Aargauerin mit Leseschwäche
Erfolgreiche Primarlehrerin trotz Legasthenie

Die Aargauerin Elisabeth Müller (70) ist Legasthenikerin. Das heisst, sie hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Wie es ihr dennoch gelang, eine erfolgreiche Primarlehrerin und Hochschuldozentin zu werden, erzählt sie im Gespräch mit BLICK.
Publiziert: 19.01.2021 um 09:45 Uhr
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Elisabeth Müller ist pensionierte Primarlehrerin, Hochschuldozentin - und Legasthenikerin.
Foto: Anne Grimshaw
Anne Grimshaw

«In der Primarschule hat meine Mutter immer wieder Diktate mit mir geübt. Die Lehrerin warf mir trotzdem vor, ich hätte mich nicht vorbereitet», erinnert sich die Aargauerin Elisabeth Müller (70) im Gespräch mit BLICK. «Irgendwann dachte meine Mutter einfach, ich sei halt nicht so klug.»

Doch an der Intelligenz lag es nicht. Müller ist Legasthenikerin. Das heisst, sie hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche, obwohl sie normal begabt ist.

«Beim Lesen lassen Legastheniker Wörter aus oder fügen neue hinzu. Sie lesen sehr langsam und vertauschen Buchstaben. Beim Schreiben werden viele Fehler gemacht», erklärt Logopädin Beatrice Ribaux, die sich mit erwachsenen Legasthenikern befasst.

Besonders auffällig: Die Fehler von Legasthenikern sind nicht konstant. Wörter werden immer wieder auf andere Art und Weise falsch geschrieben.

Ein Grund, sich zu schämen?

«Meine ersten Schuljahre waren sehr hart», erzählt Müller, «wir hatten eine Lehrerin, die uns ‹Tatzen› verteilte und an den Haaren zog». Kein angenehmes Umfeld für ein Mädchen mit undiagnostizierter Legasthenie.

Ab der dritten Klasse hatte Müller einen jungen Lehrer, der ihr zeigte, dass sie eine gute Schülerin war, obwohl es mit Lesen und Schreiben nicht klappen wollte.

Müller schämte sich jeweils so sehr für das, was sie zu Papier brachte, dass sie immer die Hand auf ihre Texte legte, wenn ihr der Lehrer über die Schulter schaute.

Scham ist auch bei erwachsenen Legasthenikern ein grosses Thema: «Meine Klienten stehen oft unter grossem Druck. Sie trauen sich nicht, zu schreiben, sondern machen lieber Sprachmemos oder lassen jedes einzelne E-Mail von einer zweiten Person gegenlesen. Um ihre Legasthenie zu verbergen, arbeiten sie oft länger und sind dann entsprechend ausgepowert und müde», erklärt Legastheniker-Expertin Ribaux.

Strategien und Kompensation

«Legastheniker sind meist intelligent, aber man glaubt es ihnen nicht, weil sie langsam lesen und schlecht schreiben. So werden sie heruntergestuft, und man erkennt ihr Potenzial nicht, obwohl sie sehr kreativ und oft genial sind», fährt Ribaux fort.

Elisabeth Müller konnte ihre Mühe im Deutsch- und im Fremdsprachunterricht dank hervorragender Fähigkeiten in der Mathematik kompensieren. Die Aufnahmeprüfung an die Bezirksschule bestand sie mit einer fehlerfreien Mathematikprüfung im ersten Anlauf. Auch ins Lehrerseminar schaffte sie es dank der Mathematik.

In sprachlichen Fächern entwickelte Müller andere Strategien, um erfolgreich durchzukommen: «Eine Kameradin gab mir Englischnachhilfe, und bei der Abschlussarbeit organisierte ich mir eine ganze Crew von Leuten, die meine Texte korrigierten», erzählt sie.

Besonders schwierige Wörter notiert sich Müller bis heute auf Listen: «Das Wort Tunnel zu Beispiel, das macht mir immer Mühe, da müsste ich auch jetzt wieder nachschauen, wie man es schreibt.»

Auch Logopädin Ribaux arbeitet mit Vokabular-Training: «Ich schaue mir immer gemeinsam mit dem Klienten an, welche Wörter er oft braucht und falsch schreibt. Daraus erstellen wir Kärtchen und lernen sie wie eine Fremdsprache.» In einigen Fällen sei dieses Training sogar so erfolgreich gewesen, dass dem Klienten bei einer erneuten Abklärung keine Legasthenie mehr nachgewiesen werden konnte.

Als Legasthenikerin Lesen beibringen

Elisabeth Müller ist heute pensioniert und schaut auf eine lange Karriere als Primarlehrerin, Heilpädagogin und Hochschuldozentin zurück. 1985 bis 1997 arbeitete sie als Unterstufenlehrerin und brachte Kindern das Lesen und Schreiben bei – also genau das, womit sie selbst Schwierigkeiten hat. Wie hat sie das gemacht? «Es gibt zum Glück sehr gute Lehrmittel, deshalb war das keine Kunst», erklärt sie.

Eine Kunst sei es hingegen gewesen, frühzeitig Ursachen zu erkennen, wenn Kinder Probleme hatten. «Dabei haben mir meine heilpädagogische Arbeit und sogar meine eigenen Schwierigkeiten geholfen. Ich habe auch immer wieder selbst Trainings getestet und versucht, meine Lesetechniken zu erkennen.»

Legasthenikerin ist Müller bis heute. Das zeigt sich insbesondere beim Lesen. «Ich habe zwar eine riesige Büchersammlung, aber nur ganz wenige Bücher davon fertig gelesen, weil mich das Lesen so anstrengt.»

Wenn Müller einen Brief schreibt, liest sie ihn immer zweimal durch. Für Fehler schämt sie sich heute aber nicht mehr: «Wenn mich Leute deswegen blöd finden, sind das sowieso keine Freunde für mich.»

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