No Smoking» steht an der Wand. Der Raum kennt nur die Dunkelheit. Um die Bar herum sitzen die Jungen mit ihrem Bier, stossen mit Araq-Shots auf das Leben an, rauchen. Manchmal riecht man Gras. Der Barkeeper ist der Freund aller, und die kleine Bühne im Hintergrund wartet darauf, mit Stimme und Klang gefüllt zu werden. Es gibt Dutzende solche Bars in Tel Aviv, und sie alle waren einst das Zuhause von Netta Barzilai.
Seitdem die 25-Jährige am 12. Mai 2018 den Eurovision Song Contest (ESC) gewonnen hat, sind all diese kleinen Bühnen im Hintergrund noch weiter nach hinten gerückt. Stattdessen ruft heute ein Publikum von Tausenden auf der ganzen Welt ihren Namen, wenn sie ins Scheinwerferlicht tritt. Aus den Gesichtern der rauchenden und Araq-trinkenden Jungen ist heute eine schreiende, anonyme internationale Masse geworden. Wie oft sie ihren Siegersong «Toy» bereits gesungen hat, kann sie nicht mehr zählen. Ob sie diesen Erfolg wollte? Sie sagt: «Nie.»
Während die meisten in der Schweiz den ESC mit mässigem Interesse verfolgen oder gar nicht, gehört dieses Musik-Ereignis in Israel zu den Unterhaltungs-Highlights des Jahres. Die Vorauswahl wird zur Primetime in Form einer Casting-Show ausgestrahlt. Wer in Israel von der grossen Bühne träumt, geht dahin. Netta suchte nicht die grosse Bühne, sie brauchte Geld. Wie sie die nächste Miete bezahlen sollte, wusste sie zu dem Zeitpunkt nicht. Ihre kleinen Auftritte in Nachtclubs wurden in Form von Bier honoriert, und ihre bezahlten Auftritte als Hochzeitssängerin wurden immer weniger.
Erst nachdem ihre Eltern ihr geraten hatten, zurück zu ihnen in ihre Heimatstadt Hod Hasharon zu ziehen, wagte sie den Schritt ins Fernsehen, wohl wissend, dass man sie in der Künstlerszene Tel Avivs für ihre Teilnahme an einer Reality-Show belächeln könnte. Und auch wohl wissend, dass sie mit ihrer dicken Statur nicht dem Schönheitsideal entspricht, das man sonst im Fernsehen sucht. «Hast du Angst, dass man dich dick nennen wird?», fragten die Produzenten der Casting-Sendung, als sie fast einen Rückzieher gemacht hätte. «Nennt man dich nicht etwa jetzt schon so?»
Vom Alpha-Kind zur Aussenseiterin
Netta lebte als Kind vier Jahre lang in Nigeria. Ihr Vater war dort als Unternehmer tätig. «Ich war während meiner Kindheit in Nigeria, wie alle anderen Kinder», erinnert sich Netta. «Auf der International School war jeder anders. Als dickes Mädchen aus Israel war ich Teil dieser heterogenen Gruppe und fiel als Exotin nicht auf. Ich war eine andere unter vielen.»
Erst mit sechs Jahren, als ihre Familie zurück nach Hod Hasharon zog, wurde sie wegen ihres Übergewichts zur Aussenseiterin. «Du bist schön», hat ihr ihre Mutter immer gesagt, wenn sie traurig war. «Du bist schön.» Netta hat es ihr nie geglaubt. Und so wurde das Mädchen, das in Nigeria als lustiges Alpha-Kind gefeiert wurde, in die Ecke gedrängt. Und von der Ecke aus beobachtete sie die Gesellschaft, in der sie lebte, und verstand schon früh, dass Schlanksein alleine nicht glücklich macht. So entschied sie sich, sich aus diesen gesellschaftlichen Schönheitsidealen und den damit verbundenen Zwängen zu befreien.
Bei Regen und Gedichten weinte sie
Um sich endgültig entfalten zu können, zog sie in die Grossstadt Tel Aviv, wo Diversität in allen Bereichen gefeiert wird. In der Anonymität der Masse fiel es ihr leichter, sich auf sich selbst und ihre Musik zu konzentrieren. «Heute sehe ich bei meinen Konzerten dicke Frauen in der ersten Reihe, die mich feiern, und ich sehe, wie sie weinen», sagt sie. Und Netta versteht, weshalb sie weinen.
Trotz der Zurückweisungen während ihrer Kindheit sagt Netta von sich, dass sie ein glückliches Mädchen war. Glücklich und dramatisch. «Drama-Netta» hatte man sie genannt. Das Künstlerherz schlug bereits damals in der kleinen Brust. Wenn es regnete, erinnert sie sich, weinte sie. Wenn die Klasse Gedichte las, weinte sie. Ihr Herz war wie ein Schmetterlingsflügel, der auf jeden Reiz sensibel reagierte.
Nettas Körper ist im Laufe der letzten Monate Teil des öffentlichen Interesses geworden. Wo sie auch hingeht, wer auch mit ihr redet, es geht immer um ihr Dicksein. Darum, sich trotz des Dickseins wohl und schön zu fühlen. Eine Rolle, die Netta angenommen hat. Auf der einen Seite erkennt sie die Notwendigkeit, öffentlich über diesen oberflächlichen Druck zu sprechen. Sie selbst hätte sich ein solches Vorbild während ihrer Teenagertage gewünscht. Damals, als alle ihre Freundinnen Freunde hatten und nur sie nicht. Diese kurze Liebelei, die im Versteckten stattfand, weil ihr damaliger Schulschatz sich für sie schämte, sei keine Beziehung gewesen.
Heute fühle sie sich wie Superman, sagt sie. «Sucht sich Superman seine Herausforderungen aus? Nein. Er wird gerufen.» Als feststand, dass sie als Siegerin der Casting-Show Israel am ESC repräsentieren würde, wurde sie sich ihrer Superpower bewusst. Und plötzlich wollte sie die damit verbundene Verantwortung wahrnehmen. Sie wollte und will noch immer etwas verändern. Menschen ermutigen, anders zu sein oder anders zu bleiben. Sie sieht sich als Botschafterin, und das macht sie stolz.
Netta ist aber nicht nur dick. Sie ist auch schrill, bunt, verrückt und fühlt sich dennoch sexy und weiblich. Sie will demonstrativ anders sein, um zu zeigen, dass man in keine Schublade passen muss. Für ihre Mission verkleidet sich Netta nicht. Sie trägt lediglich ihr extremstes Ich als Bühnenkostüm. Als sie beim ESC gewann, schrie sie ins Mikrofon: «Vielen Dank, dass ihr Diversität gewählt habt! Vielen Dank, dass ihr Unterschiede akzeptiert! Danke, dass ihr Vielfalt feiert!»
Heute ist bei Netta alles gross: die Bühnen, die Outfits, die weltweite Aufmerksamkeit. Fast jeden Morgen wird sie von einem Maskenbildner für ihre Termine zurechtgemacht. Sie schläft in Hotels, entdeckt die Welt und wird die Welt im Mai 2019 zu sich nach Tel Aviv holen, wo der ESC dann stattfindet. Die beiden Mitbewohner ihrer kleinen Wohnung im Zentrum Tel Avivs sieht sie nur noch selten. Manchmal schläft sie monatelang nicht in ihrem Bett.
Ruhm ist vergänglich. Und das ist gut so
Dass der Ruhm des ESC bald verblassen wird, weiss sie. Und irgendwie kommt man nicht um den Eindruck herum, dass sie insgeheim darauf wartet, bis sich nicht mehr so viele Augen auf sie richten. «Ich wollte bei der Vorausscheidung zum ESC eigentlich nie gewinnen», verrät sie. «Ich wollte einen guten dritten oder vierten Platz belegen, um etwas Aufmerksamkeit zu erhalten und vermehrt gebucht zu werden. Dann hätte ich von der Casting-Show profitieren und dennoch mein eigenes Ding durchziehen können.» Womöglich kann Netta deshalb den riesigen Trubel um ihre Person so geniessen, weil sie weiss, dass er zeitlich begrenzt ist. Doch wie früher wird ihr Leben auch nach dem nächsten ESC nicht sein, denn wer ihn für Israel einmal gewonnen hat, bleibt hier auf Lebzeiten ein Held.
Dennoch freut sich Netta auf die Zeit danach. Wenn die kleinen, dunklen Bars wieder die Scheinwerfer auf sie richten. Wenn sie nach ihren Auftritten mit dem Publikum auf Augenhöhe anstossen kann. Die grosse Welt ist für sie heute ein Abenteuer. Ihr Zuhause ist jedoch die kleine Welt, in der sie sich am wohlsten fühlt. Und sie freut sich, wieder in diese zurückzukehren. l
Netta tritt am 13. November im Plaza in Zürich auf.