Auf der südjapanischen Insel Okinawa sollen die ältesten und glücklichsten Menschen der Welt leben. Das hielt der US-Amerikanische Reporter und Autor Dan Buettner (63) bereits 2005 in einem aufsehenerregenden Bericht für das Magazin «National Geographic» fest. 100-jährige Obstbäuerinnen oder 92-jährige Sushi-Meister sind auf Okinawa keine Seltenheit. Hohes Alter – und vor allem Zufriedenheit – scheinen für die Insel selbstverständlich zu sein. Nahe dem kleinen Dorf Ogimi im Norden der Insel soll es gar eine Steinmarkierung geben, auf der steht: «Mit 80 Jahren bist du nur ein Jugendlicher. Wenn dich deine Vorfahren mit 90 Jahren in den Himmel rufen, bitte sie, zu warten, bis du 100 Jahre alt bist – dann kannst du darüber nachdenken.»
Der Grund für die Langlebigkeit auf Okinawa liegt in «Ikigai», was auf Japanisch so viel bedeutet wie «das, wofür es sich morgens lohnt, aufzustehen», oder einfacher «das, wofür es sich zu leben lohnt». In den vergangenen Jahren ist ein regelrechter Hype um die japanische Lebensphilosophie entstanden.
Zahlreiche Ratgeber versuchen, sich darin zu überbieten, die Geheimnisse des japanischen Lebensgefühls zu ergründen. Sabina Misoch (53), Soziologin und Altersforscherin an der Ostschweizer Fachhochschule, hat zur Langlebigkeit auf Okinawa geforscht. Sie sagt: «Es handelt es sich nicht um einen weiteren Lifestyle-Trend aus Fernost. Vielmehr steckt hinter Ikigai ein Lernmodell, von dem wir uns viel abschauen können.»
Sabina Misoch (53) promovierte in Soziologie und ist Professorin für Altersforschung an der Ostschweizer Fachhochschule. Sie befasst sich seit Jahren mit den vielfältigen Aspekten des Alters und alternder Gesellschaften. Im Rahmen von Forschungsarbeiten in Japan stiess sie 2017 eher zufällig auf das japanische Konzept von Ikigai. Seitdem hat sie sich intensiv damit befasst und sieht darin vielversprechende Ansätze, die wir auch in Europa übernehmen können.
Sabina Misoch (53) promovierte in Soziologie und ist Professorin für Altersforschung an der Ostschweizer Fachhochschule. Sie befasst sich seit Jahren mit den vielfältigen Aspekten des Alters und alternder Gesellschaften. Im Rahmen von Forschungsarbeiten in Japan stiess sie 2017 eher zufällig auf das japanische Konzept von Ikigai. Seitdem hat sie sich intensiv damit befasst und sieht darin vielversprechende Ansätze, die wir auch in Europa übernehmen können.
Zukunftsgerichtete Lebenshaltung
Ikigai könne mit einem Gefühl beschrieben werden, ein wertvolles Leben zu haben, sagt Misoch. Ein Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben, der sozialen Eingebundenheit. Heute wie auch in Zukunft. «Es ist eine zukunftsgerichtete Lebenshaltung. Menschen, die ein ausgeprägtes Ikigai haben, schauen nach vorne, jeden Tag aufs Neue.» Das sei insbesondere bei älteren Menschen von Bedeutung. Sie würden sich nicht über Vergangenes beklagen, sondern schauen trotz hohen Alters zuversichtlich in die Zukunft.
Und tatsächlich: Eine 2022 im Fachmagazin «Lancet» publizierte Studie besagt, dass ein ausgeprägtes Ikigai massgeblich zur Gesundheit und zum Wohlbefinden im Alter beiträgt. Unter den mehreren Tausend Befragten wiesen diejenigen mit einem ausgeprägten Ikigai eine 36 Prozent tiefere Wahrscheinlichkeit auf, an Demenz zu erkranken. Ausserdem hatten sie seltener Depressionen und waren insgesamt zufriedener mit dem Leben.
Gesellschaftliche Einbindung
Ikigai genau zu definieren, sei allerdings schwierig, sagt Misoch. «Es ist ein Ineinandergreifen von psychosozialen Faktoren.» Was das heisst: Es ist eine Mischung einer positiven Lebenshaltung, einem Gefühl, beschäftigt zu sein und Verantwortung zu tragen – für die es sich jeden Tag aufs Neue lohnt, aufzustehen –, und einer soliden sozialen Integration.
«Die älteren Menschen auf Okinawa sind sehr eng in die Gesellschaft eingebunden.» Die Menschen dort hätten auch keine klassische Vorstellung einer Rente oder Pensionierung, sagt Misoch. «Sie arbeiten einfach, solange sie können und wollen.» Deswegen gebe es auch über 100-jährige Obstbauern, die stets das Gefühl haben, ihre Tätigkeit sei sinnvoll und erfüllend.
Der japanische Neurowissenschaftler Ken Mogi (61) verfasste 2018 den Ratgeber «Ikigai: Die japanische Lebenskunst», der auch im Jahr 2024 noch auf Bestseller-Listen zu finden ist. Darin definiert er die fünf Säulen des Ikigai:
- Fange klein an, mit einem guten Moment pro Tag, etwa einer Tasse Tee
- Lerne loszulassen, vergiss Status und Geld
- Lebe in Harmonie und Nachhaltigkeit
- Freue dich an den kleinen Dingen, etwa an Vögeln
- Sei ganz im Hier und Jetzt
Ikigai ist nicht schwierig
«Auch wenn diese Punkte allzu banal erscheinen, liegt genau darin die Essenz von Ikigai», sagt Misoch. «Sich an den Grundpfeilern zu orientieren, ist kein Kunststück.» Es sei wichtig, sich an eben diesen kleinen Dingen festzuhalten: Bescheidenheit, Harmonie, Gelassenheit, einen guten Start in den Tag, Präsenz im Hier und Jetzt. «Die Forschung zeigt je länger, desto mehr, dass diese vermeintlich simplen Aspekte zu einem längeren und glücklicheren Leben beitragen.»
Das Interesse an Ikigai sei in Europa deswegen so hoch, weil unsere Gesellschaft oft in eine andere Richtung weise, sagt Misoch. Alles müsse schneller, besser oder effizienter sein. «Wenn uns ältere Menschen auf Okinawa zeigen, wie eine gegenteilige Lebensweise zu Zufriedenheit und Gesundheit führt, dann fasziniert uns das.» Und gerade weil Ikigai im Kern sehr einfache Anhaltspunkte bietet, sei es eine Möglichkeit für uns, Bausteine daraus für unser Leben zu übernehmen.