Auf einen Blick
- Kerzenziehen: Schweizer Adventsbrauch seit 1969, heute weit verbreitet
- Schon im antiken Rom wurden Kerzen gezogen
- In Zürich werden jährlich bis zu 7 Tonnen Wachs verarbeitet
Als der Zürcher Sozialarbeiter und Heilpädagoge Michael Brons (1936–2019) im Dezember 1969 das erste öffentliche Schweizer Kerzenziehen auf dem Bürkliplatz ins Leben rief, wusste er vermutlich nicht, dass er eine Bewegung lostreten würde. Dahinter steckte ein sozialer Gedanke: Die meditative Tätigkeit war als Integrationshilfe für die von Brons betreuten Jugendlichen gedacht. Sie sollten anderen das Kerzenziehen beibringen und so Menschen aller Altersklassen und Schichten miteinander in Kontakt kommen.
Heute, mehr als 50 Jahre später, ist das Kerzenziehen aus der Adventszeit nicht mehr wegzudenken. Es hat sich in der Schweiz zu einem festen vorweihnachtlichen Brauch entwickelt – in fast jeder Gemeinde, in Gemeinschaftszentren, an Advents- und Weihnachtsmärkten und in Schulhäusern werden die Dochte fleissig in heisses Wachs getunkt. Der richtige Eintauch-Abkühl-Rhythmus will gefunden, die Kerzen gezwirbelt und verziert werden.
Schon die Römer zogen Kerzen
Dabei ist Kerzenziehen keine Erfindung des 20. Jahrhunderts: Schon im antiken Rom wurden so Kerzen hergestellt. Diese bestanden aus Bienenwachs oder Tierfett, Pflanzenfasern und Stoffreste dienten als Docht. Im Mittelalter waren Kerzen aus Bienenwachs ein Luxus, den sich nur Adel und Klerus leisten konnten. Die meisten Menschen nutzten stattdessen Tierfett-Kerzen, die stark russten und unangenehm rochen. In dieser Zeit etablierte sich auch der Handwerksberuf des Kerzenziehers: Ab dem 13. Jahrhundert zog er von Haus zu Haus und bot seine Dienste an.
Im Grossbritannien des 18. Jahrhunderts wurde das Kerzenziehen zu einer teuren Angelegenheit. Dort wurde 1709 die «candle tax» eingeführt: Kerzen wurden besteuert. Den Leuten war es untersagt, selbst Kerzen herzustellen. Im 19. Jahrhundert entdeckten Chemiker schliesslich die Rohstoffe Paraffin und Stearin. Diese brannten sauber, gleichmässig und geruchlos und waren günstiger herzustellen. Weil Kerzen zunehmend industriell hergestellt wurden, wurden sie auch für die breite Bevölkerung erschwinglich. Dadurch verschwand der Beruf des Kerzenziehers fast vollständig. Mit der Erfindung der Glühbirne 1879 verlor auch die Kerzenherstellung zunehmend an Bedeutung.
Bis zu 7 Tonnen Wachs
Glühbirne hin oder her: Die Kerzenzieh-Saison ist hierzulande gerade in vollem Gange – auch in Zürich. Udo Pfeil vom Verein Zürcher Eingliederung, der das Kerzenziehen am Zürcher Bürkliplatz – dieses Jahr wegen Bauarbeiten am Hechtplatz – jeweils durchführt, sagt auf Anfrage: «Wir haben in diesem Jahr rund 60’000 Dochte geliefert bekommen, und ich fürchte, das wird nicht reichen.» In guten Jahren würden bis zu 20'000 Besucherinnen und Besucher kommen und zwischen 6 und 7 Tonnen Wachs verarbeitet. Zum Vergleich: Zu Anfangszeiten waren es noch etwa 400 Kilogramm Wachs gewesen.
Der Sozialarbeiter und Gründer des Zürcher Kerzenziehens Brons sagte 2008 zum «Tages-Anzeiger»: «Manchmal stehe ich still im Zelt und schaue den Besuchern zu. Da bahnen sich Gespräche zwischen Leuten aller Schichten und Altersstufen an, die sich im Alltag wohl kaum begegnen würden.»