Frau Keller, Sie waren Kritikerin im «Literaturclub» von SRF und Jurymitglied des Ingeborg-Bachmann-Preises. Nun veröffentlichen Sie Ihren ersten Roman. Ein Seitenwechsel?
Hildegard E. Keller: Ja, wenn man so will. Aber er hat lange vor meiner Tätigkeit als Literaturkritikerin begonnen, mit Hörspielen und Theateraufführungen, die ich als Professorin in Zürich machte.
Weshalb warteten Sie mit dem Roman so lange zu?
Gut Ding will Weile haben. Ich war früher schlicht zu sehr eingespannt, führte ein Doppelt- und Dreifachleben zwischen Amerika und der Schweiz. Erst in Berlin konnte ich mich dank einem Atelierstipendium auf meine künstlerischen Projekte besinnen.
Hatten Sie zu grossen Respekt, um nicht zu sagen Angst vor Kritik?
Kritik ist nicht immer einfach wegzustecken, aber sie war es bestimmt nicht, die mich am Schreiben, Aufführen, Filmen, Verlegen gehindert hat.
Zogen Sie fürs Schreiben Lehren aus Ihrer Kritikerinnentätigkeit?
Der Blick des Kritikers ähnelt dem des Schiedsrichters, der entscheidet, ob der Ball im Aus ist, aber selber keine Doppelpässe spielen muss. Ich war schon Autorin, bevor ich Kritikerin wurde, und hatte immer auch diesen anderen Blick, des Spielers und auch des Trainers.
Der Roman «Was wir scheinen» handelt von der berühmten Denkerin Hannah Arendt (1906–1975). Wie kamen Sie darauf, ihre Beziehung zur Schweiz ins Zentrum zu stellen?
Nun, Arendts Doktorvater lebte in Basel; der Philosoph Karl Jaspers war wohl ihr engster Freund, wann immer sie konnte, besuchte sie ihn. Weniger bekannt ist, was sie mit Zürich und dem Tessin verbindet, aber das kann man in meinem Roman miterleben. Da ist sie 68, Witwe, hat einen ersten Herzinfarkt hinter sich, schätzt die Ruhe und blickt auf ein unerhört reiches inneres und äusseres Leben zurück.
Die Schweiz ist nicht der einzige Schauplatz Ihres Romans. New York, Wiesbaden, Jerusalem, Chicago, Köln … war die Arendt immer auf Achse?
Sehr oft, ja! Der zweite Erzählstrang meiner grossen Lebensreise spannt sich tatsächlich über die halbe Welt und beginnt 1941 in New York, wo sie als Flüchtling landet.
In den USA haben Sie selber gelebt und gearbeitet.
Ja, zehn Jahre in Bloomington. Das amerikanische Universitätsleben und die deutschsprachige Community, zu der ich als Professorin für Germanic Studies selbst gehörte, frischte meine Beziehung zu Arendt auf. Als mir dann ein Freund erzählte, wie er Hannah Arendt 1975 im Tessin verpasst hatte, war ich schon auf dem Sprung in die Schweiz zurück.
Wie würden Sie Ihre Hauptfigur mit wenigen Strichen skizzieren?
Ein Mensch, der andere dazu ermutigt, ihr Leben als ihr eigenes zu begreifen statt abzuwarten, bis jemand anderes es für sie lebt – kein Führer oder Arbeitgeber, keine Institution oder Gottheit. Nur ein Individuum kann die Freundschaft mit sich selbst und der Welt pflegen.
Können Sie das konkretisieren?
Hannah Arendt war von einer Lebendigkeit und Zugänglichkeit, wie man es im berühmten Fernsehinterview von 1964 mit Günter Gaus höchstens erahnen kann. Im Roman zeigt sie ihre Lust am Selber-Denken mit Jung und Alt …
… sogar mit ihrer Zufallsbekanntschaft Ingeborg Bachmann. Was verbindet die beiden grossen Nachkriegsautorinnen in Ihrem Roman?
Ihr kritischer Blick auf das Nachkriegs-Europa, ihre Ablehnung von Täter-Opfer-Schemata, ihr Talent, künstlerisch auf die Welt zu reagieren.
Der Romantitel bezieht sich auf ein Gedicht von Arendt. In diesem schreibt sie: «Was wir tun und meinen / niemand stoss sich dran.» Trotzdem ist sie immer wieder angeeckt. Suchte sie Streit?
Ich würde es anders sagen: Sie ging ihren Weg, mutig und konfliktbereit, insbesondere in ihrer Berichterstattung über den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann 1961, aber den blinden Hass, der ihr danach entgegenschlug, hat sie bestimmt nicht gesucht. Davon war sie wohl auch überrascht.
Aber das war doch ein Jahrhundertprozess, die ganze Welt blickte nach Jerusalem, und sie sorgte mit ihrer Formel von der «Banalität des Bösen» für so viel Empörung.
Ja und nein. Sie sagte über Adolf Eichmann Dinge, die vor ihr schon andere Journalisten geschrieben hatten, ohne dass ihnen jemand ein Härchen gekrümmt hätte.
Die heftige Kritik kam von jüdischer Seite – weil Arendt selbst deutsche Jüdin war?
Klar spielte das mit. Da kommen wir zu einem Kernthema in meinem Roman: Freiheit, Unabhängigkeit und welchen Preis ein Mensch dafür zahlt, wenn er sich ohne Rücksicht auf die Erwartungshaltungen anderer frei äussern will. Die heftigsten Reaktionen auf ihr Buch gehörten zur institutionell organisierten Kampagne, «Propagandagewäsch», wie sie sagte.
Sie legen die Argumente, die man gegen ihre Sichtweise vorbringen könnte, Arendts Mann Heinrich Blücher in den Mund – dann ist aber Feuer im Dach!
Natürlich, was denn sonst, wenn eine so auf ihre Freiheit pocht? Blücher glaubt zu wissen, dass von einer deutschen Jüdin eine andere Haltung erwartet wird, wenn sie über die NS-Zeit und ihre Akteure schreibt. Sie hört sich an, was er vorbringt, schreibt ihr Buch dann aber doch so, wie sie es für richtig hält. Den Hass bekommen aber beide ab.
«Wahrheit, die nicht beglaubigt wird, löst sich in Meinung auf», sagt Arendt einmal in Ihrem Buch, «Fakten haben kurze Beine». Ein ungemein aktueller Gedanke in Zeiten von Fake News.
Ja, in dem Kapitel liest sie Leserbriefe aus Amerika. Sie betreffen die politische Entwicklung in den USA nach Präsident Richard Nixon. Dass man die Darstellung von Wirklichkeit an Zielgruppen ausrichtet, indem man ein «Image» herstellt und damit die Realität versteckt. Aber im Grunde vertraute sie darauf, dass «alles zurückkommt».
Eine naive Zuversicht?
Wer weiss, ob Hannah Arendt heute fände, die Beine der Lügen seien länger geworden, wo sich jedermann einen eigenen Sender bauen und die Welt mit seinen «Images» beschallen kann.
Sie präsentieren nun Ihre Sicht auf Hannah Arendt. Wie viel Wahrheitsgehalt liegt im Roman?
Nun, ich recherchierte viel, aber es ist ein Roman – ohne Freiheit hätte ich der Fährte zur ganzen Arendt, die ich im Sinn hatte, nie folgen können.
Sie bewegen sich gerne auf dem Grat zwischen Fakten und Fiktion. Was ist der Reiz?
Der frische Blick! Seien wir ehrlich, Hannah Arendt ist eine bekannte Unbekannte, auch wenn täglich ein Fitzelchen zitiert wird. Es ist überdies eine alte Praxis. Schriftsteller siedeln ihre Werke in bekannten Szenarien an und erfinden Welten mit dem, was sie und andere erlebt haben.
Zum Beispiel?
Leo Tolstois «Krieg und Frieden» greift bekanntlich den napoleonischen Russlandfeldzug auf, Daniel Kehlmann, zuletzt in «Tyll», wählt historische Bezugsräume mit ihrem Personal. Reine Fiktion ist eine bewundernswerte Sache, wenn es sie denn gibt.
Hatten Sie zu wenig Mut für reine Fiktion, zu wenig Musse für Non-Fiction?
Ich finde es viel spannender, in einer bekannten Landschaft neue Wege zu gehen. Die künstlerische Freiheit regt die Fantasie an. Aber wenn Sie andeuten wollen, dass man die Recherchen, die in dem Roman stecken, nicht mehr spürt, nehme ich das als Lob.
«Ich finde es zwischen den Stühlen richtig», sagt Hannah Arendt in Ihrem Buch. Ist das auch Ihr Ort?
Definitiv. Da bin ich, und da werde ich bleiben, als Autorin, Literaturwissenschaftlerin, Storytelling-Coach, Professorin, Filmemacherin, Kritikerin. Heute ist mir wohler damit als auch schon.
Sie beschäftigen sich immer wieder mit starken, realen Frauenfiguren – neben Lydia Welti-Escher (1858–1891) zuletzt auch mit der schweizerisch-argentinischen Dichterin Alfonsina Storni (1892–1938). Ist das Programm?
Ich würde es freundlicher sagen, es ist Leidenschaft für schöpferische Frauen, die einseitig wahrgenommen werden oder im Halbdunkel stehen. Ich arbeite gern für sie, schliesslich haben sie uns ihr Werk hinterlassen. Sie wollen einen Sitz im Leben, keinen Klappstuhl, keinen Thronsessel, nicht am Katzentisch, sondern am Tisch von uns allen. Nach Hildegard von Bingen, Alfonsina Storni, Etty Hillesum, Rosa Luxemburg kommt nun Hannah Arendt des Weges.
Hildegard Elisabeth Keller kommt 1960 in St. Gallen zur Welt. Schon während ihres Studiums der Germanistik, Romanistik (Spanisch) und Soziologie beginnt sie zu schreiben – Bücher, Hörspiele, Filmdrehbücher und Theaterstücke, in denen sie vielfach Frauen ins Zentrum rückt. Von 2009 bis 2019 ist sie Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt (A) und von 2012 bis 2019 Kritikerin im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Keller lehrt heute als Germanistikprofessorin an der Universität Zürich Multimedia-Storytelling (zurichstories.org). «Was wir scheinen» ist ihr erster Roman.
Hildegard Elisabeth Keller kommt 1960 in St. Gallen zur Welt. Schon während ihres Studiums der Germanistik, Romanistik (Spanisch) und Soziologie beginnt sie zu schreiben – Bücher, Hörspiele, Filmdrehbücher und Theaterstücke, in denen sie vielfach Frauen ins Zentrum rückt. Von 2009 bis 2019 ist sie Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt (A) und von 2012 bis 2019 Kritikerin im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Keller lehrt heute als Germanistikprofessorin an der Universität Zürich Multimedia-Storytelling (zurichstories.org). «Was wir scheinen» ist ihr erster Roman.
Hildegard E. Keller, «Was wir scheinen», Eichborn