Die Langschreiberin kann auch kurz: Mit zehn lakonischen Worten fasst die englische Autorin Hilary Mantel (67) im ersten Satz ihres neuen Wälzers «Spiegel und Licht» den Inhalt des Vorgängerbuchs «Falken» perfekt zusammen: «Sobald der Kopf der Königin abgetrennt ist, geht er davon.»
Sie, das ist Anne Boleyn (1501–1536), zweite Frau des englischen Königs Henry VIII. (1491–1547), die wegen angeblichen Ehebruchs aufs Schafott kommt; er, das ist Thomas Cromwell (1485–1540), Vertrauter des Königs und umtriebiger Staatsmann, der die Intrige gegen Boleyn angezettelt hat und nun Karriere macht.
Schon zwei Booker-Preise für Cromwell-Trilogie
«Er, Cromwell» – wie es in einer gottgleichen Formulierung in «Spiegel und Licht» immer wieder heisst – ist nicht nur die Hauptfigur im vorgestern auf Deutsch erschienenen Roman. Er war sie auch in den beiden Vorgängerwerken «Wölfe» (2010) und «Falken» (2012). Mit «Spiegel und Licht» (englisches Original: «The Mirror and the Light») schliesst Hilary Mantel ihre Cromwell-Trilogie jetzt ab.
Ein historisches Ereignis geht nach zehn Jahren zu Ende: Sowohl «Wölfe» («Wolf Hall», 2015 als TV-Serie verfilmt) als auch «Falken» («Bring Up the Bodies») wurden mit dem Booker Prize gekrönt, die höchste Ehre im englischen Sprachraum. Und am 5. März, dem Erstverkaufstag von «The Mirror and the Light», öffneten die Buchhandlungen auf der Insel wie für Harry Potter um Mitternacht und setzten in den ersten drei Tagen fasst 100'000 Exemplare ab.
Mit diesen Büchern hat Mantel Geschichte geschrieben und geht selber in die Geschichtsbücher ein: Sie ist die erste Frau, die zwei Mal den Booker Prize erhalten hat – die erste Person aus Grossbritannien überhaupt –, und noch nie kam eine Buchreihe mehrfach zu dieser Ehre. Wer weiss, vielleicht steigt auch noch «The Mirror an the Light» im Juli ins Rennen um den Booker Prize 2020.
«Triumphaler Schlussstein» und «Meisterstück»
Verdient hätte es das über tausendseitige Werk allemal: «Spiegel und Licht» ist ein furioses Finale. Nach der englischsprachigen Veröffentlichung vor zwei Wochen spricht die «New York Times» von einem «triumphalen Schlussstein von Mantels Trilogie», die «Washington Post» von einem «meisterhaften Abschluss» und der britische «Guardian» schlicht von einem «Meisterstück».
Das «Wall Street Journal» nennt die ganze Trilogie «eine brillante Beschäftigung mit Ausübung und Metaphysik von Macht im Europa des 16. Jahrhunderts». Das 16. Jahrhundert, die Epoche von Humanismus und Renaissance, aber auch die Epoche von Inquisition und Reformation: Was fasziniert Kritik und Leserschaft gleichermassen an einem Stoff aus jener Zeit, zumal inhaltlich alles bekannt ist?
In «Spiegel und Licht» beleuchtet Hilary Mantel die letzten vier Jahre im Leben Thomas Cromwells: Nach der Hinrichtung von Anne Boleyn im Mai 1536 fädelt er die Hochzeit von Jane Seymour (1509–1537) mit König Henry ein, wird Baron Cromwell of Wimbledon, Führer der protestantischen Partei, Generalvikar und Stellvertreter des Königs, schliesslich Earl of Essex und Lord Great Chamberlain.
«Geschichte ist die Luft, die wir einatmen»
Ein steiler Aufstieg, auf den der tiefe Fall folgt: Nach dem Kindsbetttod von Seymour drängt Cromwell 1540 zur Hochzeit zwischen Henry und Anna von Kleve (1515–1557). Das Missfallen des Königs gegen diese Beziehung und Intrigen der katholischen Partei bringen Ränkeschmied Cromwell selber unters Beil. Er wird des Hochverrats und der Ketzerei angeklagt; der Henker köpft ihn am 28. Juli 1540 auf dem Londoner Tower Hill.
Der zeitgenössische Chronist Edward Hall (1498–1547) schreibt über den Tag: «Viele wehklagten, aber noch mehr frohlockten, besonders diejenigen, welche Ordensleute waren oder Ordensleuten zugeneigt waren.» Denn Cromwell hatte sich bei der Auflösung der englischen Klöster den Beinamen «Hammer der Mönche» und «Sendbote des Teufels» verschafft.
So weit die toten Geschichtsfakten, aus denen Hilary Mantel lebendige Gegenwartsfiktion macht – Historie wird bei ihr zu einem unmittelbaren Erlebnis. «Geschichte ist die Luft, die wir einatmen, und das Wasser, worin wir schwimmen», sagte Mantel nach Erscheinen von «Falken» gegenüber dem Verfasser dieses Artikels. Sie ist auch fürs neue Buch ins 16. Jahrhundert eingetaucht, hat alle möglichen Quellen studiert und weiss, was die Menschen damals assen und wie sie sich kleideten.
«Spiegel und Licht» wirkt heutig, direkt und lebendig
Diese enorme Kenntnis in Sprachkunst zu verwandeln, beherrscht die studierte Rechtswissenschaftlerin Hilary Mantel wie keine andere. Stilistisch wendet sie ein paar Kniffe an: Anders, als sonst in Romanen üblich, benutzt sie die Gegenwarts- statt der Vergangenheitsform; in den Beschreibungen verzichtet sie weitgehend auf Eigenschaftswörter; und sie gibt überwiegend Gespräche wieder.
Dadurch wirkt «Spiegel und Licht» heutig, direkt, lebendig. Eine Kostprobe gefällig? Wir sind am Hof, am Tag, nachdem sich Henry mit Jane Seymour vermählt hat: «Der König trägt grünen Samt: Es ist eine saftige Wiese, mit Diamanten gesprenkelt. (…) Er blinzelt im Sonnenlicht. Es ist der letzte Tag im Mai. Die Hochzeitsnacht: Wie fragt man danach?»
Und nun lauschen wir dem Gespräch zwischen Henry und Cromwell: «Der König flüstert: ‹Solch eine Frische, solch eine Zartheit. Solch jungfernhafte pudeur.›
‹Ich freue mich für Ihre Majestät.› Er denkt, ja, ja: Aber hast du es vollbracht?
‹Ich bin aus der Hölle in den Himmel gelangt, und das alles in einer Nacht.›
Das ist die Antwort, die er wollte.»
«Das Schlafgemach ist der Turnierplatz»
Seymour gebiert dem König endlich den ersehnten männlichen Thronnachfolger – Edward –, stirbt aber, wie wir wissen, bei der Geburt. «Was ist ein Frauenleben?», schreibt Mantel dazu. «Denke nicht, weil sie kein Mann ist, kämpft sie nicht. Das Schlafgemach ist der Turnierplatz, auf dem sie ihre Farben zeigt, und ihr Kriegsschauplatz der Raum, in dem sie ihre Kinder gebiert.»
Aus solchen Worten wird klar: Hilary Mantel ist trotz zeitintensiver Beschäftigung mit Ereignissen, die bald ein halbes Jahrtausend zurückliegen, eine moderne, emanzipierte Frau. Unmodern und teuer in der Haltung empfindet sie demgegenüber die heutige Königsfamilie, die sie in einer Rede mit Pandas verglich. Nein, Mantel ist auch nicht zur Royalistin geworden.
Geköpfte Königinnen (Henry liess zwei seiner sechs Frauen köpfen) und Englische Epidemie (der sogenannte Englische Schweiss, ein tödliches Fieber, erreichte 1528 auch die Schweiz) – das 16. Jahrhundert war keine gute alte Zeit. Doch damals hatte selbst der Henker Stil. Mantel zitiert ihn bei der Hinrichtung Cromwells mit folgenden Worten: «Mylord, Sie müssen sich hinknien. Wenn Sie bereit sind, legen Sie den Kopf auf diesen Block.» Und zum Schluss kullert der Kopf der Hauptfigur auf den Boden.
Hilary Mantel, «Spiegel und Licht», Dumont-Verlag; jetzt im Online-Handel.