Herr Nesbø, die Mordwaffe in Ihrem neuen Krimi «Durst» ist ein Gebiss aus schwarzen Eisenzähnen. Wie kommen Sie auf so etwas?
Jo Nesbø: Ich liess mich von Bärenfallen inspirieren und vom asiatischen Brauch, sich die Zähne schwarz zu färben. Meine Fantasie ist sehr lebhaft.
Und offenbar sehr düster.
Ich habe mir schon als Kind die grausamsten Dinge ausgemalt.
Zum Beispiel?
Es gab einen Apfelbaum im Garten meiner Grossmutter, von dem man nichts pflücken durfte. Clever wie wir waren, assen wir das Obst, während es am Ast hing. Mein Bruder stachelte mich dazu an, mir einen ganzen Apfel in den Mund zu drücken. Es gab einen kurzen Moment, in dem ich ihn nicht mehr rauskriegte. Ich stellte mir vor, wie er in meinem Mund weiter wachsen würde und fragte mich: Wird mein Kopf explodieren?
In «Durst» muss Kommissar Harry Hole gegen einen sogenannten Vampiristen antreten, der in Oslo sein Unwesen treibt. Im Gegensatz zu Vampiren soll es Vampiristen wirklich geben.
Ich bin bei meiner Recherche tief hinabgestiegen in den dunklen Keller der psychischen Störungen und auf den Begriff «klinischer Vampirismus» gestossen, auch Renfield-Syndrom genannt. Wer daran leidet, fühlt sich zu Blut hingezogen.
Und möchte es konsumieren.
Es sind tatsächlich Fälle belegt, in denen Serienmörder das Blut ihrer Opfer tranken. Die Diagnose Vampirismus ist sehr umstritten. Mich fasziniert als Autor die Verbindung von Fiktion und Wissenschaft, die der Begriff beinhaltet.
Haben Sie selbst schon Blut getrunken? Zu Recherchezwecken zum Beispiel?
Nun, ich bin leidenschaftlicher Kletterer. Da saugt man die ganze Zeit Schnittwunden an den Händen aus. Aber eine sinnliche Beziehung zu Blut habe ich nicht, falls Sie darauf hinauswollen. Im Gegenteil: In den 1960er- und 1970er-Jahren war Blutwurst ein Teil des norwegischen Speiseplans. Ich hasste es.
Sie kommen aus einer Familie mit krasser Geschichte. Die Vorfahren Ihrer Mutter waren während des Zweiten Weltkriegs im Widerstand tätig gegen die Nazis, die Norwegen besetzten. Ihr Vater kämpfte als junger Mann für Hitler in Russland gegen Stalin und den Kommunismus. Wie stark hat Sie das geprägt?
Man hat uns die Tätigkeit im Widerstand etwas zu gut verkauft, als wir Kinder waren. Es war ja nicht so, dass in Norwegen täglich ein Sabotageakt verübt worden wäre. Dass mein Vater für Hitler gekämpft hatte, war ein Schock. Er hat es mir gesagt, als ich 15 war. Für mich war der deutsche Soldat der Inbegriff des Bösen. Dass mein Vater einst diesen Helm getragen hatte, war für mich unfassbar.
Trotz allem haben sich Ihre Eltern ineinander verliebt.
Der Krieg war hier kein grosses Thema mehr, als er vorbei war. Ich nehme an, die Leute wollten ihn so schnell wie möglich vergessen.
Zurück zum Buch: Der Vampirist lernt seine Opfer auf der Dating-Plattform Tinder kennen. Sie scheinen sich da auszukennen.
Ich hatte keine Ahnung von Online-Dating. Im Café, in dem ich meine Bücher schreibe, treffen sich oft Menschen, die sich kurz davor im Internet kennengelernt haben. Ich dachte immer, es handle sich bei den Treffen um Vorstellungsgespräche. Bis ich anfing, die Gespräche zu belauschen.
Haben Sie sich auch ein Tinder-Profil eingerichtet?
Ich hatte es vor, doch dann habe ich einen Rückzieher gemacht, mich aber rege mit einer Kollegin ausgetauscht, die ich vom Klettern kenne. Sie war frischgebackener Single und ging für mich auf Dates.
Sind Sie in einer Beziehung?
Meine Standardantwort auf diese Frage: Mein Beziehungsstatus ist Vater.
Ihre Tochter ist Teenager. Was würden Sie ihr raten, bevor Sie auf ein Tinder-Date geht?
Ich weiss nicht, ob es eine Warnung bräuchte. So ein Date kann ja was Nettes sein. Meine Kollegin ist jetzt glücklich mit jemandem liiert, den sie auf diese Weise kennenlernte.
Dating ist in Ihren Augen also nicht gefährlicher geworden, seitdem es das Internet gibt? Immerhin trifft man dort oft auf komplett fremde Personen.
Die Leute wissen schon, wie sie sich schützen können. Dass jemand immer wieder rausgeht und riskiert, zurückgewiesen zu werden, finde ich trotzdem mutig. Es gibt so viel Potenzial für emotionales Drama, wenn Menschen mit verschiedenen Interessen aufeinandertreffen. Eine Theaterstück in echt.
Wer Ihre Bücher liest, fühlt sich auf den nächtlichen Strassen der norwegischen Hauptstadt nicht besonders wohl.
Ich kann meine Leser beruhigen, Oslo ist eine ziemlich sichere Stadt. Trotz der lebhaften Heroin-Szene.
Laut Ihren Beschreibungen gibt es einen luxuriösen Teil, in dem korrupte Geschäftsmänner und intrigante Politiker ihre Spielchen treiben. Daneben eine Subkultur, die sich in schummrigen Bars abspielt, wo sich jede Menge Kleinkriminelle, Säufer und andere verlorenen Seelen tummeln. Wie realistisch ist das?
Alles, was ich schreibe, ist realistisch. Ausser das mit den Serienkillern. In meinen Büchern ist die Mordrate von Oslo wahrscheinlich höher als die aktuelle Mordrate von ganz Norwegen.
Die Skandinavier schreiben die düstersten und erfolgreichsten Krimis. Warum, darüber wird oft diskutiert. Die naheliegendste Erklärung sind die langen Nächte und das garstige Wetter, dem die Menschen hier ausgesetzt sind.
Ja, ja. Die Skandinavier sind reserviert und schüchtern aufgrund des Wetters. Und natürlich schreiben sie wegen dem Wetter auch die besten Krimis. Diese Erklärung ist etwas gar einfach.
Welche Erklärung haben Sie?
Keine. Ich glaube auch nicht, dass die nordische Literatur ein grösseres Faible für düstere Themen hat als die britische oder die amerikanische. Mir wird da etwas zu viel hineininterpretiert. In einer Buchkritik aus Deutschland las ich zum Beispiel über das skandinavische Licht, das man sich durch meine Bücher bildlich vorstellen könne. Ich habe ehrlich gesagt noch nie von diesem Licht gehört.
Aber das Genre Nordic Noir ist in der Literatur tief verankert. Laut Definition thematisiert es die inneren Widersprüche der harmonisch wirkenden skandinavischen Wohlfahrtsgesellschaft.
Die Definition mag für den traditionellen skandinavischen Kriminalroman zutreffen, den Maj Sjöwall und Per Wahlöö Mitte der 1960er-Jahre ins Leben riefen. Das Autorenpaar machte Krimis zum Instrument für Gesellschaftskritik und brachte diese so von den Bücherständen der Kiosks in die Auslagen der Buchläden. Doch das ist lange her.
Worum gehts bei den Widersprüchen der skandinavischen Wohlfahrtsgesellschaft?
Zum Beispiel darum, dass Norwegen als eines der reichsten Länder der Welt in den 1990er-Jahren auch eines der Länder mit den meisten Drogentoten war. Auf der anderen Seite gibts Studien, die belegen, dass die Norweger das optimistischste Volk überhaupt sind.
Sind Sie Optimist?
Nein, ich bin Pessimist.
Und trotzdem schreiben Sie erfolgreich Kinderbücher.
Ich mache das, damit ich abends mit dem Gefühl zu Bett gehen kann, etwas Positives zur Gemeinschaft beigetragen zu haben. Wenn ich Krimis schreibe, habe ich das nicht immer.
Man kommt nicht ums Gefühl herum, dass Kommissar Hole vor einem sitzt, wenn man mit Ihnen spricht. Ein Kompliment?
Nein.
Nun ja, er ist Alkoholiker. Aber doch auch ein extrem cooler Typ mit gutem Musikgeschmack.
Man sagt, jeder Autor schreibe im Grunde genommen über sich selbst. Es ist am einfachsten, man tut es aus reiner Faulheit. Für mich wärs unmöglich, eine Hauptfigur zu entwickeln, die meine Werte nicht teilt, meine politischen Ansichten, meinen popkulturellen Geschmack. Vieles, was Harry ausmacht, findet sich in abgeschwächter Form in mir wieder. Im Gegensatz zu ihm habe ich ein sehr entspanntes Verhältnis zu Alkohol.
Das müssen Sie wohl auch. Denn alles, was Sie tun, tun Sie auf hohem Niveau: schreiben, klettern, musizieren. Ihre Band Di Derre gehört zu den erfolgreichsten Norwegens.
Mein Bruder, ein paar Kumpel und ich begannen in Molde, wo ich aufwuchs, zum Spass in einer Bar aufzutreten. Di Derre heisst übersetzt so viel wie «diese Typen». Der Erfolg begann mit einem Song, den ich schrieb. Er handelt von einem Ski-Springer, bei dem während eines Sprungs in der Nacht plötzlich die Beleuchtung abschaltet. Eine wahre Geschichte, passiert in meiner Heimatstadt.
Nicht gerade ein fröhliches Lied, nehme ich an.
Es ist ein Lied über die Einsamkeit.
Hauptberuflich arbeiteten Sie früher als Finanzanalyst. Wie brachten Sie das alles unter einen Hut?
Tagsüber arbeitete ich am Osloer Hafen in einem der Finanzgebäude, abends flog ich zu einem Auftritt, morgens wieder zurück zur Arbeit. Nach einem Jahr mit 180 Konzerten hatte ich genug. Die Band gibts zwar noch, aber neue Musik haben wir schon sehr lange nicht mehr veröffentlicht.
Warum haben Sie nicht einfach bei der Bank gekündigt und das Rockstar-Leben genossen?
Weil ich nicht wollte, dass Musik ein Job für mich wird. Den Sachen, die ich am liebsten mache, möchte ich lieber in meiner Freizeit frönen. Ich habe einmal einen Gitarristen beobachtet, der sein Instrument schon zusammenpackte, bevor das Konzert seiner Band ganz vorbei war. So wollte ich nicht werden.
Wie siehts mit dem Schreiben aus? Arbeit oder Hobby?
Leidenschaft. Mit dem Glück, dass ich davon leben kann, ohne dass es mein Leben voll vereinnahmt. Ich habe viel Zeit für anderes, zum Beispiel das Klettern. Ehrlich gesagt schreibe ich, wenn ich sonst gerade nichts anderes vorhabe. Ich spiele auch noch in einer anderen Band. Morgen haben wir einen Auftritt.
Gibt es überhaupt etwas, in dem Sie nicht gut sind?
Ich kann überhaupt nicht Auto fahren. Obwohl ich mal für eine Taxifirma arbeitete. Mein Chef sagte mir damals, ich sei der schlechteste Fahrer, den er je erlebt hat. Er hatte recht.
Ab jetzt im Handel: «Durst» (Ullstein Verlag), Jo Nesbø elfter Krimi aus der Harry-Hole-Reihe.