Markus Ryffel über die Geschichte des Greifenseelaufs
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Die Idee kam ihm in New York:Markus Ryffel über die Geschichte des Greifenseelaufs

Kulturgeschichte des Joggens
Die Befreiungsbewegung

Obwohl wir fürs Laufen geboren sind, galt Jogging während Jahrhunderten als unchristlich. Heute ist die Schweiz ein Land von Läufern – nicht zuletzt dank der Frauen.
Publiziert: 15.04.2019 um 17:12 Uhr
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Aktualisiert: 21.10.2022 um 10:56 Uhr
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In der Schweiz betreiben 1,5 Millionen Menschen regelmässig Laufsport – Tendenz steigend.
Foto: Keystone
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Im Sekundentakt setzt ein Fuss vor dem anderen auf: Tam! Tam! Tam! Der Atem geht rhythmisch: Hah! Hah! Hah! Die Herzfrequenz übersteigt 150 Schläge in der Minute, Schweiss glänzt auf der Stirn – und das Glückshormon Endorphin zaubert ein Lächeln auf die Lippen.

Es ist Jogging-Zeit. In den wärmeren Monaten schnüren wieder Tausende die Turnschuhe und rennen durch Wiese, Wald und Wohnsiedlung. Die leichtfüssige Blondine, der schwerfällige Grauhaarige und die quirlige Familie: Joggen ist eine Volksbewegung. Gut 1,5 Millionen Schweizerinnen und Schweizer betreiben regelmässig Laufsport, was knapp einem Fünftel der Bevölkerung entspricht – Tendenz steigend.

Viele haben ein Ziel vor Augen und wollen an einem der über 500 Volksläufe teilnehmen – vom Berner Chäsitzerlouf (27. April) über den Waadtländer Tour du Lac de Joux (6. Juli) bis zum Baselbieter Crossrun (15. September).

«Was in der Schweizer Laufbewegung abgeht, ist einzigartig für ein Land mit 8,4 Millionen Einwohnern», analysierte der Lauf-Experte Heinz Schild (77) jüngst in einem Fachbeitrag. Schild entdeckte und betreute den erfolgreichsten Schweizer Langstreckenläufer, Markus Ryffel (64, siehe Interview Seite 7), und erfand den Jungfrau-Marathon sowie den Grand Prix von Bern.

Mit fast 32 000 Teilnehmern ist der Grand Prix die populärste Laufveranstaltung in der Deutschschweiz. Landesweit zählt nur die Escalade in Genf mit rund 45 000 Aktiven noch mehr Läufer. Schild rechnet vor, dass die zehn grössten Volksläufe letztes Jahr die Marke von total 200 000 Zieleinläufen geritzt haben – ein Viertel mehr als noch vor fünf Jahren. Und Schild ist überzeugt: «Der Peak ist noch auf Jahre hinaus nicht erreicht.»

«Spaziergänger belächelten uns verständnislos»

Den Gipfel vor, die Talsohle hinter sich: Genau 40 Jahre ist es her, dass Heinz Schild ein Buch zu einem neuen Phänomen veröffentlicht hat: «Jogging in der Schweiz – der internationale Volkssport, speziell auf Schweizer Verhältnisse abgestimmt», heisst der eidgenössisch eingefärbte Titel, der 1979 bei Benteli herauskam und die skeptischen Schweizer von einer neuen Bewegung überzeugen sollte.

Damals waren Menschen, die nur zum Selbstzweck draussen rumrannten, eine Seltenheit. Der in Uster ZH aufgewachsene Markus Ryffel erinnert sich: «Im Sommer lief ich mit meinem Bruder Urs täglich um den Greifensee», sagt er. In kurzen, blauen Turnhosen und weissen Leibchen joggten sie an Spaziergängern vorbei. «Die belächelten uns verständnislos, da unser Tun als unnützer Zeitvertreib galt.»

Durch Sport zum Selbstzweck «verkommen», hat der Langstreckenlauf in der menschlichen Evolution durchaus einen tieferen Sinn. Aufgerichtet auf zwei Beinen konnten unsere Vorfahren nach Nahrung Ausschau halten – Höhlenmalereien zeugen von solchen Jagdszenen. «Was das Sprinten angeht, sind wir im Vergleich mit den meisten Tieren furchtbar», sagt Vybarr Cregan-Reid in einem Interview mit «National Geographic». «Aber über Distanzen sind wir besser als alle anderen Lebewesen.»

Cregan-Reid von der Universität Kent veröffentlichte 2016 das Buch «Footnotes: How Running Makes Us Human» («Wie uns das Laufen zum Menschen machte»). Darin beschreibt er anhand der Anatomie, dass der Mensch zum Laufen geboren ist: das flache Gesicht, das uns hilft, den Körperschwerpunkt zu halten; das sogenannte Nackenband, das ein Kippen des Kopfes nach vorne verhindert. Zudem ist der Mensch durch den aufrechten Gang der Mittagssonne ­weniger ausgesetzt und kann den Körper kühler halten.

Christen lehnten Betätigungen zum Selbstzweck ab

Diese menschlichen Vorteile machen sich Herrscher früh zunutze. Die Pharaonen (um 1000 v. Chr.) schicken Landvermesser aus, um das Reich abzulaufen und die Grösse zu bestimmen; König Salomon (965–926 v. Chr.) hat tausend
Läufer für die schnelle Nachrichtenübermittlung; und Alexander der Grosse (356–323 v. Chr.) nimmt Schrittzähler mit auf Feldzüge nach Persien, Indien und Ägypten.

Inkas, Römer, Perser und Araber organisieren für den effizienten Botendienst über lange Distanzen Stafettenläufer. Der berühmteste Einzelbote ist und bleibt aber der Grieche Pheidippides, der nach der Schlacht bei Marathon (490 v. Chr.) mit der Nachricht vom Sieg über die Perser zurück nach Athen eilt und dort gemäss der Legende tot zusammenbricht – der Begriff des Marathonlaufs ist geboren.

Die antiken Griechen betreiben bei ihren Olympischen Spielen bereits den sportlichen Lauf über 192 Meter (ein Stadion), doch mit der Christianisierung nimmt diese Tätigkeit ein Ende, denn die Strenggläubigen lehnen jegliche Betätigung zum Selbstzweck ab. Diese christliche Haltung hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert gehalten – bis zu den Spaziergängern am Greifensee, die den vorbeijoggenden Markus Ryffel noch Ende der 1970er-Jahre belächelten.

Die gesundheitsfördernde Wirkung des Laufens, die Prävention gegen Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen – all das kannte man vor 40 Jahren nicht oder stellte es in Abrede. Mehr noch: Man ging von schädlichen Folgen durch Langstreckenläufe aus, insbesondere für Frauen – durch die andauernde Erschütterung im Schrittbereich könnte ihnen die Gebärmutter rausfallen, meinte man.

«Ich bin als Mädchen gestartet und als Frau angekommen»

Deshalb durften Frauen lange keine Marathonläufe bestreiten, olympisch wurde der Wettbewerb für sie erst 1984! Und wenn morgen Montag der Boston-Marathon zur Austragung kommt, ist es erst 52 Jahre her, dass eine Pionierin illegal am Rennen teilnahm und damit einen entscheidenden Schritt für die Frauenrechte machte.

Mittwoch, der 19. April 1967, ist ein nasskalter Tag an der Ostküste der USA – Regen, Temperaturen um den Gefrierpunkt, Schneefall. Viele der 733 Teilnehmer des Boston-Marathons tragen deshalb dicke Sweatshirts, wodurch zunächst nicht auffällt, dass der Läufer mit der Startnummer 261, der sich als K. Switzer angemeldet hat, gar kein Mann ist, sondern die damals 20-jährige Kathrine Switzer.

Während des Rennens macht ein Journalist die Rennleitung auf Switzer aufmerksam: «Hey, da vorne läuft eine Tussi mit.» Die Veranstalter versuchen, sie aus dem Läuferfeld rauszuzerren, ihr die Startnummer abzureissen. Vergeblich, denn andere Läufer beschützen Switzer. Nach 4 Stunden und 20 Minuten kommt sie ins Ziel und wird prompt disqualifiziert. Egal: «Ich bin als Mädchen gestartet und als Frau angekommen», sagt Switzer später über ihren Lauf für die Gleichberechtigung. 

Der Schweizer Dokumentarfilm «Free to Run» aus dem Jahre 2016 zeigt, wie der Schweizer Noël Tamini (82), Gründer der Lauf-Zeitschrift «Spiridon», Switzer in die Schweiz holt. Hier nimmt sie 1972 am ältesten Schweizer Volksrennen, dem Murtenlauf, teil – als erste Frau natürlich. «Viele Protagonistinnen und Protagonisten des Films sind keine Ausnahmeathleten, sondern Pioniere und mutige Wegbereiter», sagt der Genfer «Free to Run»-Regisseur Pierre Morath (49). «Die Leute entdeckten ihre individuelle Freiheit und begannen zu laufen.»

Heute geht es darum, schön, schlank und gesund zu sein

«Die Laufszene wird weiblicher und fröhlicher», so Heinz Schild. Und Markus Ryffel sagt ergänzend: «Die Frau spürt, was ihr guttut, der Mann braucht eher das Podest.» 1979 veranstaltet Ryffel zusammen mit Thomas Wessinghage das erste Laufseminar in St. Moritz GR. Teilnehmer: 17 Männer, eine Frau. Letztes Jahr hatten sie in den Aktivferien mit mehreren Hundert Teilnehmenden einen Frauenanteil von 69 Prozent. «Die Joggingdichte in der Schweiz ist heute gigantisch», sagt Ryffel, «da haben Frauen viel dazu beigetragen.»

Die Befreiungsbewegung Joggen – gesellschaftlich oder persönlich wie im Fall von Ryffel. «Wenn ich um den Greifensee oder die Aare entlang jogge, dann kommt bei mir sehr schnell Euphorie und das Gefühl von grenzenloser Freiheit auf – der Körper fühlt sich leicht an, die Welt fliegt an einem vorbei, und ich könnte grenzenlos weiterlaufen», sagt der heute in Allmendingen BE wohnhafte Geschäftsführer seines Laufsportunternehmens Markus Ryffel’s GmbH.

Ryffel organisiert seit 1987 den Schweizer Frauenlauf in Bern und seit 1980 den Greifenseelauf, der dieses Jahr also ein Jubiläum feiert und zum 40. Mal stattfindet. Starteten an der ersten Seeumrundung gerade mal 1400 Personen, so hat sich die Teilnehmerzahl zwischenzeitlich verzehnfacht und den Anlass zu einem Volksfest gemacht. «Laufen ist heute nicht mehr wegzudenken», sagt Ryffel.

Und «Free to Run»-Regisseur Morath sagt: «Vor 40 Jahren wurde mit dem Finger auf uns gezeigt, wenn wir durch die Strassen oder in der Natur rannten. Heute zeigt man auf uns, wenn wir nicht joggen.» Von den idealistischen Ursprüngen des Laufens als rebellischer und individueller Akt gehe es heute in erster Linie darum, schön, schlank und gesund zu sein: Man darf nicht, sondern muss Sport treiben.

Markus Ryffel über Olympia

Markus Ryffel, Sie sind der erfolgreichste Schweizer Langstreckenläufer. Wie kamen Sie zum Ausdauersport?
Ende der 1960er-Jahre hatten die Eltern in Uster ein Restaurant und eine Metzgerei. Meine drei Brüder und ich lieferten jeweils das Fleisch an Kunden aus. So war ich täglich 20 bis 30 Kilometer unterwegs.

Förderte die Schule Ihre sportlichen Ambitionen?
Im Schulsport der Primarstufe gab es damals keine Ausdauerdisziplinen. Und im 80-Meter-Lauf schlugen mich regelmässig ein, zwei Mitschülerinnen.

Was machten Sie?
Ich nahm das Langstrecken-Training selber in die Hand und beteiligte mich bereits als Zehnjähriger mit meinem fünf Jahre älteren Bruder Urs am Geländelauf Madetswil im Zürcher Oberland – ein erstes Erfolgserlebnis. Ich merkte, das liegt mir, und ich wollte an die Olympischen Spiele.

Weshalb?
Mein Lehrer hatte damals Olympia-Bücher, die mich sehr faszinierten. Und 1968 sah ich die Spiele von Mexiko im Schwarz-Weiss-TV – da war es um mich geschehen.

Sie waren bereits 1976 an den Olympischen Spielen von Montreal.
Dort wurde ich bloss 28. über 5000 Meter. Ich reiste mit vielen Autogrammkarten von Siegern nach Hause und schwor mir, in vier oder acht Jahren selber Autogramme zu schreiben. 

1984 waren Sie der Star und gewannen bei den Olympischen Spielen von Los Angeles die Silbermedaille im 5000-Meter-Lauf.
Ich hatte sehr viel Glück, denn im Finalrennen waren drei Kenianer. Wenn drei Afrikaner aus einem Land laufen, opfern sie einen Athleten mit einem Scheinangriff. Afrikaner lieben unrhythmische Rennen, mal eine langsame, dann eine schnelle Runde.

Aber in Los Angeles klassierte sich kein Kenianer in den Medaillenrängen.
Genau, weil einer der beiden Portugiesen im Weltrekordtempo vorne weglief – das war mein Glück. Die Kenianer erschraken und konnten ihr Katz-und-Maus-Spiel bei diesem hohen Tempo nicht durchziehen. Da wurde ich Zweiter hinter dem überlegenen Said Aouita aus Marokko.

Vor genau 30 Jahren sind Sie vom Spitzensport zurückgetreten. Hat der nach all den Dopingskandalen seine Unschuld verloren?
Ich bin überzeugt, dass man als Ausnahmekönner auch ohne Doping heute noch zu den Weltbesten gehören kann.

Markus Ryffel, Sie sind der erfolgreichste Schweizer Langstreckenläufer. Wie kamen Sie zum Ausdauersport?
Ende der 1960er-Jahre hatten die Eltern in Uster ein Restaurant und eine Metzgerei. Meine drei Brüder und ich lieferten jeweils das Fleisch an Kunden aus. So war ich täglich 20 bis 30 Kilometer unterwegs.

Förderte die Schule Ihre sportlichen Ambitionen?
Im Schulsport der Primarstufe gab es damals keine Ausdauerdisziplinen. Und im 80-Meter-Lauf schlugen mich regelmässig ein, zwei Mitschülerinnen.

Was machten Sie?
Ich nahm das Langstrecken-Training selber in die Hand und beteiligte mich bereits als Zehnjähriger mit meinem fünf Jahre älteren Bruder Urs am Geländelauf Madetswil im Zürcher Oberland – ein erstes Erfolgserlebnis. Ich merkte, das liegt mir, und ich wollte an die Olympischen Spiele.

Weshalb?
Mein Lehrer hatte damals Olympia-Bücher, die mich sehr faszinierten. Und 1968 sah ich die Spiele von Mexiko im Schwarz-Weiss-TV – da war es um mich geschehen.

Sie waren bereits 1976 an den Olympischen Spielen von Montreal.
Dort wurde ich bloss 28. über 5000 Meter. Ich reiste mit vielen Autogrammkarten von Siegern nach Hause und schwor mir, in vier oder acht Jahren selber Autogramme zu schreiben. 

1984 waren Sie der Star und gewannen bei den Olympischen Spielen von Los Angeles die Silbermedaille im 5000-Meter-Lauf.
Ich hatte sehr viel Glück, denn im Finalrennen waren drei Kenianer. Wenn drei Afrikaner aus einem Land laufen, opfern sie einen Athleten mit einem Scheinangriff. Afrikaner lieben unrhythmische Rennen, mal eine langsame, dann eine schnelle Runde.

Aber in Los Angeles klassierte sich kein Kenianer in den Medaillenrängen.
Genau, weil einer der beiden Portugiesen im Weltrekordtempo vorne weglief – das war mein Glück. Die Kenianer erschraken und konnten ihr Katz-und-Maus-Spiel bei diesem hohen Tempo nicht durchziehen. Da wurde ich Zweiter hinter dem überlegenen Said Aouita aus Marokko.

Vor genau 30 Jahren sind Sie vom Spitzensport zurückgetreten. Hat der nach all den Dopingskandalen seine Unschuld verloren?
Ich bin überzeugt, dass man als Ausnahmekönner auch ohne Doping heute noch zu den Weltbesten gehören kann.

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