Auf einen Blick
Weihnachten ist eine einzige Fressorgie. Ein Wunder, dass wir das jedes Jahr überleben. Drei Tage lang stopfen wir uns mit Sachen voll, die eigentlich nur krank, süchtig, übergewichtig und dick machen. Würstchen im Teig – an Heiligabend fangen wir schon mittags an. Belegte Brötchen mit Eiersalat und viel Mayo – Cholesterin hoch zehn, die Arterien machen dicht, das Herzinfarktrisiko schiesst in den Himmel. Am Abend der nächste Systemschock: Fondue chinoise. Pastetli mit Milken. Kartoffelsalat und Braten an Buttersauce. Nicht zu vergessen: Schokopudding, Crème brûlée und schachtelweise Guetzli zum Dessert. Wer jetzt noch Kalorien zählt, verliert den Verstand.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass unsere deutschen Nachbarn sich über die Festtage durchschnittlich 800 Gramm anfuttern. Höchstwahrscheinlich sieht es in der Schweiz ähnlich aus. Die Reinschauflerei ist unsinnig. Sie ist für unsere Gesundheit ein Desaster. Trotzdem tun wir es jedes Jahr von neuem. Warum eigentlich? Warum völlern wir bis zum Gehtnichtmehr und verputzen Berge von Fleisch, obwohl so viele von uns mittlerweile (Halb-)Vegis sind und es uns nicht nur Gicht bringen kann, sondern auch ins Grab?
Uralte Mechanismen sind am Werk
Fragt man Christine Brombach, Ernährungswissenschaftlerin und Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, hört man durch den Telefonhörer ein leises Lachen. Sie weiss: Jeglicher Kampf gegen die weihnachtliche Fresserei ist schon verloren. «Festmahle gab es immer schon.» Drei Gründe nennt sie dafür: Das kollektive Überfressen hat unsere Evolution in uns verankert, es macht uns glücklich, und es ist durch Rituale mit unserer Kultur so verwachsen, dass wir es nicht mit einem Fingerschnips loswerden. Aber der Reihe nach.
Brombach sagt: «Die Menschheitsgeschichte ist eine Mangelgeschichte.» Auch wenn es in diesen Tagen, wo uns Panettone und Weihnachtsstollen in den Supermarktregalen anlachen, nicht so aussieht. Unser Überfluss ist historisch einmalig. Der grösste Teil der Geschichte des Menschen musste er hart für seine Mahlzeiten arbeiten und «Durststrecken» aushalten. War Essen da, schaufelte er so viel rein, wie er konnte. Auf Vorrat. Genau das zelebrierte er dann auch. «Das Festmahl war der Ausgleich zum Mangel», sagt die Ernährungsforscherin. Nichts symbolisierte das mehr als das proteinreiche und oft fettige Fleisch, der Energielieferant per se. Ohne ihn wären wir, so wie wir sind, heute gar nicht da. Die Fleischfixierung haben wir in den Genen.
Aber seien wir ehrlich: Auch wenn wir uns nach einer Völlerei ein bisschen hassen – wir lieben sie genau so. Auch an Weihnachten. Besonders an Weihnachten! Jedes Jahr verdrehen wir die Augen, wenn «Last Christmas» von Wham! schon im November aus den Kaufhausboxen röhrt. Und atmen gleichzeitig auf, weil wir uns auf diese feste Grösse verlassen können. Geht die Welt, das Leben den Bach runter – Weihnachten kann uns niemand nehmen. Das Ritual, die Kontinuität – das verschafft uns Sicherheit. Und ein Geborgenheitsgefühl.
Der heimliche Star auf dem Tisch: Die Gabel
Anlass für den Exzess ist ja die Geburt von Jesus, seine Ankunft in der Welt. Bei Ente und Gans zelebrieren wir Familie, Gemeinschaft. Onkel Hans greift zur Hühnerkeule und macht einen schlecht gealterten Frauenwitz, Oma Greti erzählt, wie Vater Franz als Teenager Wellensittiche züchtete. Wir wissen, worum es geht, hören es jedes Jahr und haben uns völlig damit abgefunden. Wir fühlen uns aufgehoben. Dahinter steckt Biochemie, sagt Ernährungsforscherin Brombach. «Beim Weihnachtsessen schüttet der Körper das Bindungshormon Oxytocin aus.»
Halten wir uns das doch vor Augen, wenn das fette Festmahl uns nachts wach hält und wir im Bett ein «Warum bloss?!» zum Himmel schicken. Von ungefähr dort müsste dann auch die Antwort kommen: Sei doch froh! Es hätte schlimmer kommen können! Allein, dass du mit Messer und Gabel am Tisch sitzen kannst – ein Wunder!
Da ist was dran. Besteck ist eine Errungenschaft unserer Zivilisation. Über Jahrhunderte gewachsen. Davor ass man lange mit dem Löffel – wenn überhaupt mit etwas. Der Soziologe Norbert Elias (1897–1990) hat das in seinem Werk «Prozess der Zivilisation» aufgeschrieben. Die Prominente des Buchs: die Gabel. Ihr Aufstieg ist mit der Entwicklung unserer Tischsitten verbunden. Dabei war ihr Dasein einst hochumstritten.
Der Anfang war schwer. Im 11. Jahrhundert tauchte eine frisch angeheiratete byzantinische Prinzessin mit einer Gabel an einem Essen am Dogenhof in Venedig auf. Eines der wichtigsten Machtzentren Europas, die Elite hielt viel auf und von sich. Sie rümpfte über das Gäbelchen in der Hand der Dame nur die Nase. Skandal! Die Kirche stieg auf die Barrikaden: Gott habe die Finger geschaffen, mit ihnen sollte der Mensch seine Gaben berühren. Weg damit! Und wie so oft im Leben machte der Frevel das Ding erst interessant – und zum It-Piece. In den folgenden Jahrhunderten breitete es sich in den Oberschichten Italiens, Frankreichs, Englands und Deutschlands aus und tröpfelte später hinab zum gemeinen Volk. Viele weitere Anstandsregeln folgten.
Dinge ändern sich – nach langer, langer Zeit
Der Gabel haben wir es zu verdanken, dass unsere Verwandten heute zwischen dem Griff zum Schinkengipfeli und dem Bissen in den Lebkuchen nicht in der Nase bohren und alles, was ihnen nicht mundet, auf den Tisch spucken. Und das soll so bleiben. Dafür sorgt eine Welle von Knigge-Tipps, die uns gerade wieder auf allen Kanälen entgegenschwappt. Eine Expertin rät in der «Südostschweiz» eindringlich: «Bitte keinen Zahnstocher am Tisch benutzen, das ist ein No-Go!» Und: «Dasselbe gilt fürs Schminken, Ladys, auch dafür geht man vom Tisch.» Den Teil mit der «Serviettensprache» sparen wir uns jetzt.
Der Tischsitten-Exkurs zeigt: Es besteht Hoffnung. Verhaltensweisen verändern sich. Halten wir noch ein paar Jahrhunderte durch und sterben nicht wegen Herzinfarkt, Diabetes und Krebs aus, erleben unsere Nachkommen ja vielleicht einen vernünftigen Weihnachtsschmaus. Wahrscheinlich ist dann aber auch die Hölle zugefroren.