Trivialliteratur mit eigenem «Kabinett»
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Verpöhnt aber erfolgreich:Trivialliteratur mit eigenem «Kabinett»

Hier gibts nur Bücher mit Happy End
«Jede Frau sucht ihren Prinzen»

Die Solothurner Literaturtage gingen gestern zu 
Ende. Aber keine Sorge – die Ambassadorenstadt hat ein Kleinod, das sich das ganze Jahr dem 
Buch widmet: das Kabinett für sentimentale Trivialliteratur.
Publiziert: 03.06.2019 um 15:04 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2019 um 14:05 Uhr
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Lotte Ravicini-Tschumi (88) gründete 1996 das Kabinett für sentimentale Trivialliteratur in Solothurn.
Daniel Arnet

Das schmale Haus am Klosterplatz 7 in der Solothurner Altstadt scheint sich zu ducken – gegenüber den Nachbargebäuden liegt der Dachgiebel rund einen Meter tiefer. 
Fast so, als mache es sich verschämt klein, schliesslich beherbergt es bloss Trivialliteratur.

Bloss Trivialliteratur? Das Kabinett für sentimentale Trivialliteratur, das dort seit 2002 seinen Sitz hat, ist schweizweit, ja im ganzen deutschsprachigen Raum eine ­einzigartige Institution, die sich stolz präsentieren darf.

Auf vier Stockwerken bietet die ­Mischung aus Bibliothek und ­Museum Vitrinen mit Autoren-Handschriften (Parterre), eine Sammlung von über 3500 Büchern, ein Biedermeier-Stübchen (erste Etage), ein Mode- und Kostümzimmer (zweite Etage) und einen Raum mit Podium für ­Lesungen (Estrich).

Ins Leben rief dieses Kabinett 
die Solothurnerin Lotte Ravicini-Tschumi (88): Schon als Elfjährige will sie Journalistin werden, tritt nach der Matur 1953 ihre «Traumstelle» in der damaligen Mode­zentrale des Ringier-Verlags in ­Zofingen AG an und wechselt in den 60er-Jahren zum «Emmentaler Blatt» ins Ressort «Für die Frau». Später schreibt sie für die «Berner Zeitung» über Modethemen.

«Trivialliteratur gibt es nur in der deutschen Sprache»

1995 sitzt Lotte Ravicini in e­inem Seminar des St. Galler Germanistik-Professors Mario Andreotti (71), der kein elitäres Literaturverständnis hat. Ravicini hält dort einen ­Vortrag über den Spannungsbogen der Trivialliteratur. Titel: «Träume, Tränen, Trost.» Im Anschluss bittet sie die Zuhörerschaft, ihr solche «leichten» Bücher aus dem 19. Jahrhundert, die irgendwo in einem Estrich schlummern, zu schicken. Aus der Schreiberin wird eine Sammlerin.

Ein bunter Strauss an deutschsprachigen Mädchenbüchern, sentimentalen Frauenromanen und ­illustrierten Zeitschriften kommt zusammen: vom Schweizer Almanach «Alpenrose» über «Die Perlenschnur» von Hedwig Courths-­Mahler (1867–1950) bis zum 
«Zwischenfall in Lohwinckel» von Vicki Baum (1888–1960) – häufig Bücher von Frauen für Frauen, meist als Trivialliteratur abgestempelt, immer mit einem Happy End.

«Ist ‹Sense and Sensibility› von der englischen Autorin Jane Austen auch Trivialliteratur?», fragt Peter Probst (68), Präsident der Stiftung des Kabinetts für sentimentale Trivialliteratur, und gibt gleich selber die Antwort: «Den abwertenden Begriff Trivialliteratur gibt es nur in der deutschen Sprache.»

Tatsächlich heisst es im Eng­lischen wertneutral «formula ­fiction», auf Französisch «paralitté­rature» und auf Italienisch zweckbeschreibend «letteratura di con­sumo» – leicht konsumierbare ­Literatur, einfach geschrieben, ­einfach zu lesen. «Selbst Schiller und Goethe haben solche trivialen Elemente», sagt Probst. Aber der Begriff ist erst nach ihrer Zeit in ­abwertendem Gebrauch.

Trivial kommt ursprünglich 
vom Lateinischen «trivialis» und gründet auf dem Wort «trivium», was einen Ort meint, an dem drei Wege («tri» und «via») zusammenkommen – ein Gemeinplatz also, der jedermann zugänglich und ­deswegen ein gewöhnlicher Ort ist. Das verbindet ihn mit dem Boulevard.

Boulevardmedien und Trivialliteratur ­haben denn auch einiges gemeinsam: Massen greifen nach ihnen, doch niemand steht zu ihnen. Sie werden gut gelesen, haben aber ­einen schlechten Ruf. Das zeigt sich bis heute: Das Angebot, 
den Lesesaal im Dachstock des ­Kabinetts für Veranstaltungen der Solothurner Literaturtage nutzen zu dürfen, schlug man seitens Literaturtage schnöde aus.

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«Trivialromane sind Märchen für Erwachsene»

So versucht man mit eigenen Veranstaltungen Publikum ins ­Kabinett zu locken – bis anhin mit dem «Salon am Sonntag», neuerdings mit der Vorlesungsreihe 
«Literatur am Klosterplatz 7», die ein paar Mal im Jahr jeweils an ­einem Donnerstag einem Solothurner Schriftsteller ein Podium ­bietet. Wer einfach mal einen Einblick ins Kabinett haben will, der kann jeweils am 7. im Monat abends um sieben Uhr an einer ­öffentlichen Führung teilnehmen. Ein paar Hundert Personen folgen jährlich diesen Angeboten.

Mediale Aufmerksamkeit und höhere Weihen erhält das Kabinett durch den mit 5000 Franken ­dotierten und 2012 erstmals ver­liehenen Ravicini-Preis, mit dem die Stifter wissenschaftliche Arbeiten zur Trivialliteratur auszeichnen. Bisher überzeugten die Jury 
drei Dissertationen – 2015 die ­Doktorarbeit des Berliner Germanisten Daniele Vecchiato (35), 
in der er nachweist, dass Friedrich Schiller im Drama «Wallenstein» (1799) auf die Trivialliteratur seiner Zeit zurückgriff.

«In der Fachwelt führte das ­Kabinett für sentimentale Trivialliteratur zu einem Umdenken», sagt der Stiftungsratspräsident ­Peter Probst. «Man ist nicht mehr so hart im Urteil.» In Zusammen­arbeit 
mit der Universität Bern zeigt das Kabinett 2011 die Ausstellung 
«Erfolgsmodell Aschenbrödel. Literarische Darstellungen 
des Aschenputtels seit dem 19. Jahrhundert».

«Das Aschenbrödelmotiv ist unsterblich», sagte Lotte Ravicini einmal in einem ­Interview. «Jede Frau sucht den Prinzen. Wir sind ja alle mit ­Märchen gross geworden. Und ­Trivialromane sind Märchen für Erwachsene .» Umso wichtiger 
war es ihr, die Erstausgabe von «Aschenbrödel und Dollarprinz» von Courths-Mahler aus dem Jahr 
1930 für die Sammlung zu be­schaffen – eine Preziose, die das ­Kabinett für sentimentale Trivialliteratur als einzige Bibliothek besitzt.

«Aschenbrödel und Dollarprinz» ist eines der aktuellsten Bücher des Kabinetts, denn Trivialliteratur nach 1930 sucht man hier vergebens. Auch «Die Gartenlaube», das erste deutschsprachige Massenblatt, in dem neben Courths-­Mahler Alfred Brehm (1829–1884, «Brehms Tierleben») und Theodor Fontane (1819–1898) publizierten, umfasst «bloss» Jahrgänge von 1850 bis 1930.

Was ist mit der späteren Trivial­literatur? Was ist mit Romanen von Heinz G. Konsalik (1921–1999)? Was mit Büchern von Hera Lind (61)? «Für mehr fehlt uns die ­Kapazität», sagt Peter Probst, Stiftungsratspräsident des Kabinetts. 
Wer weiss, vielleicht kümmert man sich später darum. Der Stoff, aus dem Happy Ends gestrickt sind, geht jedenfalls nicht aus.

Katalog und Öffnungszeiten des Kabinetts für sentimentale Trivialliteratur unter www.trivialliteratur.ch

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