Nach dem 12:0 kommt die Wende. «Jetzt ein contre Fanny royale», sagt der Tireur (Schiesser) aufmunternd und schwingt die Metallkugel in seiner rechten Hand zum Abwurf. «Allez, Alvaro!», feuert ihn sein Mitspieler an – und mit einem «Klack!» haut die Boule eine des Frauenteams aus dem Kiesplatz, weg vom Cochonnet (Schweinchen), der kleinen Zielkugel. «Très bien!», ruft der Mitspieler und schlägt seine zwei Metallkugeln in den Händen zum Applaus gegeneinander. Plötzlich steht es nur noch 12:4 – die Fanny (eine 13:0-Niederlage) ist abgewendet.
Sie verstehen nur Französisch? Tant pis, schliesslich zeigen hier zwei Frauen und zwei Männer ihr grosses Talent in Pétanque, dem südfranzösischen Sport schlechthin. Kein Kiesplatz unter Platanen in der Provence, kein sandiger Mittelstreifen auf einem Boulevard, auf dem nicht Menschen ruhige Kugeln schieben. Das ist Savoir-vivre!
Dieses Flair holen sich jetzt viele nach Hause, denn Pétanque bringt im reisebeschränkten Sommer 2020 Feriengefühle überallhin. Bereits während des Lockdowns herrschte auf Schweizer Plätzen, Parks und Strassen reger Spielbetrieb. Aus der Sicht von Ruedi Wyss (71), sportlicher Leiter beim über 50-jährigen Pétanque Club Zürich (PCZ), hat der Kugelwurf in den letzten Wochen «sehr zugenommen». «Jeder und jede packte die persönlichen Boules und ging nach draussen», sagt er. «Es gab eine enorme Ausbreitung.»
Kein Wunder, denn Pétanque ist der ideale Aussensport in diesem Corona-Jahr: Alle Beteiligten haben ihre drei eigenen Kugeln, müssen also kein anderes Spielgerät anfassen und deswegen die Hände desinfizieren. Dann kann man trotz der Suche nach Nähe (der Kugel) Abstand halten (persönlich); und schliesslich lässt sich während einer Partie die Gelassenheit der Lockdown-Zeit gut weiterleben.
Bei Pétanque besteht Chancengleichheit
Wyss ist seit den 1970er-Jahren begeisterter Bouliste (Pétanque-Spieler) und trainiert gegenwärtig noch drei bis vier Mal wöchentlich auf den Kieswegen rund ums Klubhaus bei der Josefwiese im Zürcher Industriequartier. Der ehemalige Dozent an der Hochschule der Künste Zürich (HdKZ) gehört zu den Spitzenspielern. Häufig wirft er im PCZ die Kugeln zusammen mit der Schweizer Nationalteam-Spielerin Yvonne Bless (43). Doch heute ist sie im Doublette (zwei gegen zwei) mit Vanessa Marangoni (39) die Gegnerin von ihm und Alvaro Marangoni (31) – und die beiden Männer liegen 12:4 im Rückstand.
Ob Mann oder Frau, jung oder alt: Bei Pétanque besteht Chancengleichheit. Im Gegensatz zu anderen Sportarten können alle das gleiche Mass an nötiger Kraft, Taktik und mentaler Stärke mitbringen und sich fair miteinander messen. Damit die Stahlkugeln jedem und jeder gleich gut in der Hand liegen, gibt es eine Bandbreite von 70,5 bis 80 Millimeter Durchmesser und 650 bis 800 Gramm Gewicht pro Boule. Wegen ihrer kleineren Hände werfen Frauen meist weniger umfangreiches Metall durch die Luft.
Rentner andererseits gehören nicht einfach zum alten Eisen, im Gegenteil: «Mit über 60 ist man noch voll dabei», sagt Wyss und verweist auf einige der weltbesten Pétanque-Spieler aus Frankreich, die im Pensionsalter sind. «Die mentale Stärke ist bei Älteren oftmals sogar grösser», sagt der pensionierte Hochschullehrer aus eigener Erfahrung. Aus all dem ergibt sich bei den rund 160 Mitgliedern des PCZ eine bunte Mischung: «Ein Viertel im Klub sind Frauen», sagt Wyss, «und ein Drittel von allen haben eine Lizenz, sodass sie an Meisterschaften teilnehmen können.»
Schweizweit gibt es gemäss der Fédération Suisse de Pétanque (FSP) gegen 2500 lizenzierte Spielerinnen und Spieler – mehrheitlich in der Romandie –, auf der ganzen Welt weit über eine halbe Million in 94 zumeist frankofonen Ländern oder früheren französischen Kolonien auf fünf Kontinenten. «In Asien ist Pétanque gerade hochpopulär», sagt Wyss. Die Spieler von dort seien international stark im Kommen. «Auf dem afrikanischen Kontinent hat vor allem Madagaskar hervorragende Spieler.»
Pétanque gibt es wegen eines Rheumatikers
Mit einer eleganten Portée (hoher Wurf) aus der Hocke setzt Vanessa Marangoni ihre Kugel präzis neben den Cochonnet. Sie bekam das Spiel sozusagen mit der Muttermilch eingeflösst: Ihre Eltern hatten den Pétanque Club Katzensee gegründet, und nach ein paar Jahren Unterbruch kam sie kürzlich wieder auf den Geschmack. «Es ist wie eine Sucht», sagt die Shop-Leiterin des Zürcher Museums für Gestaltung über das Boule-Spiel. Und wenn es ihrem Bruder und jetzigen Gegner Alvaro nicht so rundläuft – er hat eben «ein Loch gemacht» (danebengetroffen) –, als Gastronom landete er zumindest mit seiner französisch angehauchten Bar Le Raymond beim Paradeplatz einen Volltreffer. Die passt zu Pétanque.
Gehört denn zu jeder Partie ein Pastis, das milchfarbene, alkoholische Anisgetränk aus Marseille (F)? Ruedi Wyss winkt ab: «Das ewige Vorurteil der Spieler mit roter Nase und einem Pastis in der Hand», sagt er, «das ist eine Legende wie die der ständig Whisky trinkenden Curlingspieler.» Pétanque sei ein Präzisionsspiel, und Alkohol helfe da nicht unbedingt, sagt er mit einem Augenzwinkern. Bei Meisterschaftsspielen in den Hallen während des Winterhalbjahrs sei es sogar verboten, Alkohol zu trinken. «An den sommerlichen Turnieren unter freiem Himmel ist es aber schon üblich, dass die Sieger den Verlierern ein Getränk offerieren», so Wyss. Dann und wann auch einen Pastis.
Jules «Lenoir» Hugues aus La Ciotat bei Marseille (F) musste wohl häufiger einen Pastis ausgeben, denn er gehörte zu den ersten Könnern des Spiels. Ihm zu Ehren hatte ein Freund 1907 Pétanque erfunden: Lenoir ist zu der Zeit ein begnadeter, aber betagter Jeu-Provençal-Spieler – La Longue (das Lange) heisst dieses Spiel auch, weil man im Gegensatz zu Pétanque beim Abwurf drei Anlaufschritte nimmt und die Kugel weit ins Feld schiesst. Doch Lenoir fällt das schwer, weil er an Rheuma leidet. Also denkt sich Ernest Pitiot ein Spiel mit weniger Entfernung und ohne Anlauf aus – Pétanque ist geboren. Der Name wurzelt im Marseiller Dialektausdruck «pieds tanqués», was so viel wie unbewegte, geschlossene Füsse heisst.
Pitiot gründet nach dem Zweiten Weltkrieg die Fédération Francaise de Pétanque et Jeu Provençal. Unter Mitwirkung der Schweiz entsteht 1958 der internationale Verband, 1959 finden im belgischen Spa die ersten Weltmeisterschaften statt, und bei der fünften Austragung 1965 in Madrid gewinnt die Schweiz erstmals den WM-Titel in der Königsdisziplin Triplette (drei gegen drei Spieler). Spätestens jetzt berührt die Boule auch hierzulande die Herzen der Menschen – 1968 gründen Westschweizer den Pétanque Club Zürich.
Profis zahlen 100 Franken pro Kugel
Heute ist Pétanque hierzulande das populärste Boule-Spiel. Während das im englischsprachigen Raum verbreitete Bowls bei uns nie richtig landen konnte, haute Pétanque das in den 1950er-Jahren verbreitete italienische Boccia mittlerweile aus dem Feld. Der grosse Vorteil des provenzalischen Sports: Er bedarf keiner genau abgemessenen Bahn mit Banden wie das Boccia. Pétanque kann man grundsätzlich auf jedem Spielfeld – Rasen, Sand, Kies, Teer – von der Mindestgrösse von drei auf zwölf Metern austragen.
Und dann gibt es noch einen wesentlichen Unterschied beim Spielmaterial: Bowls- beziehungsweise Boccia-Kugeln sind aus Kunststoff oder Holz, Pétanque-Boules immer aus Metall. Nationalspielerin Yvonne Bless hält ihre drei Inox-Bälle in Händen: «Obut ATX» ist darauf eingraviert, ihr Nachname und die Seriennummer. «Die sind der Rolls-Royce unter den Kugeln», sagt die Theatermalerin des Zürcher Opernhauses. Und sie sind nicht ganz billig: Rund hundert Franken kostet ein Stück. Profis müssen sie wegen der Abnutzung etwa alle zwei Jahre ersetzen. Herstellerin ist die französische Firma Obut, die den Markt seit 1955 beherrscht, auch wenn sie seit kurzem mit der italienischen Marke Boule en Ciel eine hippe Konkurrenz hat.
Bless steht im Cercle (Abwurfkreis) und nimmt Mass. Im Gegensatz zum Fussball, wo sich ein Resultat manchmal quälend lang hinziehen kann, ändert sich bei Pétanque die Ausgangslage praktisch mit jedem Wurf. Trifft eine Boule zum Beispiel auf den Cochonnet und spickt diesen weg, scharen sich plötzlich andere, bereits geworfene Kugeln um ihn und machen den Sieg unter sich aus. Für Bless heisst es jetzt, nicht zu viel zu riskieren, denn die Ausgangslage ist gut. Ein schöner Tir devant (Schuss davor) – 13:4 für die Frauen! Das Spiel ist aus – und für die Männer gibt es jetzt immerhin ein Gratisbier.
Anisgetränk
Auch wenn es ein Klischee ist: Ein bisschen Pastis mit vier Teilen eiskaltem Wasser aufgefüllt ist die Milch für jeden Bouliste.
Boule
Drei Metallkugeln (beim Spiel drei gegen drei nur zwei) sind alles, was jeder und jede Einzelne mitbringen muss. Los gehts!
Cercle
Ein mit dem Fuss in den Sand gezeichneter Abwurfkreis oder ein Reifen am Boden bildet die Markierung, von der aus alle die Kugel wegschiessen müssen.
Donnée
Das ist die Stelle, an der die geworfene Kugel aufsetzen soll – was sie natürlich nicht immer tut.
Eclaircir le jeu
Das ist schon fast wie Kegeln, wenn man mit einem Wurf mehrere gegnerische Kugeln wegschiesst und dadurch das Spiel übersichtlicher macht.
Fanny
So hiess vor dem Ersten Weltkrieg eine Kellnerin in Le Grand-Lemps (F), die Spieler nach einer 13-zu-0-Niederlage zum Trost auf ihre Wange küssen liess.
Gros-bras
Übersetzt heisst das etwa «ein dicker Arm» und meint einen ausgezeichneten Spieler, der nur sehr schwer zu schlagen ist.
Jeu Provençal
Pétanque ging 1907 aus diesem Spiel hervor, bei dem der Tireur drei Laufschritte machen muss, bevor er die Kugel wegschiesst.
Mixte
Pétanque ist eine der wenigen Sportarten, bei denen Männer und Frauen auch in gemischten Teams spielen und gegeneinander antreten.
Obut
Seit 1955 produziert dieser Familienbetrieb in einer kleinen Gemeinde südwestlich von Lyon (F) die besten Stahlkugeln für jeden Bouliste.
Pointeur
Er soll im Team die Punkte machen und mit seinem Wurf die Boule möglichst nahe zur hölzernen Zielkugel setzen.
Raclette
Kein Käse, das ist im Boule-Sport der Ausdruck für einen Flachschuss; den Schützen bezeichnen die anderen abschätzig als Racleur.
Spielfeld
Ob eben oder holprig, sandig oder steinig: Pétanque kann man auf jeder Unterlage spielen; das Feld sollte allerdings 12 mal 4 Meter gross sein.
Tireur
Dieser Spieler im Team muss mit seinen Kugeln primär die gegnerischen wegschiessen, er sollte also den «tir au fer» (Eisenschuss) beherrschen.
Vriller
Das ist schon fast wie im Fussball: Der Spieler verleiht der Kugel einen Effet, sodass sie eine Links- oder Rechtskurve macht.
Zielkugel
Sie heisst But, Bouchon, Cornichon, Cochonnet, Schweinchen oder Sau, ist aber immer aus Holz und hat einen Durchmesser von circa drei Zentimetern.
Anisgetränk
Auch wenn es ein Klischee ist: Ein bisschen Pastis mit vier Teilen eiskaltem Wasser aufgefüllt ist die Milch für jeden Bouliste.
Boule
Drei Metallkugeln (beim Spiel drei gegen drei nur zwei) sind alles, was jeder und jede Einzelne mitbringen muss. Los gehts!
Cercle
Ein mit dem Fuss in den Sand gezeichneter Abwurfkreis oder ein Reifen am Boden bildet die Markierung, von der aus alle die Kugel wegschiessen müssen.
Donnée
Das ist die Stelle, an der die geworfene Kugel aufsetzen soll – was sie natürlich nicht immer tut.
Eclaircir le jeu
Das ist schon fast wie Kegeln, wenn man mit einem Wurf mehrere gegnerische Kugeln wegschiesst und dadurch das Spiel übersichtlicher macht.
Fanny
So hiess vor dem Ersten Weltkrieg eine Kellnerin in Le Grand-Lemps (F), die Spieler nach einer 13-zu-0-Niederlage zum Trost auf ihre Wange küssen liess.
Gros-bras
Übersetzt heisst das etwa «ein dicker Arm» und meint einen ausgezeichneten Spieler, der nur sehr schwer zu schlagen ist.
Jeu Provençal
Pétanque ging 1907 aus diesem Spiel hervor, bei dem der Tireur drei Laufschritte machen muss, bevor er die Kugel wegschiesst.
Mixte
Pétanque ist eine der wenigen Sportarten, bei denen Männer und Frauen auch in gemischten Teams spielen und gegeneinander antreten.
Obut
Seit 1955 produziert dieser Familienbetrieb in einer kleinen Gemeinde südwestlich von Lyon (F) die besten Stahlkugeln für jeden Bouliste.
Pointeur
Er soll im Team die Punkte machen und mit seinem Wurf die Boule möglichst nahe zur hölzernen Zielkugel setzen.
Raclette
Kein Käse, das ist im Boule-Sport der Ausdruck für einen Flachschuss; den Schützen bezeichnen die anderen abschätzig als Racleur.
Spielfeld
Ob eben oder holprig, sandig oder steinig: Pétanque kann man auf jeder Unterlage spielen; das Feld sollte allerdings 12 mal 4 Meter gross sein.
Tireur
Dieser Spieler im Team muss mit seinen Kugeln primär die gegnerischen wegschiessen, er sollte also den «tir au fer» (Eisenschuss) beherrschen.
Vriller
Das ist schon fast wie im Fussball: Der Spieler verleiht der Kugel einen Effet, sodass sie eine Links- oder Rechtskurve macht.
Zielkugel
Sie heisst But, Bouchon, Cornichon, Cochonnet, Schweinchen oder Sau, ist aber immer aus Holz und hat einen Durchmesser von circa drei Zentimetern.