Herr Stamm, wer waren Sie vor 16 Jahren?
Peter Stamm: Ich war damals schon Schriftsteller wie heute und hatte eben meinen Roman «Ungefähre Landschaft» veröffentlicht.
Ich habe recherchiert, was 2002 sonst noch in Ihrem Leben passiert ist: Sie wohnten damals in Zürich, bekamen zwei Literaturpreise …
… und einen Sohn.
Genau, Sie wurden zum ersten Mal Vater. Und im Casinotheater Winterthur gab es eine szenische Lesung Ihrer Groschenroman-Parodien «Schwester Erna» und «Herbert».
Ah ja, genau.
Möchten Sie heute Ihrem Ich von 2002 begegnen?
Ich weiss nicht. Ich wäre vermutlich erstaunt, wie anders ich damals war. Man meint ja stets, sich ähnlicher zu sein, als man effektiv ist – seit dem zwölften Lebensjahr ist man gefühlt immer der Gleiche.
Welche Veränderungen würden Ihnen auffallen?
Ich bin heute bestimmt ruhiger und selbstsicherer.
In Ihrem neuen Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» begegnet die männliche Hauptfigur Christoph ihrem 16 Jahre jüngeren Ich. Wie sind Sie auf diese Doppelgänger-Idee gekommen?
Ausgangspunkt war die Lektüre eines Buchs von Uwe Timm. Dort meinte ich, eine Stelle gelesen zu haben, von der sich später herausstellte, dass es sie gar nicht gab.
Das klingt gespenstisch.
Ja, wie ein Doppelgänger, den man zu sehen meint.
Heute bekommt das Doppelgängermotiv durchaus reale Züge – kürzlich haben chinesische Forscher Affen geklont.
Das ist definitiv beängstigend – dadurch verliert ein Leben seine Einzigartigkeit.
Das Doppelgängermotiv ist ein literarisches Mittel der Romantik. Sind Sie im Innersten ein Romantiker?
Ja, vielleicht. In meinen Büchern tauchen immer wieder Motive dieser Literaturepoche auf, etwa in der Erzählung «Deep Furrows» aus dem Band «In fremden Gärten» oder im Wandermotiv meines letzten Romans «Weit über das Land». Ich verehre Autoren dieser Zeit, vor allem die Lyriker: Neulich habe ich mit jemandem gestritten, wer der bessere Dichter sei, Joseph von Eichendorff oder Rainer Maria Rilke.
Für Sie ist es der Romantiker Eichendorff.
Absolut.
«Alles ist mir wie ein Traum», steht in Eichendorffs Gedicht «Erinnerung». Die Erinnerung spielt auch in Ihrem Roman eine zentrale Rolle, denn Christoph erinnert sich beim Anblick des Doppelgängers an sein früheres Ich.
Auf diese Idee kam ich, weil ich in letzter Zeit ständig mit meinem 20-jährigen Debütroman konfrontiert war: «Agnes» ist in den deutschen Gymnasien Baden-Württembergs rund sechs Jahre lang Pflichtlektüre gewesen. Ich war dort häufig in den Schulen unterwegs, und die Jugendlichen fragten mich immer wieder, ob ich den Stoff nicht wieder aufgreifen wolle.
Und eine Fortsetzung schreiben wie bei Kinofilmen?
Genau, und das wollte ich auf keinen Fall machen. Aber mir kam dann die Idee einer Art Begegnung mit der Vergangenheit, ohne dabei das Mittel der Zeitreise bemühen zu müssen.
Erinnern Sie sich gerne an frühere Zeiten zurück?
Ja. Vor allem Kindheit und Jugend sind sehr entscheidend. Wenn ich mich aber an die letzten paar Jahre erinnere, dann waren die weniger einschneidend – sie sind nicht so emotional besetzt wie der erste Schultag, die erste Liebe.
«Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können», sagte einst der deutsche Romantiker Jean Paul.
Schön gesagt, denn sie ist das Fundament des Lebens. Ohne Erinnerung und Erfahrung würden wir uns auf einem wackligen Boden bewegen: Was wir heute machen, hat viel mit der Prägung durch unsere Erziehung im Kindesalter zu tun und unserer Erinnerung daran. In Deutschland haben mich die Schüler oft gefragt, ob meine Eltern nie etwas dagegen hatten, dass ich Schriftsteller wurde. Da merkte ich: Genau, die sagten nie, mache doch einmal etwas Richtiges. Ein Grundvertrauen, zu tun, was man will – das gibt einem Sicherheit.
Christoph aus Ihrem Roman scheint sich in seiner Erinnerung allerdings zu täuschen: Er sieht sich in der Vergangenheit als erfolgreicher Schriftsteller, diese Illusion zerstört ihm der Doppelgänger – Erinnerungen sind also sehr fragil.
Ja, Erinnerungen können zerbrechen, sobald man über sie spricht.
Aber Erinnerungen zu teilen, ist doch ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens.
Dabei entsteht allerdings eine Diskrepanz. Krass ist es, wenn man jemanden trifft, den man schon sehr lange nicht mehr gesehen hat: Kürzlich traf ich Freunde aus meiner Zeit in Paris, als ich 20 war. Und da gibt es einen grossen Unterschied im Erinnern. Normalerweise verändert man die Erinnerungen gemeinsam. Klassisch sind die Familiengeschichten, die man sich immer wieder erzählt – das ist ein Abgleichen und allmähliches Abschleifen.
Gibt es ein richtiges Erinnern?
Nein, neuste Forschungen zeigen, wie sich Erinnerungen verändern.
Wie kann man sie am besten schützen?
Das muss man gar nicht, es ist schon gut, wenn sie sich abwandeln. Es geht ja dabei nicht um Faktentreue. Das sieht man, wenn man Fotos anschaut – die sind genau, aber meist anders als die Erinnerungen.
Max Frisch weigerte sich deshalb in seinen jungen Jahren zu fotografieren. Er umschrieb Fotos in seinem Essay «Knipsen oder sehen?» schnöde als Erinnerungskrücken.
Ich weigerte mich auch lange, zu fotografieren. Bei gewissen Anlässen wollte ich nicht, dass man Bilder macht: Es passiert jetzt, die Anwesenden erleben es, die anderen halt nicht. Aber heute finde ich es toll, wenn Kindheitsfotos auftauchen – ich bin da ein bisschen ambivalent.
Im digitalen Zeitalter wird nun alles fotografisch dokumentiert.
Doch obwohl die Leute alles durchfotografieren, schauen sie die Bilder kaum mehr an. Das ist auch eine Möglichkeit, damit umzugehen.
Nutzen Sie Instagram?
Nein, ich bin beruflich auf Facebook. Manchmal poste ich dort ein paar Fotos.
«Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» erinnert vom Titel her stark an Milan Kunderas Bestselleroman «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins». Ein Zufall?
Das ist uns bei der Produktion des Buchs auch aufgefallen, aber der Satz stammt aus «Der Fremde» von Albert Camus – ein Buch, das für mich sehr wichtig ist. Der Satz beschreibt den Moment, wo der Romanheld im Gefängnis kurz überlegt, ob er ein Gnadengesuch stellen soll und dann doch sein Todesurteil akzeptiert: «La tendre indifférence du monde», heisst der Satz im Original.
Akzeptanz drückt sich auch im Motto von Samuel Beckett aus, das Sie Ihrem Roman vorangestellt haben: «Wir lagen regungslos. Aber unter uns bewegte sich alles und bewegte uns, sanft, auf und nieder und von einer Seite zur anderen.» Sind wir nur passive Marionetten?
Das ist aus Becketts Stück «Das letzte Band». Da hört sich Krapp das Tonband an, das er während einer mittlerweile verflossenen Beziehung besprochen hat. Er bereut, dass er damals nicht die richtigen Entscheidungen getroffen hat.
«Was wäre, wenn ich damals …?» Stellen Sie sich zuweilen diese Frage?
Ich sehe das pragmatisch und denke mir jeweils: Das war nötig. Alles, was war, wird Teil vom eigenen Leben. Fehler, die man im Leben macht, integriert man, und sie haben eine Wirkung, die nicht negativ sein muss. Man wächst an den Fehlern, die man begeht – eigentlich viel mehr als am Erfolg. Meine Ausbildung war sehr kurvenreich, aber ohne das prägende Jahr Paris, während dem ich als Buchhalter gearbeitet habe, wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.
Ist es am besten, wenn man jede Entscheidung im Leben als die richtige akzeptiert?
Es hilft, weil es eh passiert ist. In einer meiner Erzählungen sagt einmal eine Frau: «Glück ist das zu wollen, was man kriegt.» Eine grausame Aussage, aber falsch ist sie nicht.
Das klingt sehr schicksalsergeben.
Ich finde Schicksal kein gutes Wort, aber eigentlich glaube ich schon daran. Aber nicht im Sinn einer Macht, die uns lenkt und die mit uns etwas vorhat.
Wer lenkt uns, wenn nicht eine höhere Macht?
Jede Entscheidung findet in einer Welt statt, und die ist nicht immer auf unserer Seite. Alle Menschen haben ihre Ziele. Damit die übereinstimmen, braucht es viel. Wenn man in eine Frau verliebt ist, die aber nicht in einen, dann kann man sich sogar auf den Kopf stellen.
Inwiefern können wir unser Leben selber bestimmen?
Wir können – mit allen Einschränkungen durch genetische Voraussetzungen oder durch die Geografie. Innerhalb der Bandbreite, die man hat, kann man sein Leben schon bestimmen.
Was schränkt diese Selbstbestimmung ein?
Die Angst.
Müsste man mutiger sein?
Ja, und selbstbewusst mehr Energie aufbringen. Beim Schreiben habe ich sehr lange durchgehalten. Ich hätte viel früher aufgeben können – ich habe sehr lange ohne Erfolg geschrieben. 90 Prozent hätten aufgegeben. Und man muss Freude an dem haben, was man macht. Wenn ein Buch weniger gute Kritiken erhält, sage ich nie: Jetzt höre ich auf.
Sind Sie nervös vor der Publikation des neuen Buchs?
Nein, nicht besonders.
Hat sich das mit der Zeit gelegt? Das ist ja mittlerweile Ihr siebter Roman.
Nein, da war ich komischerweise von Beginn weg locker. Als ich 1999 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb die Erzählung «Passion» aus dem späteren Erzählband «Blitzeis» vorlas, wurde ich von der Jury in den Boden gestampft. Am Schlussessen nahm ich dennoch teil – als einziger Autor ohne Preis. Ich wollte mich nicht kleinmachen, nur weil meine Geschichte nicht ankam.
Selbstbewusst!
Ja, aber nicht im Sinn von Überheblichkeit. Ich war einfach davon überzeugt, dass ich meine Bücher so schreiben will. Ich kann mich nicht an die Erwartungen anderer Menschen anpassen. In meiner Erzählung «In die Felder muss man gehen» lege ich dem Landschaftsmaler Jean-Baptiste Camille Corot die Worte in den Mund: «Lieber machst du es auf deine Art falsch als richtig nach der Art von zwanzig Leuten.»
Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Es gibt einen Nationalrat, der benannte seine Tochter gleich wie seine Parteikollegin Magdalena. Eine solche Verehrung dürfte bei der Namensgebung Ihrer weiblichen Hauptfigur nicht der Grund gewesen sein, oder?
Sie meinen Magdalena Blocher? Nein, das war bestimmt nicht der Grund.
Zufall auch, dass die männliche Hauptfigur gleichzeitig Christoph heisst?
Okay, ich gebe es zu: Der Roman ist eine Hommage an die Familie Blocher. Nein, Spass beiseite: Mir ging es darum, Namen zu finden, bei denen die Kurzformen funktionieren – Lena zu Magdalena und Chris zu Christoph. Und so selten sind diese Namen nun auch wieder nicht.
Peter Stamm: «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», S.-Fischer-Verlag, ab 22. Februar im Handel.
«Reizvoll», titelt «Der Bund», und die NZZ schreibt von einem «beeindruckenden Erzähldebüt»: 1998 startet Peter Stamm mit dem Roman «Agnes» seine Schriftstellerkarriere – 2016 kommt die erfolgreiche Verfilmung mit Odine Johne in der Titelrolle in die Kinos.
Doch bereits ein Jahr nach seinem Auftritt auf dem literarischen Parkett rutscht Stamm aus: Mit einer Erzählung aus dem Buch «Blitzeis» nimmt er 1999 am Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt (A) teil – und fällt durch. Ironie des Schicksals: Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki bezeichnet «Blitzeis» später als eines der «ganz schönen und wichtigen Bücher».
Peter Stamm ist fortan eine prägende Figur der Schweizer Literaturszene und trifft etwa an der Frankfurter Buchmesse 1999 den Doyen Hugo Loetscher.
Nächste Woche erscheint der siebte Roman von Peter Stamm: In «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» geht es um den Schriftsteller Christoph, der in der jungen Lena seine Ex-Geliebte Magdalena in dem Alter wiederzuerkennen meint, in dem sie noch ein Paar waren. Zudem hat Lena einen Freund, der Schriftsteller werden will. Ein Wiedergänger von Christoph? Ein vertracktes Spiel von Erinnerung und Existenz – traumhaft!
«Reizvoll», titelt «Der Bund», und die NZZ schreibt von einem «beeindruckenden Erzähldebüt»: 1998 startet Peter Stamm mit dem Roman «Agnes» seine Schriftstellerkarriere – 2016 kommt die erfolgreiche Verfilmung mit Odine Johne in der Titelrolle in die Kinos.
Doch bereits ein Jahr nach seinem Auftritt auf dem literarischen Parkett rutscht Stamm aus: Mit einer Erzählung aus dem Buch «Blitzeis» nimmt er 1999 am Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt (A) teil – und fällt durch. Ironie des Schicksals: Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki bezeichnet «Blitzeis» später als eines der «ganz schönen und wichtigen Bücher».
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