Herr Abächerli, was macht einen guten Schwimmer aus?
Reto Abächerli: Er kennt sich selbst und die Risiken, denen er sich aussetzt. Ob man schön schwimmen kann, ist aus der Sicht der Ertrinkungs-Prävention total irrelevant. Die meisten Unfälle passieren 30 bis 40 Meter vom Uferrand entfernt. Für den sogenannten Wassersicherheitscheck, den Schweizer Schülerinnen und Schüler in der vierten Klasse absolvieren, müssen sie drei Dinge können: Vom Rand ins Tiefe Wasser rollen oder purzeln, sich eine Minute über Wasser halten und 50 Meter schwimmen.
Welchen Bezug haben Sie zu Wasser?
Es war in meinem Leben immer präsent. Ich bin in der Nähe des Baldeggersees aufgewachsen und wohne heute am Sempachersee. Meine Eltern haben gespart, damit sie mit mir und meinen zwei Geschwistern nach Italien in die Sommerferien ans Meer fahren konnten. Ich staune rückblickend, was wir am Strand alles machen durften.
Was denn?
Mit dem Gummiböötli aufs Wasser, zum Beispiel. Brandungsrückströme, sogenannte Rip Currents, können einen schnell einmal weit aufs Meer hinaus ziehen. Ich kann mich auch daran erinnern, dass ich als Jugendlicher immer einen Krampf im kleinen Zeh hatte, wenn ich in der Seebadi nach dem Fussballspielen komplett überhitzt ins Wasser sprang. Heute weiss ich, dass das eine Schockreaktion des Körpers war. In den 80er-Jahren war man relativ sorglos.
Heute nicht mehr?
Es hat zum Glück eine Sensibilisierung stattgefunden. Sie hat aber auch Schattenseiten. Manche Eltern haben heute das Gefühl, jede Art von Risiko lasse sich umgehen oder müsse auf null reduziert werden. Viel wichtiger ist aber, dass Kinder mit Hilfe von erfahrungsbasiertem Wissen lernen, mit Risiken umzugehen. Dafür muss man ihnen Freiräume lassen.
Was heisst das konkret?
Ich habe meine zwei Töchter und meinen Sohn, sie sind inzwischen sieben, neun und elf Jahre alt, ohne Schwimmflügeli im Wasser des Sempachersees spielen lassen, als sie jünger waren. Das heisst aber auch, dass ich an der Stelle stand, wo es tief wird, und die Kinder keine Sekunde aus den Augen liess.
Im Zehnjahresschnitt ertrinken 46 Menschen in der Schweiz. Wie viel sind das im Vergleich zu anderen Ländern?
Nicht viele. Die Schweiz hat eine der tiefsten Ertrinkungsraten. Schwimmunterricht ist gemäss Lehrplan 21 in der Primarschule obligatorisch. Das ist für Gemeinden, die kein Hallen- oder Freibad haben, nicht so einfach umsetzbar. Die SRLG setzt sich deshalb dafür ein, dass Kinder auch in Seen schwimmen lernen. Dort und in Flüssen passieren mehr als 90 Prozent der tödlichen Unfälle. Ein Pilotprojekt der Luzerner Gemeinde Hochdorf hat gezeigt, dass Schwimmunterricht im See funktioniert.
Ein Grossteil der Menschen, die in der Schweiz ertrinken, sind junge Männer. Am höchsten ist das Unfallausmass bei den 15- bis 19-Jährigen. Wie lassen sie sich mit Präventionskampagnen erreichen?
Für die Kampagne «Save Your Friends» haben wir zum Beispiel ein Spiel entwickelt, bei dem die User unter anderem auswählen müssen, welche Kopfbedeckung sie aus dem Schrank nehmen, bevor sie baden gehen. Das ist dann eben nicht der Bierhelm, sondern das Baseballcap.
Viele Schweizer haben das Gefühl, dass vor allem Touristen und Asylsuchende in Seen und Flüssen ertrinken. Was ist da dran?
Gemäss einem Report der SLRG und der Beratungsstelle für Unfallverhütung sind 14 Prozent der Verunfallten ausländische Gäste. Ob sie hier Ferien machen oder Asyl suchen – das lässt sich nicht sagen. Es ist klar, dass es Kulturen gibt, in denen Kinder – und vor allem Mädchen – nicht zwingend schwimmen lernen. Auch hier versuchen wir mit gezielten Aktionen, wie fremdsprachigen Flyern, auf die Gefahren des Wassers aufmerksam zu machen.
Wie verhält man sich richtig?
Zu den Baderegeln gehört zum Beispiel, dass man nicht in trübe Gewässer springt und selbst als trainierter Schwimmer lange Strecken niemals alleine schwimmt. Je kälter das Wasser, desto grösser die Gefahr von Muskelkrämpfen. Bei weniger als 20 Grad Wassertemperatur gilt die Faustregel: Pro Grad eine Minute Aufenthalt.
Früher hiess es, nach dem Essen müsse man zwei Stunden warten, bevor man wieder ins Wasser geht.
Diese Regel gilt schon lange nicht mehr. Wichtig ist, dass man sich gut fühlt und nicht mit vollem oder leerem Magen schwimmt.
Bei welcher Tätigkeit ertrinken die meisten Menschen in der Schweiz?
Vor allem beim Baden und Schwimmen oder beim Bootfahren. Auch in Situationen, in denen der Aufenthalt im Wasser nicht geplant war, ereignen sich tödliche Unfälle. Wenn zum Beispiel Kinder beim Spielen ins Wasser fallen oder Autos bei Verkehrsunfällen in Flüsse oder Seen geraten. Der häufigste Unfallhergang ist aber plötzliches Untergehen.
Klingt beunruhigend.
Das stimmt. Oftmals weiss man nicht, wie es dazu kam – selbst, wenn eine Obduktion veranlasst wird. Grundlos geht jedoch niemand unter. Meist hat es medizinische Gründe, die sich in diesem Moment vielleicht zum ersten Mal äussern. Ein Problem mit dem Kreislauf, zum Beispiel.
Die SRLG bietet rund zehn verschiedene Rettungsschwimmerkurse für Privat- und Lehrpersonen an. Doch wie kann ich jemandem helfen, wenn ich keine Ausbildung habe?
Wenn Sie zum Beispiel am Ufer eines Sees stehen und jemanden ertrinken sehen, müssen Sie zuerst einmal Hilfe rufen. Manchmal hilft es schon, einer Person in Not eine PET-Flasche zuzuwerfen, damit sie ihre Atemwege über Wasser halten kann. Oder man reicht ihr ein Kleidungsstück, an dem sie sich festhalten kann, sofern die Person in Reichweite ist.
Ertrinkenden Personen klammern sich oft panisch an ihre Retter. Man sagt, eine Ohrfeige könne helfen, das zu vermeiden.
Wenn man eine Ohrfeige geben kann, ist man eigentlich schon zu nahe an der Person dran. Wir empfehlen, erst einmal auf die eigene Sicherheit zu schauen, denn Retter geraten schnell selbst in gefährliche Situationen. Gerade im März ist einer, der einen 93-jährigen Mann retten wollte, in der Aare zwischen Winznau und Olten selbst ertrunken. Solche Unfälle sind sehr tragisch.
Die SLRG verleiht einen Preis für Zivilcourage. Animiert das Menschen nicht eher, Risiken einzugehen?
Der Preis geht an Menschen, die überlegt handeln. Als Letztes wurde ein Ehepaar ausgezeichnet, das eine Bootsvermietung besitzt, und ein Freund des Paars. Sie hatten drei Böötler gerettet, die ins Wasser gefallen und in den Entlastungsstollen des Thunersees geraten waren. Die Retter hatten Wurfleinen respektive Wurfsäcke zur Hand.
Gemäss Uno verursacht Ertrinken 235'000 Todesfälle pro Jahr. Viele Länder berichten, dass es eine der Hauptursachen für Kindersterblichkeit ist, insbesondere bei unter Fünfjährigen.
Im asiatischen und südamerikanischen Raum ist das Ertrinken teilweise sogar die häufigste Todesursache bei Kindern. In armen Gegenden von Bangladesch gehen beide Eltern den Lebensunterhalt verdienen, die Kinder bleiben unbeaufsichtigt zu Hause. In solchen Ländern braucht es keine Verhaltensprävention, sondern Verhältnisprävention. Es braucht Programme, damit sich die Kids tagsüber in überwachten Strukturen bewegen. Tümpel und Teiche, die Kindern zum Verhängnis werden könnten, müssen umzäunt werden.
Wie sinnvoll sind eigentlich Schwimmflügel?
Um schwimmen zu lernen, sind sie ungeeignet, denn sie führen dazu, dass das Kind senkrecht im Wasser treibt. Und sie können Eltern ein falsches Gefühl von Sicherheit vermitteln, was gefährlich sein kann. Denn ein Kind kann einen Schwimmflügel schnell verlieren. Oder es kippt nach vorne und kann den Kopf nicht mehr aus eigener Kraft über Wasser halten. Trotzdem können Schwimmflügel vorübergehend hilfreich sein, wenn ein Kind Angst vor dem Wasser hat. Es ist wichtig, dass Eltern sie ihm aber so schnell wie möglich wieder abgewöhnen.
Was halten Sie vom sogenannten Babyschwimmen?
Ich bin sehr kritisch gegenüber Kursen für Babys, weil sie oftmals unter dem Deckmantel der Sicherheit verkauft werden. Das setzt Eltern unter Druck, die sich die Kurse nicht leisten können. Sie sind wertvoll, um das Kind früh ans Wasser zu gewöhnen. Es wäre aber ein riesiger Trugschluss, zu meinen, dass das Kind danach weniger unfallgefährdet ist im Wasser. Es genügt auch, wenn Eltern ihrem Kind im Vorschulalter selbst die Grundlagen vermitteln und es dann im Kindergarten oder in der Schule mit dem offiziellen Schwimmunterricht beginnt.
Reto Abächerli (43) ist seit neun Jahren Geschäftsführer der Schweizerischen Lebensrettungsgesellschaft SLRG mit Sitz in Sursee LU. Davor arbeitete er für andere Non-Profit-Organisationen. Der Absolvent eines Masterstudiengangs für Wirtschaftswissenschaften der Universität Zürich engagiert sich nebenberuflich für den freiwilligen Schulsport in der Region Sempachersee und wohnt mit seiner Frau und drei Kindern in Nottwil LU.
Reto Abächerli (43) ist seit neun Jahren Geschäftsführer der Schweizerischen Lebensrettungsgesellschaft SLRG mit Sitz in Sursee LU. Davor arbeitete er für andere Non-Profit-Organisationen. Der Absolvent eines Masterstudiengangs für Wirtschaftswissenschaften der Universität Zürich engagiert sich nebenberuflich für den freiwilligen Schulsport in der Region Sempachersee und wohnt mit seiner Frau und drei Kindern in Nottwil LU.