf Vorbeugemassnahmen wie die sogenannte Präexpositionsprophylaxe zurück. «Diese Medikamente kann man nehmen, wenn man negativ ist, und man ist dann gegen eine mögliche Ansteckung geschützt.»
Neben den vorbeugenden Massnahmen gibt es heute zahlreiche medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten für Menschen, die mit dem Virus leben. Diese Fülle an Optionen lässt es zu, dass die Therapie jeder Zeit angepasst und die Nebenwirkungen auf ein Minimum reduziert werden können.
«Diskriminierung entsteht durch Unwissenheit»
Ein Leben mit HIV bedeutet zwar, dass man den Rest seines Lebens – oder bis die Medizin eine Heilung präsentiert – auf Medikamente angewiesen ist, doch es ist längst kein Todesurteil mehr. Erst einmal in Behandlung, können Menschen mit dem Virus leben und dieses nicht einmal mehr weitergeben.
Zeit also, mit alten Vorurteilen aufzuräumen. Alex S. sagt dazu: «Es ist wichtig, die Leute aufzuklären, denn das Stigma des ansteckenden und unreinen HIV-Positiven entsteht durch Unwissenheit.»
* Namen bekannt